Ferdinand Hanusch, das Wahlrecht und die Sozialgesetze der Ersten Republik
Ferdinand Hanusch, das Wahlrecht und die Sozialgesetze der Ersten Republik
Der aus Österreichisch-Schlesien stammende,* sozialdemokratische Politiker und Autor Ferdinand Hanusch gilt als Architekt und Initiator mehrerer, bis heute besonders wichtiger Sozialgesetze der Ersten Republik. In seine Ära als Staatssekretär* der Regierung Renner (1918-20)* sowie des von Mayr geleiteten Übergangskabinetts von Juli bis Oktober 1920 fielen Rechtsakte, die sich als prägend für das heutige Arbeits- und Sozialrecht erwiesen haben. Besonders imponieren dabei die rasche Gesetzwerdung und die effektive Umsetzung der Rechtsakte, die zum Teil von Verwaltungsorganen ausgingen, zum Teil aber in Gesetzesform von der Provisorischen Nationalversammlung (PrNV) und ab März 1919 von der Konstituierenden Nationalversammlung (KNV) beschlossen wurden.* Zu den frühen Rechtsakten zählen hier die Vollzugsanweisung des Staatsrates* zur Arbeitslosenunterstützung* unmittelbar nach Kriegsende, die noch im Dezember 1918 erfolgte, und die gesetzliche Neufassung von Arbeitszeitregeln (8-Stunden-Tag im Industriesektor).* Der Beschluss des BetriebsräteG 1919* ging bereits auf ein längeres Tauziehen mit den bürgerlichen Parteien und auf einen Kompromiss zurück, der zu außerparlamentarischen Protesten gegen die „Verwässerung“ und damit auch zu einer ersten Koalitionskrise führte.* In einer wirtschaftspolitischen Gesamtbetrachtung gilt dennoch dieses Gesetz, das mit erwartbaren Einschränkungen (zB außerhalb von landwirtschaftlichen Mittelbetrieben) wirksam wurde, als eine der zentralen gesetzgeberischen Leistungen der Ära Hanusch.*
Eine bleibende und prägende Leistung von Hanusch manifestiert die Verabschiedung des EinigungsämterG.* Der Beschluss des ArbeiterkammerG (AKG) 1920* in der KNV öffnete den Weg für eine den Handelskammern ebenbürtige Vertretung von AN-Interessen und zeichnete so im Voraus die später so erfolgreiche Sozialpartnerschaft in visionärer Weise auf. Dass sich die Träger der beruflichen Selbstverwaltung erst seit dem Jahr 2008 explizit im B-VG wiederfinden,* darf nicht darüber hinwegtäuschen, 442 dass es sich gerade angesichts des AKG 1920 um eine von der definitiven Verfassung vorgefundene Organisations- und Vertretungsform handelte. Die Entwürfe zum B-VG 1920 nahmen auch bereits Bezug auf die geplante Kompetenzverteilung für „das gesamte Arbeiterrecht (sic), den Arbeiter- und den Angestelltenschutz“
mit Ausnahme der Landarbeiter sowie das Sozialversicherungsrecht.* Da diese Kompetenzentwürfe allesamt von Kelsen stammen dürften, stellt sich die Frage, inwieweit der „Architekt“ des B-VG mit dem im maßgeblichen Zeitraum zuständigen Staatssekretär Hanusch in Beziehung stand,* was sich aus dem Schrifttum nur rudimentär klären lässt.* Auch Kelsens Schüler und Nachfolger (ab 1920 als ao. Prof., ab 1930 als o. Prof. an der Universität Wien) und Mit-Kommentator des B-VG,*Adolf Julius Merkl, stand mit dem Staatssekretär und nachmaligen NR-Abgeordneten in Verbindung, nachdem er auch zeitweise Staatskanzler Renner persönlich als Mitarbeiter des Verfassungsdepartements in der Staatskanzlei (dem heutigen Verfassungsdienst, der nun wieder im Bundeskanzleramt ressortiert*) zur Verfügung gestanden war.*Merkl, der die Verwaltungslehre nicht nur an der Universität, sondern auch in allgemein verständlicher Form für die Ausbildner der Betriebsräte vortrug, war neben Käthe Leichter (Prüferin), Julius Grünwald (Aufgaben der Betriebsräte), Karl Pribram (Arbeitsvertrag und Lohnformen; Prüfer), Jenny Adler (Betriebshygiene und Berufskrankheiten),*Luitpold Stern (Methodik/Unterrichtstechnik), Otto Neurath (Sozialisierung) und Friedrich Hertz (Allgemeine Wirtschaftskunde) eine jener motivierten Lehrpersonen, die sich im Rahmen der Betriebsrätelehrerkurse für die Ausbildung von speziellen Lehrpersonen für Betriebsräte in Spezialkursen zur Verfügung stellten, um diesen eine wirtschaftliche und juristische Grundausbildung zu vermitteln.*
