Schrattbauer (Hrsg)AÜG – Arbeitskräfteüberlassungsgesetz
Verlag Österreich, Wien 2020, 626 Seiten, gebunden, € 149,–
Schrattbauer (Hrsg)AÜG – Arbeitskräfteüberlassungsgesetz
1. Der Band schließt eine große Lücke, gibt es doch zurzeit – abgesehen von der Bearbeitung im Rahmen des ZellKomm – keinen einzigen aktuellen AÜG-Kommentar! Und er schließt sie hervorragend: Zu Schrattbauer selbst muss nichts gesagt werden, ihre bisherigen Publikationen, insb die Dissertation „Arbeitskräfteüberlassung“, sind längst Klassiker im besten Sinne. Sie hat für den Kommentar zwei Mitautorinnen gewonnen: Diana Niksova für die Fragen mit Auslandsbezug und die Meldepflichten (daher auch die Kommentierung der einschlägigen Regelungen des Lohn- und Sozialdumping-Bekämpfungsgesetzes [LSD-BG] – siehe unten), für die sie fachlich durch zahlreiche einschlägige Publikationen bestens ausgewiesen ist; und Petra Laback, die bisher – soweit überblickbar – nur eine einzige, allerdings spannende und häufig zitierte wissenschaftliche Arbeit (zur Umsetzung der RL über befristete Arbeitsverhältnisse, juridikum 2003, 86) veröffentlicht hat. Die Systematik und Klarheit ihrer Kommentare (zu den §§ 1-6a und 18 AÜG) machen deutlich, dass diese mutige Wahl eine sehr gute war.
2. Das Buch beginnt mit einer „Einführung“ in das Thema. Diese umfasst nicht nur einen grundsätzlichen Einstieg in die Probleme dieser Beschäftigungsform, sondern auch die historische Entwicklung des einschlägigen Rechts, einen Überblick der EU-Regelungen zur Leiharbeit, der einschlägigen Regelungen im Betriebsverfassungsrecht und auch statistische Daten zum Thema. Dadurch wird der Gegenstand des Werks gleich zu Beginn gut fassbar und plastisch. Nicht trockene Theorie steht bevor, sondern die Befassung mit realen Problemen einer speziellen Form (leider immer noch) prekärer Beschäftigung, die sowohl in ihrer Entwicklung, als leider auch in der Beharrlichkeit ihrer Missstände beeindruckt.
Der Kommentar selbst umfasst nicht nur die Regelungen des AÜG, sondern bezieht sehr zurecht auch die §§ 3-6, 19-24 und 26-28 LSD-BG ein. Leider geschieht dies allzu „dezent“: Der Umschlag des Buches enthält keinen Hinweis auf diesen wichtigen zusätzlichen Inhalt, der Kommentar selbst ist bei den Hinweisen zu den §§ 16a und 17 AÜG versteckt und wird auch dort nicht einmal an den Seitenrändern ausgewiesen. Schade! Ferner berücksichtigt die Kommentierung an allen wichtigen Stellen auch die beiden Überlasser-Kollektivverträge, was mE grundsätzlich sehr wertvoll ist, insb natürlich für die Rechtspraxis und alle mit Personalfragen der Branche Befassten (inkl Betriebsräte, Beitragsprüfer etc). Der umfassende Band hat allerdings auch einen beeindruckenden Preis.
3. Wie es der Struktur eines Kommentars entspricht, wird jeder Paragraph einzeln erläutert. Dabei erleichtert jeweils eine Inhaltsübersicht den Überblick über die behandelten Themen. Die oft seitenlangen Literaturlisten zu einzelnen Paragraphen sind akademischer Etikette geschuldet; hilfreich sind sie kaum. In den einzelnen Erläuterungen (Randziffern) selbst, sind die zentral behandelten Fragen hingegen nochmals durch Fettdruck hervorgehoben. Dadurch sind gegebenenfalls konkret gesuchte Inhalte leicht zu finden. Auch tabellarische Übersichten, zB zum Geltungsbereich des AÜG, fördern immer wieder den praktischen Nutzen des Werks. Das Stichwortverzeichnis ist eher knapp gehalten.
