Noll/Öllerer (Hrsg)Hegemonie und Recht – Festgabe für Nikolaus Dimmel

Czernin Verlag, Wien 2020, 240 Seiten, Halbleinen, € 25,–

FLORIAN J.BURGER (WIEN)

Wenn einer der Großen der Rechtssoziologie, Nikolaus Dimmel, ein Jubiläum feiert, ist auch die Festgabe mit dem Titel „Hegemonie und Recht“, herausgegeben von Dominik Öllerer und Alfred J. Noll, angelegt, die zentralen Fragen dieses sozial- und rechtswissenschaftlichen Feldes zu beleuchten.

Nicht weniger als 14 AutorInnen aus den beiden Disziplinen in einer spannenden Mischung aus progressivem Nachwuchs und versierten WissenschaftlerInnen lieferten Beiträge.

Der Autor dieser Buchbesprechung durfte Dimmel als Lehrenden erleben und dessen durchwegs spannenden, weiter über den juristischen Tellerrand hinausblickenden Vorlesungen besuchen. Und genauso spannend ist die vorliegende Festgabe verfasst, die dem tradierten Klischee der langweiligen Rechtswissenschaft genauso vehement entgegentritt, wie Dimmel starke (sozialpolitische) Standpunkte einnimmt.

Und so spannen die AutorInnen der Festgabe auch einen sehr weiten Bogen, der über die institutionellen Trennlinien der Disziplinen hinausgeht. Der Mehrwert davon ist klar: Sie schaffen wechselseitiges Verständnis und generieren eine Vision für das gedeihliche Fortkommen von Menschen in ihrer Umwelt. Exemplarisch wurden infolge der Zeichenbeschränkung drei Beiträge herausgegriffen – lesenwert sind freilich alle 14.

So analysiert die Soziologin Mair die Vererbung von Armut (S 90 ff) und stellt dabei fest, dass „die Bildung – die wiederum in Einkommen übersetzt werden kann – und [...] die tradierten Wertorientierungen innerhalb der Familie“ (S 95) wesentliche Determinanten seien. Damit würden also jene Werte weitergegeben, die sich für die Eltern bewährt hätten und damit auch für die Kinder als brauchbar angesehen würden. Die Autorin schränkt den Gedanken in ihrem Fazit jedoch ein, „... zumal Studien darauf hinweisen, dass Eltern darauf bedacht sind, ihren Kindern ein „besseres Leben“ zu ermöglichen“ (S 100). Insofern seien die mit diesen Werten übernommenen, internalisierten Verhaltensweisen aus Lebenslagen und deren Weitergabe eine der Voraussetzungen für dauerhafte Armut. Der Schluss aus diesen Gedanken sei freilich den LeserInnen selbst überlassen: Ob es nun geboten sein könnte, einen gleichen, vom Einkommen unabhängigen Zugang zu Bildung zu ermöglichen, oder aber den wohl zunehmenden Unterschied zwischen „Arm und Reich“ durch solidarische Abgabenmodelle einzugrenzen, sei dahingestellt. Laut Statistik Austria (Daten zur Armutsgefährdung 2019) haben 2019 rund 13,3 % der Menschen in Österreich unter der Armutsgefährdungsschwelle gelebt, ohne soziale Transferleistungen (inkl Pensionen) wären dies rund 45 % gewesen – damit ist Armutsvermeidung eines der zentralen gesellschaftlichen Themen.