Weitere Maßnahmen, welche Hanusch als Staatssekretär und Leiter des Sozialressorts zuordenbar sind, betrafen die Regelung des Arbeiterurlaubs und die Grundlegung der AlV. Darüber hinaus entwickelte das Hanusch 1918-20 unterstehende Staatsamt für soziale Verwaltung die Vorlagen für die gesetzlichen Vorkehrungen zu Gunsten der Kriegsopfer. Die Handschrift von Hanusch und der von ihm beigezogenen ExpertInnen (ua Käthe Leichter, Max Lederer, als Konsulent auch Emil Lederer,*Karl Pribram und Edmund Palla*) zeigt sich somit in der Neufassung und -organisation aller wesentlichen Aspekte des Arbeits- und Sozialrechts, daneben auch in der Schaffung von neuen Organisationsstrukturen,* von zahlreichen gewerkschaftlichen Neugründungen* und von Weiterentwicklungen nicht zu reden,* die größtenteils noch in der produktivsten Phase der jungen und letztlich „unvollendeten“ Republik realisiert 443 werden konnten.* Diese Aspekte seines Schaffens, die im Schrifttum gewürdigt werden, sind nicht vorrangig Gegenstand des vorliegenden Aufsatzes, der sich schwerpunktartig dem Recht der Ersten Republik, der Wahl von Hanusch in drei Parlamente und seiner Arbeit in vier Vertretungskörpern widmet. Ab 1907 sowie 1911 wurde er durch seine Wahl in das Abgeordnetenhaus (AH) Mitglied des Reichsrats (RR); davon abgeleitet amtierte ab 1918 die PrNV, der er angehörte; am 16.2.1919 wurde er in die KNV und am 17.10.1920 in den NR gewählt. Auf diese Wahlen und deren sehr unterschiedliche Grundlagen ist hier einzugehen. Des Weiteren soll Hanusch‘ Beitrag zur Sozialgesetzgebung als Staatssekretär und ab 1921 als Vorsitzender des Sozialauschusses im NR in einen rechtspolitisch-historischen Kontext gestellt werden; daneben bleibt hier nur wenig Raum für genuin historische Hinweise, deshalb sei dazu auf die Biografien verwiesen.* Dasselbe gilt für die belletristischen und literarischen Schriften, die Hanusch verfasst hat, welche Helga Reißer in den 1950er-Jahren mit Bezug auf eine frühe Publikationsphase „Parteischriften im literarischen Gewande“ nannte.* Sie erwähnt dabei den lebendigen Stil sowie die ambivalenten Erlebnisse und die weltanschaulichen Botschaften,* die Hanusch etwa in seine Erzählung „Der Agitator“ (1907) einwob. Aus sozialwissenschaftlicher Sicht geben diese biografisch verbrämten Schriften auch Aufschluss über die erbärmlichen Verhältnisse, in denen Arbeiter vor und um 1900 lebten.* Hanusch wichtiger Beitrag zum Fortschritt sozial Benachteiligter lag nicht nur im engeren Bereich seines Ressorts, er stand auch für die Verbesserung der Allgemeinbildung ein und förderte frühzeitig die Schärfung von rhetorischen Fähigkeiten in Rednerschulen, dies noch in seiner schlesischen Zeit.*
Ein weiterer historisch-politischer Aspekt soll den weiteren Überlegungen vorangestellt werden. Obwohl die junge Erste Republik mit existenziellen Überlebensfragen nach außen und innen hin beschäftigt war, wozu die unklare Grenzziehung* und das Verhältnis zu den neuen Nachbarn ebenso zählten wie die Bekämpfung der Inflation und Arbeitslosigkeit sowie eine anhaltende Grippe-Epidemie, gelang es Hanusch in zumeist konsensualer Weise, seine Vorhaben mit nur leichten Abstrichen legistisch umzusetzen. Darin zeigt sich eine große politische Leistung, denn binnen kurzem „standen“ die soeben erwähnten Rechtsmaßnahmen zwischen November 1918 und dem 22.10.1920, dem definitiven Ausscheiden des vormaligen Staatsamtsleiters und -sekretärs aus der Regierung. Als Hanusch, nunmehr als AK-Direktor und NR-Abgeordneter, seine parlamentarischen Aktivitäten (Vorsitz im Sozialausschuss) fortsetzte, waren die soziale Infrastruktur, das Arbeitsrecht und die genannten Einrichtungen bereits in irreversibler Weise etabliert. Darunter befanden sich die unter Hanusch geschaffenen Einigungsämter, wie Klaus-Dieter Mulley herausgearbeitet hat, die einer sozialen und einer friedensstiftenden Funktion zugleich dienten.*
Unterschätzt wird die im Gegensatz zu heute – trotz zahlreicher Kontroversen – transparente und humanistisch orientierte Führung der Verwaltung: Das Staatsamt („Ministerium“) für soziale Verwaltung und Fürsorge erwies sich in der Ära Hanusch als zentraler Ansprechpartner für alle von ihm betreuten sozialen Agenden, wozu auch und vor allem die Linderung der Kriegsfolgen zählte.
