Dimmel/SchmidSelbstverwaltung – Die demokratische Organisation der sozialen Daseinsvorsorge

Verlag des ÖGB, Wien 2019, 240 Seiten, broschiert, € 29,90

THOMASMÜLLER (INNSBRUCK)

Nikolaus Dimmel und Tom Schmid widmen sich in dem vorliegenden Buch einem politisch und verfassungsrechtlich brisanten Thema, nämlich der Neuorganisation der SV in Österreich durch die sogenannte „Krankenkassenreform“ (Sozialversicherungs-Organisationsgesetz [SV-OG]). Diese Diskussion um die Reform ist nicht nur wegen der aktuellen COVID-19-Krise, sondern vor allem deswegen erlahmt, weil der VfGH dem SV-OG mit einigen wenigen Einschränkungen die Verfassungskonformität attestiert hat (VfGH 13.12.2019, G 67/2019 ua): Weder hat er nämlich die Fusion der Gebietskrankenkassen zur Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK) noch die heftig umstrittene paritätische Zusammensetzung der Organe der sozialen Selbstverwaltung aus DN und DG beanstandet. Immerhin hat er aber Teile der verschärften ministeriellen Aufsicht beseitigt (zB Weisungsrechte im Zusammenhang mit dem Zielsteuerungssystem oder die Bindung an ministerielle Mustergeschäftsordnungen). Freilich hat das vorliegende Werk, das im Wesentlichen eine Momentaufnahme vom Frühjahr 2019 darstellt, diese Entwicklungen nicht einbeziehen können. Es beschäftigt sich aber mit gerade jenen Machtverschiebungen, die mit der genannten Reform bewirkt werden.

Das Buch ist zudem kein rein juristisches, es vereint vielmehr rechts-, wirtschafts- und politikwissenschaftliche Perspektiven und ist dabei darauf ausgerichtet, die Kritik am Rückbau der demokratisch organisierten „sozialen Daseinsvorsorge“ auf den Punkt zu bringen. So nimmt auch das Kapitel „Selbstverwaltung im Überblick“ nicht nur die verfassungsrechtlichen und einfachgesetzlichen Grundlagen der Selbstverwaltung, sondern auch die ideologischen und ideengeschichtlichen Aspekte dieser Organisationsform in den Blick (siehe auch das Kapitel über die „Institutionengeschichte der Selbstverwaltung sozialer Sicherheit“). Der Abschnitt ist etwas zu lang geraten, weil er auch Kammern, Universitäten und Gemeinden abhandelt, er überzeugt aber als lesenswerte Einführung in die hochkomplexe Materie, die letztlich um zwei Grundgedanken kreist: Öffentliche Aufgaben, wie jene der sozialen Sicherung, werden von den unmittelbar betroffenen Menschen selbständig und eigenverantwortlich besorgt. Als Ausgleich für die damit verbundene Einschränkung der Staatsaufsicht beruht die Selbstverwaltung auf einer Kontrolle „von unten“ oder maW: Ein Wesenskern der Selbstverwaltung ist die demokratische Legitimation der leitenden Organe. Wer nun – wie der Gesetzgeber mit dem SV-OG – an diesem Konzept rüttelt, erschüttert nicht nur ein politisches Konzept, er gerät auch mit dem Verfassungsrecht in Konflikt, das eben diese Grundsätze seit 2008 ausdrücklich verankert (Art 120a ff B-VG).

Auf wenigen Seiten wird sodann die „Strukturreform 2018“, aus der schließlich das SV-OG hervorgehen sollte, beschrieben und einer knappen Kritik unterzogen. Aus juristischer Sicht hat diese Kritik (siehe dazu detailliert die einzelnen Beiträge in Berka/Müller/Schörghofer [Hrsg], Die Neuorganisation der Sozialversicherung in Österreich [2019]) vor dem VfGH im Großen und Ganzen kaum verfangen. Sie zeigt aber auf, wie weit das SV-OG in die demokratischen Strukturen und die Autonomie der Selbstverwaltung eingegriffen hat. Dies macht auch das nachfolgende Kapitel „Zur Politik der Sozialversicherungsreform“ eindrücklich deutlich: Sei es die „Verschlankung“ des Hauptverbandes (nunmehr Dachverband), die sich im Ergebnis als Aushöhlung darstellt, sei es die massive Ausweitung ministerieller Kontrolle (die im Übrigen durch den VfGH eingehegt wurde) oder sei es der unter dem irreführenden Begriff der „partizipativen Selbstverwaltung“ geführte (und letztlich vom VfGH akzeptierte) Ausbau 164 der AG-Interessen in den Entscheidungsgremien der sozialen Selbstverwaltung: Das vorliegende Buch deckt diese Effekte und politischen Hintergründe mit klarer und verständlicher Sprache auf.

Es steht aber auch nicht an, klare Bewertungen zu treffen und erweist sich somit nicht nur als Bestandserhebung, sondern als Streitschrift: So fordert das abschließende Kapitel „Zurück zu den Wurzeln“ etwa dazu auf, die in der „Kassenreform“ deutlich werdende „Kündigung des Klassenkompromisses“ nicht nur zur Kenntnis zu nehmen, sondern auch das Heft des Handelns in die Hand zu nehmen. Dies erfolgt aber fairerweise unter Verweis auf die Probleme und Versäumnisse der sozialen Selbstverwaltung in der Vergangenheit, die für die aktuelle Reform zumindest mitauslösend waren (zB mangelhafte Qualifikation der VersichertenvertreterInnen, Intransparenz bei der Nominierung/ Entsendung oder „Trägeregoismen“). Diskutiert werden sodann Alternativen zur Selbstverwaltung und deren Defizite (zB Modell der direkten Bundesverwaltung oder „marktliche Lösungen“, die selbstverständlich vehement abgelehnt werden), vor allem aber werden gleichwohl im Allgemeinen bleibende „echte“ Reformperspektiven eröffnet (Beteiligung als Prinzip und Instrument; Wiedererrichtung der „Brücke“ zwischen VertreterInnen und Versicherten).

Das vorliegende Buch ist politisch klar punziert und von dem begrüßenswerten Bestreben gekennzeichnet, einer „post-sozialstaatlichen Regulierung“ entgegenzutreten. Es ist im Ergebnis eine politische Streitschrift, die von der „demokratisch legitimierten, selbstverwalteten, nicht bürokratisch gesteuerten Sozialversicherung“ überzeugt ist, die aber auch nicht auf empirische und verfassungsrechtliche Fundierung vergisst. Gerade weil die Diskussion über die letzte und künftige „Kassenreformen“ mittlerweile erlahmt ist, handelt es sich um ein lesenswertes Buch.