Die Kommentierung gibt zunächst jeweils die, oft genug widersprüchlichen Lehrmeinungen zu den einzelnen Bestimmungen wieder sowie die ja durchaus zahlreiche Rsp. Glücklicherweise belässt es keine der drei Autorinnen dabei: Kurz und prägnant, aber idR gut nachvollziehbar, beziehen sie zu fast allen strittigen Fragen Stellung und fügen oft genug den diskutierten 170 Auffassungen sehr erwägenswerte Argumente hinzu. Dabei wird durchgehend auf eine klare Trennung zwischen der Darstellung der Lehre und Rsp einerseits und der eigenen Position andererseits geachtet.
4. Natürlich teile ich nicht alle von den Autorinnen vertretenen Auffassungen. Im vorliegenden Rahmen möchte ich nur zwei, aus meiner Sicht wichtige Differenzen erwähnen:
a) In der Frage der Auswirkung der ohnedies eher überschätzten Diskrepanz zwischen dem Begriff der Arbeitskräfteüberlassung iSd Entsende-RL und der nationalen Definition des § 4 AÜG halte ich die reflexhafte Behauptung einer dadurch bewirkten Inländerdiskriminierung (Laback, § 4 Rz 31 mwH) für nicht überzeugend: Die Behauptung einer „Schlechterbehandlung österreichischer Überlasser“ verkennt das Thema. § 4 AÜG regelt lediglich die Abgrenzung zweier verschiedener Vertragstypen, die je unterschiedliche Rechtsfolgen für alle Beteiligten haben. Mit einem „übermäßigen Schutz überlassener AN“ hat die Regelung gar nichts zu tun: Er ist immer gleich (und nicht besser, nur spezifischer als im sonstigen Arbeitsrecht). Es geht um die Frage, ob dieser Schutz auf eine bestimmte Type von Vertragsbeziehung anzuwenden ist oder nicht. Das ist im Kern gar keine arbeitsrechtliche Regelung, sondern die Abgrenzung des Gewerbes der Arbeitskräfteüberlassung von den übrigen Gewerben. Eine im Vergleich zu anderen Staaten bzw der EU unterschiedliche Gewerbeabgrenzung besteht vielfach und ist grundsätzlich weder ein Vor- noch ein Nachteil. Und ein Vergleich, der die nur für die ausländischen Unternehmen gültigen Normen des Entsendestaates gänzlich übersieht, ist nicht exakt.
Vor allem liegt eine Inländerdiskriminierung idR nur dann vor, wenn die sachliche Rechtfertigung für eine Regelung verloren geht, weil ausländische Unternehmen von dieser Regelung nicht erfasst sind und dadurch das rechtfertigende Ziel nicht mehr erreicht werden kann; sonst kann eine unterschiedliche Behandlung von Inund Ausländern durchaus gerechtfertigt sein (Öhlinger/Potacs, EU-Recht und staatliches Recht7 [2020] 109 ff). Das Ziel der Anordnung des § 4 AÜG ist offenkundig: Es geht um das Verhindern von Umgehungen, vereinfachte Beurteilung und erhöhte Rechtssicherheit. Dass diese „Beweiserleichterung“ gegenüber ausländischen ÜberlasserInnen nicht gilt, macht ihr Ziel keinesfalls unerreichbar. Der Anteil grenzüberschreitend überlassener AN liegt seit Jahren unter 5 %, wie die Berichte gem § 13 AÜG zeigen. Somit kann eine massenweise Umgehung des AÜG von vornherein nicht eintreten, zumal die angesprochene Erleichterung davon wiederum nur wenige Fälle betrifft. Das rechtfertigende Ziel der Anordnung ist also keineswegs unerreichbar oder obsolet geworden. Bis zu einer Entscheidung des hier allein maßgeblichen VfGH – Unionsrecht ist nicht betroffen – bleibt es aber ohnehin bei Inlandssachverhalten beim bisherigen Prüfschema.