Und noch ein weiterer Aspekt wäre zu nennen, der aus rechtswissenschaftlicher Sicht bisher unterbelichtet erscheint,* womöglich auch, weil die entsprechenden Rechtsakte nur rudimentär blieben, nämlich die programmatisch im März 1919 begonnene Sozialisierung. Wer sich damals mit Verfassungsrecht befasste, wie zB Adolf Julius Merkl, der seine Habilitationsschrift abschloss, konnte an diesem Thema weder aus Sicht der Staatslehre noch der Rechtsdogmatik und schon gar nicht der Rechtspolitik vorübergehen.* Und auch wenn es bei Vorbereitungen blieb: Damals gelang es der Sozialdemokratie trotz einer bürgerlichen Mehrheit in der KNV (in der PrNV war diese noch bedeutend größer gewesen!) aus einer Position der durch einen Wahlsieg gewonnenen Stärke Unterstützung für Sozialisierungsmaßnahmen im Lager des Koalitionspartners und der großdeutschen Opposition 444 zu finden. Allerdings standen die damaligen Entwicklungen auch außenpolitisch in einem schwierigen Kontext: Fürchteten die bürgerlichen Parteien einerseits die radikalen bolschewistischen Experimente in Bayern, Ungarn und im Norden der Weimarer Republik, so drangen die Missionsleiter der Westmächte auf eine Eindämmung der Macht von Arbeiter- und Soldatenräten sowie des „Drucks von der Straße“.* Diese Dynamisierung lässt sich unter Analyse des parlamentarischen Prozesses nachweisen. So wurde im Frühjahr 1919 in der KNV die Einrichtung einer staatlichen Sozialisierungskommission beschlossen, die auf Antrag* und unter Beteiligung des christlichsozialen Koalitionspartners amtierte.* Die Motive für die Schaffung dieser Einrichtung waren unterschiedlicher Natur und können auch im Versuch gesehen werden, eine Mehrheit in dieser letztlich unwirksamen Kommission zu bilden oder nach außen hin nicht den Anschluss an den Zug der Zeit zu verlieren. Wie Rudolf Gerlich dargelegt hat, war das Ziel der Sozialisierung ein erst nach 1900 genauer entwickeltes Schlagwort geworden;* virulent wurde die Frage aber erst nach dem 1. Weltkrieg und hier vor allem als programmatischer Konflikt zwischen den Parteien im Wahlkampf vom Januar/Februar 1919. Da Otto Bauer in einer Artikelserie in der Arbeiter-Zeitung im Januar den Standpunkt der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) ausgearbeitet hatte, der sich auf eine Aufhebung des Eigentums an Produktionsmitteln stützte,* war es im Wahlkampf für die Februarwahlen vor allem für die christlichsoziale Partei wichtig, ihren eigenen Standpunkt zur Sozialisierung zu entwickeln; konnte man sich einerseits auf die Kommunalisierungen Luegers berufen, so standen andererseits die Bekenntnisse Kienböcks und anderer Parteigänger der Christlichsozialen Partei (CSP) zum Privateigentum einer weiter ausgreifenden Sozialisierung diametral entgegen. Für eine bessere soziale Absicherung der Arbeiter (und Bauern) waren die Bürgerlichen gewiss zu haben und stellten sich hier auch nur dann quer, wenn zB die Mitwirkung bei der Unternehmensführung beansprucht wurde. Somit verstanden Christlichsoziale und Sozialdemokraten Unterschiedliches unter dem Begriff und Ziel der Sozialisierung. Der Pyrrhus-Sieg der SDAP bestand darin, zwar das Gesetz zur Vorbereitung der Sozialisierung und das Procedere für Enteignungen sowie die Zwangseinlagen von Banken in sozialisierte Unternehmen (Genossenschaften) erkämpft zu haben; doch mangels Liquidität und ausreichenden Devisenvorräten der Banken konnte auch diese Maßnahme faktisch nicht umgesetzt werden.*
