SzekulicsWas blieb von Kremsier?
Jan Sramek Verlag, Wien 2019, XXIV, 196 Seiten, gebunden, € 39,90
SzekulicsWas blieb von Kremsier?
Während diese Zeilen Anfang des Jahres 2021 entstehen, beschäftigt die politische Diskussion ua die Themen „Freitesten“ und „Reintesten“ (vom Corona-Verdacht) und „Impfpflicht“. Es ist erstaunlich, wie sogar basale Grundrechte, wie die Freiheit und die körperliche Integrität, in Debatte stehen. Grundrechte, die durch internationale Normen im Verfassungsrang und durch Verfassungsgesetze heutzutage selbstverständlich geschützt sein sollten, und dennoch droht die Bundesregierung mit massiven Einschränkungen. „Lernen‘S Geschichte“, sagte schon Bruno Kreisky und genau das bietet das vorliegende Werk von Udo Szekulics. Der Autor ist der ehemalige parlamentarische Mitarbeiter des Ex-Abgeordneten Alfred Noll aus der gewesenen Parlamentsfraktion „Jetzt“ (vormals Liste Pilz). Insofern wird das Werk nicht nur aus einer rein rechtswissenschaftlichen, sondern auch rechtspolitischen Perspektive zu bewerten sein.
Es ist schon beachtlich: 1848/49 hat das Abgeordnetenhaus der alten Habsburgermonarchie in der im heutigen Tschechien liegenden Stadt Kromeríž (dt: Kremsier) einen sehr progressiven Verfassungsentwurf vorgelegt, darin enthalten auch wesentliche Grundrechtsgarantien. Dass die diesen Entwurf bearbeitende Kammer des Parlaments durch den Kaiser gewaltsam aufgelöst wurde, ändert nichts an seiner Bedeutung für die Entwicklung der Grundrechte in Österreich. Erst die verlorene Schlacht bei Königsgrätz 1866 zwang den kaiserlichen Absolutismus zu einigen Zugeständnissen im heute noch bekannten Staatsgrundgesetz.
Bereits damals gab es bereits den Gedanken der parlamentarischen Kontrolle der Vollziehung. Im Kremsierer-Entwurf stand „Jedem Mitglied des Reichstages steht das Recht zu, die Minister zu interpelliren (sic)“ (§ 92, S 12). Wenn man bedenkt, dass das parlamentarische Interpellationsrecht von manchen Regierungsmitgliedern auch noch heute eher locker gehandhabt wird, indem Fragen von Abgeordneten nicht oder nur unzureichend beantwortet werden (Folgeanfrage der Folgeanfrage: Blutplasmaspenden von Corona-Genesenen [3730/J], von Abgeordneten Loacker an BM Anschober), zeigt sich die Fortschrittlichkeit des damaligen Entwurfs. Auch die Verfassungsgerichtsbarkeit, damals der Staatsgerichtshof, sah Individualklagen wegen Verletzung „konstitutioneller Rechte“ vor (S 15).
Der Autor weist nach, wo die Parlamentarier (nur Männer) der österreich-ungarischen Monarchie sich Anleihen nahmen. Die französische Erklärung der Menschenrechte, die US-amerikanische Unabhängigkeitserklärung bzw Bill of Rights, oder auch die belgische Verfassung waren Vorbilder (S 25). Interessant, auch in der Republik Österreich gab es immer wieder Versuche, den Grundrechtsgehalt der Verfassung zu modernisieren. Im Jahr 1919 wurde der Unterausschuss des Verfassungsausschusses damit betraut, konnte letztendlich aber keine Einigung erzielen. 1964 wurde ein „Experten-Kollegium für Probleme der Grund- und Freiheitsrechte“ im Bundeskanzleramt einberufen, in „Grundrechtskommission“ umbenannt und nach 87 Sitzungen im Jahr 1974 wieder eingestellt. In den Jahren 1985 bis 1993 wurde eine weitere „politische Grundrechtekommission“ eingesetzt, auch diese fand keine Einigung. Der bisher letzte Versuch war der von 2003 bis 2005 tagende „Österreich Konvent“, der auch unter Einbeziehung der Sozialpartner rund 20-mal ohne Ergebnis tagte (S 28 und 29).
