Blanke/Hayen/Kunz/CarlsonEuropäisches Betriebsräte-Gesetz – Arbeitnehmermitbestimmung in Europa

3. Auflage, Nomos Verlag, Baden-Baden 2019 630 Seiten, gebunden, € 138,–

KLAUSMAYR (LINZ)

Die RL 94/45/EG vom 22.1.1994 idF der RL 2009/38/EG über die Einsetzung eines Europäischen Betriebsrats (EBR) oder die Schaffung eines Verfahrens zur Unterrichtung und Anhörung der AN in gemeinschaftsweit operierenden Unternehmen und Unternehmensgruppen hat erstmals kollektives Arbeitsrecht auf Unionsebene geschaffen. Diese Richtlinie dient der Unterstützung der AN und AG, um grenzüberschreitende Verflechtungen von Unternehmen zu bewerkstelligen. Die Betriebsverfassung hat in allen Mitgliedstaaten – in unterschiedlichem Ausmaß – die Aufgabe, den Interessen der AN angemessen Gehör zu verschaffen.

Der Kommentar in dritter Auflage erscheint erstmals nach dem Tod von Prof. Blanke im Jahr 2017 bzw zehn Jahre nach der letzten Auflage. Prof. Dr. Thomas Blanke war Professor in Oldenburg; Ralf-Peter Hayen ist Ass. Jur., Referatsleiter, DGB-Bundesvorstand, Abteilung Recht, Berlin; Olaf Kunz ist Rechtsanwalt und Leiter der Tarifabteilung der IG Metall Bezirksleitung Küste, Hamburg; Dr.inSandra Birte Carlson, LL.M. ist Rechtsanwältin und Fachanwältin für Arbeitsrecht in Nürnberg. Diese Zusammenstellung der AutorInnen stellt eine gute Mischung von Wissenschaft und Praxis unter Einbeziehung von AN-VertreterInnen dar. Dennoch ist es gerade bei dieser Thematik besonders wichtig, zu praktisch vernünftigen Ergebnissen zu gelangen. Die Neuauflage trägt der gewachsenen Bedeutung des kollektiven Arbeitsrechts auf Unionsebene Rechnung, zeichnet aber auch ein kritisches Bild des europäischen, kollektiven Arbeitsrechts vor dem Hintergrund nachlassender innerer und äußerer Konsolidierung der EU. In gewisser Hinsicht ist die europäische Mitbestimmung in ihrer Entwicklung ein Spiegelbild der Entwicklung der inzwischen häufiger anzutreffenden Europäischen Aktiengesellschaft (Societas Europaea [SE]), so dass diese Kommentierung auch zahlreiche Bezüge zum europäischen Gesellschaftsrecht enthält. Infolge der Entwicklungen seit der Novellierung im Jahr 2009 geht die Kommentierung im Detail auf Ergänzungen, Präzisierungen und Neustrukturierungen in diesem Bereich ein, gefolgt von der Umsetzung in deutsches Recht, die maßgeblicher Gegenstand der Kommentierung ist, aber stets mit Blick auf die europarechtlichen Vorgaben. Heute gibt es etwa 750 europäische Betriebsräte und alternative dezentrale Verfahren, die über 17 Mio Beschäftigte in ganz Europa vertreten, was mehr als 10 % der AN Europas entspricht. Dabei setzt die Regelung über die europäischen Betriebsräte ganz anders an als etwa das deutsche BetrVG und das österreichische ArbVG, indem an die Stelle zwingender gesetzlicher Vorgaben das Verhandeln bestimmter Aufgaben und Befugnisse getreten ist, die durch die rechtlichen Regelungen mehr oder weniger erzwungen werden. Diese Regelungen sind statt eines Gegeneinanders von einem latenten Zwang zur Kooperation im allseitigen Interesse gekennzeichnet. Die Praxis zeigt, dass dieses Modell funktioniert und zu flexiblen Ergebnissen führt. Es wäre spannend, dieses Modell auch im „österreichischen Teil“ des ArbVG zu erproben. Es ist insb ein Anliegen dieses Kommentars, die Praxis der Rechtsanwendung in den Betrieben zu dokumentieren und ihr Impulse zu geben. Insofern wendet sich der Kommentar selbstverständlich nicht nur an JuristInnen, sondern auch an Betriebsräte und UnternehmerInnen.