Anders als nach dem Zweiten Weltkrieg fehlte aber letztlich die Mehrheit für eine einschneidende Umgestaltung der Wirtschaftsordnung, die sich auf einige Sektoren beschränkte. Letztlich gingen alle Versuche in die Brüche, wie das Schicksal der „privatisierten“ Munitionsfabrik Wöllersdorf,* der verstaatlichten Arsenalwerke und der ehemaligen k.u.k. Flugzeugfabrik in Fischamend zeigt. Aus diesem Grund kann der letztlich gescheiterte Ansatz zur Sozialisierung auch als verspielter Sieg bezeichnet werden.44) Dass die Sektoren der Holzgewinnung und des Holzgroßhandels,* der Eisenindustrie und der Nutzung der Wasserkraft zur Energiegewinnung unter den für die Sozialisierung ausgewählten Sektoren genannt wurden, ist weniger aussagekräftig als das Fehlen gewisser Schlüsselsektoren (wie zB der Banken und Versicherungen).*
Einerseits wollten die in der KNV vertretenen Parteien dem großkoalitionären Grundkonsens folgen, die „Sozialisierung“ umzusetzen,* andererseits 445 verstanden deren Vertreter, wie sich bereits im Wahlkampf gezeigt hatte,* Unterschiedliches darunter.* Wenig Sympathie für Enteignungen kam von den großdeutschen und nationalen Abgeordneten, bei denen sich Vertreter des verbliebenen Großgrundbesitzes sammelten. Innerhalb der CSP gab es Spannungen zwischen Befürwortern und Gegnern von Verstaatlichungsmaßnahmen, wobei der CSP-Abgeordnete Kunschak auf die Kommunalisierungen der Lueger-Ära als Beweis für die soziale Ausrichtung seiner Partei verwies, aber auch auf das „Naturrecht“ auf Eigentum.* Auch die SDAP musste die Bauern beruhigen,* dass die Höfe nicht von Enteignungsmaßnahmen betroffen sein würden, ebenso die Handwerker hinsichtlich der Werkzeuge und Maschinen. Schlussendlich beschränkten sich die Maßnahmen auf ehemals militärisch-ärarische Betriebe.* Ein anschauliches Beispiel, das zeigt, wie die Sozialisierung scheiterte, ist das von Mulley näher untersuchte Schicksal des größten Munitionswerkes der k.u.k. Monarchie in Wöllersdorf am Eingang des Piestingtals südlich von Wien.* Hatte dieses ursprünglich militärärarische Unternehmen einst die k.u.k. Armee beliefert und wegen der gewaltigen Lager für Sorgen bei der Bevölkerung wegen der anhaltenden Explosionsgefahr gesorgt, so erwies sich der Teilverkauf an die Berliner AEG als Fehlschlag; nach einer Analyse der Überlebensfähigkeit baute die AEG Maschinen und Material ab, auch ein zweiter deutscher Eigentümer, der nach Protesten und einem Personalabbau von 2.000 Arbeitern von der christlichsozialen Regierung Ramek eingesetzt wurde, nahm nur mehr eine weitere Liquidierung bis hin zur Stilllegung und Verwandlung des Areals in eine Industrieruine vor. Wöllersdorf spielte auch in der späteren Geschichte der Ersten Republik eine Rolle, im autoritären Ständestaat lag dort ein Anhaltelager, das die Nationalsozialisten plakativ anprangerten und nach ihrer Herrschaftsübernahme im März 1938 abbauten, ehe sie in Mauthausen eines der fürchterlichsten KZ des „großdeutschen“ NS-Staates errichteten.*
Sieht man von Neugründungen wie den ÖBB als „Wirtschaftskörper“ (staatlicher Regiebetrieb ab 1923) ab, waren die Verstaatlichungen in der Ära überschaubar und im Umfang nicht annähernd mit jenen der zwei Verstaatlichungsgesetze der Zweiten Republik vergleichbar, da die politischen Kräfte uneins waren. Die Abschwächung des Sozialisierungsgedankens zeigte sich anhand des parlamentarischen Umgangs mit der Frage der Enteignungen, für die nur ein Verfahrensgesetz zustande kam. Vielfach wird daher die Ansicht vertreten, dass die auch von Merkl angesprochenen und von Bauer, Renner und ihren Parteifreunden weitergehend geplanten Sozialisierungsmaßnahmen durch diese Vorgangsweise gehemmt und verlangsamt wurden. Umso bedeutender sind die Verbesserungen auf Ebene des Arbeits- und Sozialrechts einzustufen, vor allem wenn man bedenkt, dass in anderen Nachfolgestaaten der k.u.k. Monarchie kein vergleichbarer Fortschritt erreicht wurde.* Das Ende der großen Koalition im Juni 1920* und die Bündelung der parlamentarischen Energien in die einem Unterausschuss zugewiesenen Beratungen des B-VG, das am 1.10. beschlossen wurde, stellten aber auch hier eine weitere Retardierung dar.