Ganze drei Tage hat sich das Plenum in Kremsier mit der Adelsaufhebung beschäftigt. Dies schien damals noch eine bedeutsame Frage gewesen zu sein. 166 Die Gleichstellung von Frau und Mann war hingegen kein Thema. Der später auch in Niederösterreich und als Finanzminister tätige Abgeordnete Rudolf Brestel hat laut den Protokollen gesagt: „Wollte man die Weiber zulassen, weil sie an den Staatslasten Theil (sic) nehmen, so müsste man aus gleichem Grunde auch die Kinder und die Narren zulassen“
(S 39). 172 Jahre später diskutieren wir als Gesellschaft noch immer über den Gender Pay Gap und Maßnahmen zur Gleichberechtigung von Frau und Mann.
Um die neueren, europäischen Grundrechtsentwicklungen darzustellen, bietet Szekulics in einem kurzen Exkurs auf Grundlegendes zur Grundrechtecharta der EU an. Die dort garantierten Grundrechte können seit 2018 auch vor dem VfGH geltend gemacht werden. Auch den damals noch nicht vorhandenen, durch die Judikatur geformten Vertrauensschutz, der heute gerade in sozialen Rechtsfragen ein wichtiges Argument ist, führt der Autor aus.
Bereits im Entwurf aus 1848/49 war ua in § 8 die Personenfreizügigkeit garantiert. Heute kennt das Staatsgrundgesetz, aber auch das vierte Zusatzprotokoll zur Menschenrechtskonvention diese grundlegende Freizügigkeit, darüber hinaus ist sie auch eines von vier Grundprinzipien (für AN) der Europäischen Union. Zudem ist dieses Grundrecht auch in einem eigenen Bundesverfassungsgesetz geschützt. Es scheint also, als würde die Menschen vieler Epochen das Grundbedürfnis verbinden, sich in Freiheit zu bewegen. Dies ist heute – Stichwort Lockdown – aktueller denn je. Wollen Regierungen die Freizügigkeit unterbinden, sind sie dafür sehr genaue Erklärungen schuldig. Nicht zuletzt deshalb hob der VfGH in seiner Judikatur aus dem Sommer 2020 wesentliche Teile der bis dahin ergangenen Verordnungen des Gesundheitsministers auf.
Politisch wird der Diskurs zur Pflichtmitgliedschaft in Selbstverwaltungskörpern geführt. Der Autor versucht, die 2008 erfolgte Verfassungsnovelle, die die Art 120a bis c B-VG eingefügt hat, mit den davor erfolgten Judikaten und Aufsätzen zu verzahnen, wobei die Argumente nicht immer nachvollziehbar sind. Kurios: Das wesentlichste System der nicht territorialen Selbstverwaltung, die SV, spricht der Autor nicht an. Und das, obwohl die dafür wesentliche Novelle, das Sozialversicherungs-Organisationsgesetz (SV-OG), bereits am 22.12.2018 kundgemacht wurde.
Der VfGH entwickelte die Grundrechtspositionen auch in der jüngeren Vergangenheit wesentlich weiter. Seien es Erkenntnisse im Zusammenhang mit Corona (Maskenpflicht an Schulen [VfGH 10.12.2020, V 436/2020] oder zum Ausgangsverbot ua [VfGH 14.7.2020, V 363/2020]) oder zum selbstbestimmten Sterben (VfGH 11.12.2020, G 139/2019). Das Höchstgericht füllt damit teilweise eine Lücke, die der Gesetzgeber mitunter politisch gewollt in Kauf nimmt. Dabei werden aber auch die Unzulänglichkeiten im Verfassungsrechtsschutz sichtbar: keine Prüfungen durch Eilanträge (auch das Arbeiten in Sessionen) und damit potentiell entfesselte Verordnungsgeber, bloße kassatorische Entscheidungen und kaum Möglichkeiten, der Vollziehung Handlungsdirektiven zu geben. Diese Probleme sind freilich nicht neu – wie jedenfalls seit dem Ortstafelkonflikt auch breit sichtbar wurde (VfGH 18.6.2008, V 331/08).
Alles in allem bleibt das Werk von Szekulics eine wichtige Rückbesinnung auf die Wurzeln unserer Grundrechte und deren geschichtlichen Kontext. Es sei allen empfohlen, die historisches Interesse an der Entwicklung unserer Rechtsordnung haben und jenen, die die heutigen Grundrechte in ihrer geschichtlichen Tiefe sehen wollen.