Die dritte Auflage des EBRG-Kommentars geht auf sämtliche, vielfach ergänzte und neu strukturierte Regelungen ein und informiert auf dem neuesten Stand über:

  • Inhalt, Umfang und Zeitpunkt von Information und Konsultation durch die zentrale Leitung und der damit verbundenen „Ebenenabstimmung“,

  • den Auskunftsanspruch der EBR-AkteurInnen gegenüber der zentralen Leitung zur Errichtung eines Gremiums sowie die Berichtspflicht der EBR gegenüber allen nationalen Interessenvertretungen oder den AN unmittelbar,

  • die Zusammensetzungsregeln des besonderen Verhandlungsgremiums und des EBR,

  • Soll-Vorschriften für Inhalte von EBR-Vereinbarungen,

  • die Möglichkeit und Voraussetzung einer Neuverhandlung von Vereinbarungen bei wesentlichen Strukturänderungen,

  • Fortbildung, Sachverständigenheranziehung und Kostentragung,

  • Umfang und Grenzen der Fortgeltung bestehender Vereinbarungen sowie

  • Sanktionen und Unterlassungsanspruch als unionsrechtswidrige Umsetzungsdefizite,

  • Auswirkungen des Brexits auf die Mandate von EBR-Mitgliedern in und aus UK,

  • Änderung von EBR-RL und EBRG zur Zulässigkeit von Sitzungsteilnahmen und Beschlussfassungen per Videokonferenz für Mandatsträger in der Seeschifffahrt.

Auf mögliche Folgen des Brexit wurde angesichts der zahlreichen Verflechtungen mit Unternehmen aus UK intensiv eingegangen. Die vorzügliche Kommentierung geht auch auf die Ergänzungen aus dem Jahr 2015 für Seeleute ein, die als § 41a EBRG in das Gesetz eingefügt wurden.

Die Rsp des EuGH wird teilweise kritisch kommentiert, wobei auch die Verflechtungen dieses Rechtsbereiches mit anderen Bereichen des Arbeitsrechts eingehend berücksichtigt werden. Die Kommentierung setzt bei der Einbeziehung der nationalen Rsp aus den verschiedenen Mitgliedstaaten auch rechtsvergleichend an, indem Urteile aus Frankreich, Belgien, Spanien, den Niederlanden und Deutschland einbezogen werden. Die Kommentierung bildet interessante Schwerpunkte, etwa bei den Konsultationsverfahren mit Informations-, Unterrichtungs- und Anhörungsverfahren sowie der Streitfrage, ob deren Unterlassung einen Unterlassungsanspruch auslösen kann. Die Kommentierungen gehen auf die europarechtlichen Grundlagen direkt im Text der Kommentierung ein und konfrontieren die deutsche Rechtslage mit diesen Rechtsgrundlagen. Die nationalen EBR-Rechte in den verschiedenen Mitgliedstaaten werden dabei rechtsvergleichend einbezogen, soweit Abweichungen vorhanden sind.

Die Mitbestimmung der AN bei einer grenzüberschreitenden Verschmelzung wird, zusätzlich zur Kommentierung 174 der AN-Beteiligung in der SE nach dem SEBeteiligungsgesetz (SEBG) und der SE-RL, eingehend erläutert. Angesichts der neueren Entwicklungen ist das Konzept des Kommentars völlig konsequent erweitert worden.