Was also die Nachhaltigkeit der gesetzgeberischen Maßnahmen betrifft, ist das im Beitrag von Hanusch bis heute stärker spürbar als die gewiss idealistischen Vorstellungen zur Neuordnung der Wirtschaftsverfassung iS einer Sozialisierung. Wie sich aus seiner Biografie ergibt, hatte der Sohn eines Heimwebers als Lehrling und Geselle auf der Walz reichlich Gelegenheit, das Elend der Arbeiterfamilien und die sozialen Verhältnisse in Cisleithanien, aber auch in der ungarischen Reichshälfte, der Türkei und Rumänien kennen zu lernen. Hanusch hat all dies auch selbst dokumentiert und sich darüber hinaus als begabter Autor gezeigt,* der belletristische Werke vorlegte.* Mehrere biografische Beiträge und Bücher würdigen sein vielfältiges Wirken,* wobei auch die Konsensbereitschaft und die fachlichen Kenntnisse nicht nur von Parteifreunden hervorgehoben werden. Die vorliegende Untersuchung kann nur einen schmalen, rechtswissenschaftlich relevanten Ausschnitt aus Hanusch‘ Tätigkeit in drei bzw vier verschiedenen 446 Parlamenten (AH, PrNV bzw KNV, NR) und als Staatssekretär (Minister) 1918-20 sowie als Direktor der Wiener AK und Abgeordneter zum NR 1920-23 beleuchten. Sie dient (hoffentlich) dem besseren Verständnis des Wahlrechts, auf dessen Grundlage Hanusch zum Abgeordneten gewählt wurde, seiner rechtspolitischen Tätigkeit im Sozialbereich und der Vorbereitung einer tiefer schürfenden Studie über Hanusch‘ parlamentarische Aktivitäten.
Die politische Laufbahn von Ferdinand Hanusch begann mit 24 Jahren, als sich der Weberssohn im Jahr 1891 der Arbeiterbewegung anschloss. Bereits im Oktober 1897 amtierte er als Gewerkschafts- und Parteisekretär in Sternberg. 1900 stieg er zum Sekretär der neugeschaffenen Union der Textilarbeiter in Wien auf. Von da an konnte er auf seinen zahlreichen Reisen fast die gesamte Donaumonarchie kennen lernen und eine umfassende Organisations- und Informationstätigkeit entfalten. Dieses Talent und seine Erfahrung im Aufbau von staatlichen, halbstaatlichen und politischen Entitäten zur Interessenvertretung (ua Gewerkschaften, Betriebsräte, Arbeiterkammer) wurden Hanusch später nützlich, als er in den Kabinetten des Staatskanzlers Renner Verantwortung übernehmen konnte, als er ein besonders wichtiges Staatsamt leitete. Immerhin stand die „Sozialisierung“ auf dem Programm nicht nur der nach den Februarwahlen 1919 installierten Regierung Renner, sondern einer klaren Mehrheit in der KNV, der sich auch die Christlichsozialen anschlossen. Einen Antrag auf Bildung einer staatlichen Sozialisierungskommission stellte füglich der letzte k.k. Sozialminister und nachmalige Bundeskanzler Ignaz Seipel am 15.3.1919 in der KNV.* Ministerpräsident war von 27.10. bis 11.11.1918 der Staatsrechtsprofessor Heinrich Lammasch, Finanzminister Josef Redlich, Innenminister Edmund von Gayer und Justizminister der spätere VfGH-Präsident Paul (von) Vittorelli.
Hanusch griff laut Biografen* bereits in seiner politischen Lehrzeit in zahlreiche Lohnkämpfe ein und setzte Verbesserungen mit Bezug auf die Arbeitszeit und die Gestaltung der Arbeitsverträge durch. Das BetriebsräteG 1919 konnte bereits auf „kollektive“ Verträge verweisen. Ab 1903 war er Mitglied des Vorstands der Österreichischen Gewerkschaftskommission und nahm regelmäßig an den Kongressen der Textilarbeiterinternationale teil. Vier Jahre später, im Mai 1907, wurde er Mitglied des AH im RR. Auf dieses Ereignis, seine Wiederwahl 1911 und seine Tätigkeit in den Parlamenten der k.k. Reichshälfte von Österreich-Ungarn (Cisleithanien), der Republik Deutschösterreich und der Republik Österreich* soll im Folgenden näher eingegangen werden.
Wie auch sein aus dem Südmährischen stammender Kollege Karl Renner kandidierte Ferdinand Hanusch mit Erfolg bei den Reichsratswahlen 1907 und 1911. Von Interesse erscheint, dass er nicht in seiner schlesischen Heimat und auch nicht in Niederösterreich, sondern in einem böhmischen Wahlbezirk kandidierte und gewählt wurde. Historisch wird seine Wahl recht ungenau umschrieben. Laut dem Österreichischen Biographischen Lexikon (ÖBL) (1958) gehörte er „seit Einführung des allgemeinen Wahlrechtes“ (1907) dem RR als sozialdemokratischer Abgeordneter eines „deutschböhmischen Wahlkreises“ (recte Wahlbezirks) an.