Die damals vor der Entscheidung des VfGH ergangene Analyse des Juristen Pfeils zur Sozialhilfe-Neu ist ein Lehrstück für LegistInnen, was bei vermeintlich einfachen Rahmengesetzen für Faktoren wirken würde und zu berücksichtigen wäre. Pfeil findet klare Worte: „Dieses Grundsatzgesetz erscheint insgesamt wenig geeignet, Armut und Armutsgefährdung zu vermeiden ... seine Ausgestaltung [hat] vielmehr eher Neiddebatten geschürt und die gesellschaftliche Spaltung befördert“ (S 89). Mittlerweile hat der VfGH seine Judikatur zu jenem Gesetz in G 164/2019-25, G 171/2019-24 vom 12.12.2019 verkündet. Im Wesentlichen war die Deckelung der Leistung für Mehrkindfamilien und die geforderten Deutschkenntnisse sowie Datenübermittlungsbestimmungen verfassungswidrig (Tomandl, Der VfGH zum Sozialhilfe-Grundsatzgesetz, ZAS 2020/14, 70 ff). Freilich kann der VfGH de lege lata nicht die schweren gesellschaftspolitischen Fehlgriffe des Gesetzgebers korrigieren. Wo in Österreich bisher breiter gesellschaftlicher Konsens und die Einbindung der Zivilgesellschaft im Vordergrund standen, lassen die letzten Regierungen diesen Baustein des sozialpartnerschaftlichen geprägten Erfolgsmodells vermissen. Insofern bleibt den LeserInnen die Frage nicht erspart, ob aus rechtswissenschaftlicher Sicht (gerade auch nach den Erfahrungen rund um die Corona-Lockdown-Verordnung) weitere Korrektive gegen den unsolidarischen Gesetzgeber erforderlich wären.

Und umso erschreckender liest sich das Bild zur Justiz, dass der deutsche Rechtsphilosoph Rottleuthner165 zeichnet. So sei der Umbau der Höchstgerichtsbarkeit in Ländern wie Ungarn, der Türkei oder auch Polen problematisch. Einfluss könne auf Höchstgerichte durch Flexibilisierung der Anzahl der RichterInnen oder auch Absenkung des Höchstalters genommen werden. Auch überlange Probezeiten für RichterInnen (Japan: zehn Jahre) oder Amtsenthebungen durch das Parlament (Polen) untergrüben die Unabhängigkeit der Justiz. Perfide würden auch Anwesenheitsquoren wirken, die mitunter zur faktischen Blockade vor unliebsamen Entscheidungen führen würden oder gar nicht vorgenommene Kundmachungen von Entscheidungen. Mitunter wurden verfassungswidrige Normen einfach nochmals im Verfassungsrang beschlossen (zB auch in Österreich, Blutabnahme in der StVO, § 99 Abs 1 lit c). Aber auch die Geschäftseinteilung, daher die Entscheidung, welcher Senat (EinzelrichterIn) welche Fälle zugeteilt bekommt, könne ein gutes Einfallstor für Einflüsse sein. Wenn daher wie beim EuGH der/die GerichtspräsidentIn entscheidet (und gegebenenfalls an sich ziehen kann), würden die Parallelen zur Justiz-Organisation der DDR sichtbar. „Rechtsstaatliche Garantien und Begrenzungen des demokratischen Mehrheitsprinzips werden zu Interpretationsfragen erklärt: die Existenz von Grundrechten, die auch Minderheiten schützen; der Individualrechtsschutz durch unabhängige Gerichte.“ (S 187). Und wenn für die LeserInnen zwar der Blick in andere Länder und deren Missstände zunächst eine Reflexion über die Justiz-Organisation im eigenen Land auslöst, bleibt nach der Lektüre des Beitrags die Frage, ob der gesellschaftliche Konsens zur echten Unabhängigkeit der Justiz noch besteht (gilt auch für den VfGH, VwGH und OGH). Wird diese Frage hoffentlich mit Ja beantwortet, bleibt offen, wie die fast in ihrem Wesen natürlich angelegte schleichende Aushöhlung der Unabhängigkeit durch die gegenwärtigen VertreterInnen der Exekutive aufgehalten werden kann.

Und so bleibt zum Abschluss zu sagen, dass das vorliegende Werk „Hegemonie und Recht – Festgabe für Nikolaus Dimmel“, herausgegeben von Noll und Öllerer, zumindest zwei Wissenschaften, die Rechtswissenschaft und die Soziologie, gekonnt verbindet. Dass die Beiträge auch von außerhalb Österreichs stammen, unterstreicht die intellektuelle Tiefe dieses Werks. Mit spitzer Feder und gut verständlich zu Papier gebrachten Gedankengängen erschließen sich den LeserInnen neue Ideen. Man spürt beim Lesen das Feuer und die Leidenschaft, die die AutorInnen in der Sache verbindet. Die Herausgeber haben damit ein ganz besonderes Werk geschaffen. Dass mit solch einem Werk der kritische Diskurs in einer lebendigen Demokratie vorangetrieben wird, versteht sich bei einer Festgabe für Dimmel fast von selbst.