Teil A geht eingehend auf die Mitbestimmung der AN nach dem EBRG ein. Hierzu war es notwendig, zunächst einmal den Anwendungsbereich zu strukturieren und im Rahmen des § 2 auf Grenzfälle bei Drittstaatenberührung einzugehen. Eingehend wird im Rahmen der Kommentierung auch auf die gesellschaftsrechtlichen Grundlagen eingegangen, unter Einschluss der Thematik der Sitzverlegung. Erst die gesellschaftsrechtliche Analyse macht die Darlegungen über die AN-Beteiligung nach der SE-RL und dem SEBG richtig verständlich. Allerdings ist der Hinweis sehr treffend, dass man davon absehen sollte, die SE als einheitliche Rechtsform zu sehen. Die Rechtsgrundlagen erlauben vielmehr einen Gestaltungsspielraum, der eine Vielfalt der SE-Rechtsformen ermöglicht. Hinsichtlich der ANBeteiligung ist eine denkbare Vielfalt zu verzeichnen, die Raum für nationale Besonderheiten schafft. Die Einzelheiten werden hier sehr strukturiert dargestellt, auch bezüglich der Voraussetzungen einer zwingenden Errichtung nach § 21. So wird insb verdeutlicht, dass auch die Mitbestimmung bei der SE auf Verhandlungslösungen statt starrer Vorgaben setzt. Diese Verfahren werden sehr präzise rekonstruiert.

Die Kommentierung des EBRG geht auf alle wesentlichen Problemstellungen ein, so auch etwa auf die Probleme bei der Durchsetzung des Auskunftsanspruchs nach § 5 EBRG. Diese Norm zählt zu den umstrittensten Normen dieses Gesetzes und gibt der AN-Vertretung das Recht, Einzelheiten über AN-Zahlen und deren Verteilung zu erfahren. Ohne diese Auskunft ist eine angemessene Vertretung äußerst schwierig. Die Darstellung geht auf die Details der Durchsetzung ein und weist etwa auch darauf hin, dass nach § 85 Arbeitsgerichtsgesetz (ArbGG) die Möglichkeit der Erwirkung einer einstweiligen Verfügung besteht. Es liegt auf der Hand, dass das Verfahrensmodell und die Verhandlungslösungen sowie die Zusammensetzung des EBR eingehend analysiert werden. Dies gilt auch für die teilweise umstrittenen Anhörungs- und Unterrichtungsrechte sowie die Strafvorschriften. Wer Informationen zu Einzelaspekten sucht, wird sie hier schnell finden.

Teil B kommentiert die SE-RL mit Blick auf das EBRG und die SEBG. Die wesentlichen Inhalte der Richtlinie werden ebenso vorgestellt wie ihre schwierige Entstehungsgeschichte. Damit wird mit Recht großer Wert auf eine Analyse der Wirkungen dieses Modells gelegt und dargestellt, dass es von einem strikten Vorrang von Vereinbarungen vor dem Gesetz gekennzeichnet ist und zwingend eine Kooperation erforderlich macht, um sich nicht gegenseitig zu blockieren. Es ist sehr zu begrüßen, dass diese Kommentierung auf die rechtspolitischen Entwicklungen in diesem Bereich intensiv eingeht.

Konkrete Hinweise zur Ausgestaltung der AN-Beteiligung in Unternehmen, ein Musterbrief an die Unternehmensleitung sowie eine Muster-EBR-Vereinbarung unterstreichen die Beratungsnähe.

Das Werk richtet sich an EBR-InitiatorInnen, -Mitglieder, -BeraterInnen/-BetreuerInnen, Interessenvertretungen der AN und AG, RichterInnen der Arbeits- und Sozialgerichte, RechtsanwältInnen und ExpertInnen in der Wissenschaft.

Der Kommentar bietet allen InteressentInnen vielfältige, kompetente und sehr transparente Informationen über das Recht der Europäischen Betriebsverfassung unter Einschluss rechtspolitischer Aspekte auf aktuellem Stand. Auch wenn es sich dabei um eine Kommentierung deutscher Gesetze handelt, bildet diese eine wertvolle Unterstützung bei der Auslegung der V. bis VIII. Teile des ArbVG, da beide Gesetze auf der RL 94/45/EG vom 22.1.1994 idF der RL 2009/38/EG beruhen.