Gegen die in historischen Darstellungen verwendeten Begriffe sind aus rechtswissenschaftlicher Sicht Einwände zu erheben. Allgemein war das Wahlrecht erst ab 1918, da 1907 keine Frauen wahlberechtigt waren; die „Allgemeinheit“ bezieht sich 1907 auf den Wegfall der Mindeststeuerleistung (Zensus), auf die Wahlrechts-Gleichheit, auf den Wegfall der Kurien sowie auf ein gesetzlich hinsichtlich des Procedere durchdachtes und genau determiniertes Mehrheitswahlrecht in Einer- oder Zweierwahlkreisen (letztere gab es nur in Galizien). Anders als in allen republikanischen Wahlordnungen ab 1918/19 amtierten bei der Wahl des AHRR sogenannte Wahlkommissäre als monokratische Organe, wogegen die Nationalratswahlordnung (NRWO) und die Wahlordnung zur konstituierenden Nationalversammlung (WKNV) 1918/19 sowie die Wahlordnung für die Nationalversammlung (WNV) 1920 (und ihr folgend die NRWO 1923) bereits die nach Proporz zusammengesetzten, kollegialen Wahlbehörden vorsahen. Dieses auf Renners Vorschlag zurückgehende System hat sich wegen des Mehraugenprinzips und den zumeist (Ausnahme Kleingemeinden mit einer klaren Parteienmehrheit) von mehreren Parteien beschickten Wahlbehörden bis heute bewährt.
„Deutschböhmisch“ umschreibt die geografische Lage des Wahlbezirks* (Kratzau) in Deutschböhmen, der im Nordosten des bevölkerungsreichsten Kronlands lag. Das Königreich Böhmen entsandte nicht weniger als 130 Abgeordnete in den RR; demnach waren ein Viertel der über 500 Abgeordneten im AHRR böhmischer Herkunft, hatten aber unterschiedliche 447 ethnische Wurzeln. In der k.u.k. Monarchie war der später gebräuchliche Begriff „Sudetenland“ unüblich, die deutschsprachige Bevölkerung lebte in Südböhmen, Deutschböhmen, in Südmähren und in Sprachinseln wie Iglau oder Olmütz. Aus dem kleinen Österreichisch-Schlesien, das nur 15 Abgeordnete in das AHRR entsandte, stammten einige prominente Politiker und Wirtschaftsfachleute.* Am Rande ist darauf hinzuweisen, dass der Name Hanuschslawischen Ursprungs ist und auch mit einem „š“ am Ende in der ČSR vorkommt. Hanusch wurde ungeachtet seiner proletarischen Herkunft als deutschsprechender Böhme sozialisiert und als solcher auch von den Tschechen angesehen. In aller Regel hatte ein Kandidat für ein Abgeordnetenmandat in einem gemischtsprachigen böhmischen Wahlbezirk nur dann eine Chance, wenn er der ethnischen Mehrheit angehörte. Denn in Böhmen bestand anders als in Mähren kein nationaler Kataster,* dh deutschböhmische und tschechische Wahlbezirke waren nicht voneinander getrennt. Auf Grund der internationalistischen Ausrichtung der Sozialdemokratie hatten aber Kandidaten der SDAP womöglich eine Chance, anderssprachige Wähler aus politisch-ideologischen Gründen zu finden, wogegen deutsch- und tschechisch nationale Kandidaten kaum gegen die jeweilige Mehrheitsbevölkerung reüssieren konnten. Falls es aber zu Stichwahlen kam, wurden die Karten neu gemischt; so erhielt zB der „deutschfortschrittliche“ Kandidat Josef Redlich in Göding (Mähren) in der Stichwahl viele sozialdemokratische „Leihstimmen“. Er blieb auch in seiner Abgeordnetentätigkeit gegenüber Renner konziliant, später auch gegenüber Seipel, der sein Ministerkollege 1918 war,* während Redlich von den Großdeutschen und Nationalen immer mehr angefeindet wurde. Diese wollten auch die Mission zu den Österreich gegenüber hilfsbereit eingestellten amerikanischen Politikern Hoover und Coolidge verhindern.
Die Aktivitäten Hanusch‘ im AHRR sind noch nicht systematisch bzw vollständig erschlossen. Doch liefern Berchtold und Mulley wertvolle Hinweise über jene Vorarbeiten, die Hanusch noch im AHRR leistete und die dann rasch ab Dezember 1918 umgesetzt wurden. Dazu zählen die Reden Hanusch‘ für den 8-Stunden-Tag und gegen das diskriminierende Arbeitsbuch.* Im Rahmen der Kriegswirtschaft erreichte Hanusch dann außer der Neuregelung vieler Lohnklassen eine gesetzliche Unterstützung arbeitslos gewordener Textilarbeiter (1916) und die sechsstündige Arbeitszeit am Samstag (1918). Allerdings war das AH des RR von Sommer 1914 bis ins Frühjahr 1917, als Kaiser Karl I. den Reichsrat wieder einberief und eine Amnestie erließ, lahmgelegt.