b) Zum anderen scheint mir die Ansicht, dass § 10 Abs 1a AÜG ausschließlich die explizit genannten Betriebspensionsansprüche erfasse und langdauernde Überlassungen geradezu legitimiere (Schrattbauer, Einleitung Rz 15 und § 10 Rz 28 f; Laback, § 3 Rz 16, 19), schon national nicht überzeugend. Denn dann sind erhebliche Wertungswidersprüche zu erklären: Bei langer Überlassung muss der Beschäftiger (!) sogar Betriebspensionsansprüche erfüllen, aber zB nicht als Wohlfahrtseinrichtung/-Maßnahme organisierte Vergünstigungen darf er vorenthalten? Eine die Entgeltfortzahlung bei Krankheit verbessernde BV gilt bei „doppelter KV-Bindung“ nicht, wohl aber trotzdem jene über die Betriebspension?
Noch klarer ist das Ergebnis aus europarechtlicher Sicht. Die Leiharbeits-Richtlinie (RL 2008/104/EG) betont mehrfach den vorübergehenden Charakter der Arbeitskräfteüberlassung. Somit stellen dauerhafte Überlassungen jedenfalls einen Missbrauch dar. Die Konsequenz erfolgten Missbrauchs ist aber mindestens, dass betroffene AN in allen Aspekten (nicht nur den in Art 3 Leiharbeits-RL genannten) wie vergleichbare AN des Beschäftigers zu behandeln sind! So hat der EuGH bei einem Betriebsübergang den ständigen Beschäftiger, dem alle AN von einem konzerninternen Überlasser gestellt wurden, als „nicht-vertraglichen Arbeitgeber“ bezeichnet und behandelt (EuGH 21.10.2010, C-242/09, Albron). Mangels einer anderen nationalen Regelung, welche die effektive Wirkung der Richtlinie hinsichtlich des Missbrauchsverbots umsetzt, muss § 10 Abs 1a AÜG mE europarechtskonform so verstanden werden, dass er bei langer (vierjähriger) Überlassung eine völlige Gleichbehandlung mit der Stammbelegschaft anordnet – bis hin zu den explizit erwähnten Betriebspensionsansprüchen. Da selbst so weit aufgeschobene Entgelte zu leisten sind, gilt dies umso mehr für alle anderen (Größenschluss). Es ist also schon richtig, dass das AÜG nun auch lange dauernde Überlassungen regelt (Schrattbauer, § 10 Rz 28), aber eben dahingehend, dass in solchen Fällen eine gänzliche Gleichstellung mit der Stammbelegschaft zu erfolgen hat – bis hin zu jenen Fällen (Betriebspension), wo zur Erreichung dieses Ziels der Beschäftiger selbst unmittelbar in die Pflicht genommen werden muss. Es ist mir bewusst, dass ich einer thematisch scheinbar engen und formal eher technischen Regelung weitreichende Inhalte zuschreibe. Aber die andere Alternative, die Norm geradezu als Legitimierung des Missbrauchs zu verstehen, scheidet mE angesichts der europarechtlichen Vorgaben aus.
5. Unterschiedliche Auffassungen sind nicht nur selbstverständlich, sondern vielmehr dringend nötig, um im Fortschreiten der Diskussion zu immer besseren Ergebnissen, manchmal auch besseren Regelungen, zu gelangen. Die (rechts)wissenschaftliche Diskussion dient nicht nur dem akademischen Interesse, sondern immer auch der Gesellschaft als ganzer und in concreto damit neben dem Fortschritt der Rsp auch der Rechtsentwicklung. Wird sie auf so hohem Niveau und in so exzellenter Form geführt wie in diesem Buch, sind gegensätzliche Meinungen mE sogar fast wichtiger als übereinstimmende Auffassungen. Die gerade diskutierten Fragen ändern daher nichts an meiner Wertschätzung des besprochenen Werks, ganz im Gegenteil!
Um aber Missverständnisse zu vermeiden, sei abschließend betont: Das Buch ist nicht von wissenschaftlicher Debatte geprägt, sondern als exzellenter Kommentar primär der schnellen, umfassenden und verständlichen Information der NutzerInnen verpflichtet. Gerade das macht es sowohl für betriebliche PraktikerInnen, als auch für die Rechtspraxis und die wissenschaftliche Diskussion so wertvoll. Es ist uneingeschränkt zu empfehlen. 171