Als deutschsprachiger Abgeordneter eines von der Republik Deutschösterreich beanspruchten Gebiets verblieb Hanuschzunächst als ehemaliges Reichsratsmitglied in der PrNV, die sich am 21.10.1918 im niederösterreichischen Landhaus versammelte. So wie die anderen „deutschen“ Reichsratsabgeordneten leitete sich seine demokratische Legitimation noch von den Wahlen 1911 ab, weshalb die PrNV ehestmöglich Wahlen ankündigte.* Diese waren für den Januar 1919 vorgesehen, konnten aber erst am 16.2.1919 stattfinden. Die Wahlen fanden auf Grundlage der WahlO für die KNV (WKNV) statt, die von Karl Renners Ideen inspiriert war. Renner beharrte entgegen Vorschlägen von Kelsen und anderen Rechtsexperten auf der Beibehaltung (bzw Schaffung) von „historisch gewachsenen“ Wahlkreisen. Hier kandidierte Hanusch im Wahlkreis Nr 10, benannt „Viertel oberm Manhartsberg“, im heutigen Bezirk bzw Regionalwahlkreis Krems und Krems-Umgebung.* Nach der WKNV mussten die wahlwerbenden Gruppen die KandidatInnen in Form von Kreiswahlvorschlägen bei der Kreiswahlbehörde anmelden; da sich in dem Wahlkreis Nr 10 über 300.000 Wähler befanden und acht Mandate zu vergeben waren,* konnte die SDAP fix mit einem Erfolg im (einzigen) Ermittlungsverfahren rechnen. 448
Hanusch befand sich daher auf einer sicheren, niederösterreichischen „Bank“, die ihn bei den ersten allgemeinen Wahlen der Republik in die KNV beförderte.* Seine Tätigkeit als Staatssekretär für soziale Verwaltung und Fürsorge ist reichlich dokumentiert und wird an dieser Stelle nicht im Detail beleuchtet (siehe aber die Einleitung oben und die Übersicht im Folgekapitel). Gemeinsam mit seinem Unter-Staatssekretär Julius Tandler (Anatomieprofessor an der Universität Wien) deckte Hanusch auch den Bereich Volksgesundheit ab, wobei daran erinnert werden soll, dass damals die Spanische Grippe pandemisch vorherrschte und die Bevölkerung Hunger litt.* Das Hanusch-Krankenhaus erinnert neben dem Republikdenkmal (errichtet 1928) und der Hanuschgasse* im ersten Wiener Gemeindebezirk an das breite und segensreiche Wirken des Politikers.
Am 22.10. lief die Regierungsbeteiligung von Hanusch aus, nachdem sich das Kabinett Mayr I auflöste. Der neue Regierungschef und Bundeskanzler hieß nach dem christlichsozialen Sieg bei den NR-Wahlen vom 17.10.1920 – für einige Beobachter eher überraschend – wieder Michael Mayr, nachdem es Schober nicht gelungen war, eine Regierung zu bilden.* Bis zu seinem Tod am 28.9.1923 betätigte sich Hanusch sowohl als Abgeordneter im NR als auch als Direktor der AK Wien. Dort geht auch die Gründung der wissenschaftlich und volksbildnerisch überaus wertvollen Studienbibliothek auf seine Initiative zurück. Biografisch wird berichtet, dass Hanusch der KNV für einen Kremser Wahlkreis, dem NR aber für Graz angehörte. Der so angesprochene Wahlkreis war das „Viertel oberm Manhartsberg“ (wie es im Anhang zur WKNV lautet*). Es ist hilfreich zu wissen, dass unter dem 1918/19 eingeführten Proportionalwahlrecht für die Wahl der KNV* am 16.2.1919 nur ein Ermittlungserfahren stattfand. Demnach gab es bei der ersten republikanischen Wahl kein zweites Ermittlungsverfahren (und umso weniger einen Proportionalausgleich); daher kann diese Bezeichnung so stehen bleiben, dass ein Abgeordneter „seinen“ Wahlkreis vertrat, obwohl in einer bis heute währenden Tradition die Bildung der Kandidatenliste Sache der Wahlparteien ist. Der SDAP war es dabei an der Jahreswende 1918/19 sicherlich ein Anliegen, den bereits als Staatssekretär amtierenden Ferdinand Hanusch an wählbarer Stelle zu positionieren. Doch dessen ursprünglicher Wahlbezirk gehörte nicht mehr der Republik an, bzw es konnte in den von Deutschösterreich beanspruchten Gebieten, die auf dem Boden der ČSR lagen, de facto nicht mehr gewählt werden. So wurden nur 159 Abgeordnete, darunter Hanusch, gewählt, später elf Abgeordnete aus Südtirol und der Südsteiermark zusätzlich „einberufen“.* Gegen die Einberufung von böhmischen Abgeordneten, die in der Wahlordnung allgemein vorgesehen war, sprachen sich Renner und seine Freunde aus, weil sonst ein Gutteil der Mitglieder der KNV der demokratischen Legitimation der Wahl entbehrt hätte. Die SDAP erstellte daher zunächst keine Vorschläge im Staatsrat, in der KNV selbst kam es zum oben skizzierten Kompromiss.*
Anders als heute verblieben die Regierungsmitglieder auch als Abgeordnete in der KNV; nachdem die Koalitionsregierung des Kabinetts Renner/Fink im Juni scheiterte, schieden die sozialdemokratischen Staatssekretäre aus. Die Staatskanzlei führte ab Juli 1920 der christlichsoziale, aus OÖ stammende und in Innsbruck lehrende Historiker Michael Mayr, der ein Übergangskabinett mit mehreren Experten bildete, darunter dem evangelischen Beamten Walter Breisky, der später nur einen Tag als Bundeskanzler amtierte, aber, was schlimmer und weniger bekannt ist, in der NS-Ära von der Gestapo drangsaliert und in den Selbstmord getrieben wurde. Mayr wurde nach den für die christlichsoziale Partei erfolgreichen NR-Wahlen vom 17.10.1920 der erste österreichische Bundeskanzler, er bildete eine Regierung nach ähnlichem Muster wie das Kabinett im Sommer 1920, Hanusch schied aus der Regierung und dem Ministerium (nunmehr BM für soziale Verwaltung) aus, war aber als Experte parteiübergreifend weiter gefragt. So nimmt es nicht Wunder, dass sich Hanusch in dieser Ära mit Erfolg (wieder) auf die parlamentarische Arbeit konzentrierte. Da bei den NR-Wahlen ein zweites Ermittlungsverfahren stattfand, war die Zuordnung zu Wahlkreisen nicht mehr so einfach möglich, aber Tatsache ist, dass Hanusch auf einem „steirischen“ Mandat in den NR kam und dort auch konstruktiv weiterwirkte. So leitete er den Sozialausschuss im 449 neu benannten Parlament, das nun auf Basis des B-VG einen NR und BR im Zweikammernsystem aufwies. Es ist lohnend, die Parlamentsdebatten und Publikationen der Jahre 1920-23 näher zu studieren.
Auffallend ist der zunehmend gehässige Stil, der viele NR-Debatten überschattete. Besonders auffällig sind die Kontroversen rund um die Volkswehr, die Wahl der Soldatenräte, über die Wehrmacht und später hinsichtlich des Bundesheeres. War schon die Debatte über die Wahl der Soldatenräte ausschlaggebend für das Ende der Koalition im Juni 1920,* so zeigten sich in einer Debatte zum Verhalten einzelner Bundesheeroffiziere aus dem Juni 1923 bereits wieder tiefe Gräben zwischen dem Heeresminister Vaugoin und seinem Vorgänger Dr. Julius Deutsch, aber auch Scharmützel zwischen den einzelnen Abgeordneten, die tief ins Persönliche reichten.* Hingegen blieb Hanusch sachpolitisch orientiert und bemühte sich, die noch nicht abgearbeiteten Vorlagen (zB über die Invalidenversicherung) durch die Arbeit im Sozialausschuss, den er präsidierte, voranzubringen.*) Wie die Arbeiter-Zeitung anlässlich seines frühen Todes (28.9.1923) am 29.9.1923 berichtete,* gelang es nicht, diese rechtspolitisch wichtigen Anliegen noch zu Lebzeiten in Gesetzesform gießen zu lassen. Das betrachtet der Verfasser des Nachrufs, der Hanusch würdigt, als Aufgabe für die „Zukunft“, in der allerdings in den verbleibenden zehn Jahren der demokratischen Ersten Republik soziale Anliegen zunehmend ins Hintertreffen gerieten.
Anmerkung des Autors:
Für Mitarbeit und wertvolle Hilfe bei der Materialsuche und Abfassung des Artikels danke ich Herrn Mag. Bernhard Böhmvom Institut für Staats- und Verwaltungsrecht. Besonderen Dank schulde ich Frau Martina Pichler und Herrn Dr. Klaus-Dieter Mulley von der AK für die wissenschaftliche Unterstützung, den Horizont erweiternde Hinweise auf lesenswertes Schrifttum und die Zusammenarbeit. Danken möchte ich auch Herrn RA Ulrich Fischer (Frankfurt), dem Buchfreund, Autor (Arbeitsrechts- und Kafka-Experten) und erfolgreichen Advokaten, der mich auf das Thema gebracht hat. 450