UlberVorgaben des EuGH zur Arbeitszeiterfassung

Bund Verlag, HSI-Schriftenreihe, Bd 32, Frankfurt am Main 2020, 115 Seiten, kartoniert, € 19,80

DIANANIKSOVA (SALZBURG)

Im vorliegenden Werk setzt sich Daniel Ulber, Professor für Bürgerliches Recht, Unternehmensrecht und Arbeitsrecht an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, ausführlich mit der viel diskutierten EuGH-EC-55/18, CCOO/Deutsche Bankvom 14.5.2019 auseinander. In der Rs CCOO/Deutsche Bank hat der EuGH entschieden, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, dafür zu sorgen, dass die AG ein objektives, verlässliches und zugängliches System einrichten, mit dem die tägliche Arbeitszeit der AN gemessen werden kann. Andernfalls könne die praktische Wirksamkeit der durch Art 31 Abs 2 GRC und Art 3, 5 und 6 Arbeitszeit-RL 2003/88 verliehenen Rechte nicht sichergestellt werden. Die EuGH-E hat in vielen Mitgliedstaaten, die zum Zeitpunkt der Entscheidung keine umfassende Pflicht zur Arbeitszeiterfassung vorgesehen haben – vor allem auch in Deutschland –, medial große Wellen geschlagen. Das vorliegende Buch enthält eine profunde Analyse der EuGH-E und deren Auswirkungen auf die deutsche Rechtslage.

Die Untersuchung ist in sieben Kapitel gegliedert. Nach der Einleitung in Kapitel I (S 13-14), setzt sich Ulber in Kapitel II (S 15-29) zunächst mit der Frage auseinander, wie der EuGH die Verpflichtung der AG, ein objektives, verlässliches und zugängliches System der Arbeitszeiterfassung einzuführen, methodisch herleitet. Eine solche Verpflichtung ist nämlich vom Wortlaut der Arbeitszeit-RL nicht ausdrücklich gedeckt. Art 3, 5 und 6 der Arbeitszeit-RL schreiben vor, dass die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen treffen, damit jedem AN eine tägliche Ruhezeit von elf Stunden und eine wöchentliche Ruhezeit von 35 (24+11) Stunden gewährt wird und damit die durchschnittliche wöchentliche Höchstarbeitszeit von 48 Stunden nicht überschritten wird. Weder die Vorschriften noch die Erwägungsgründe der Arbeitszeit-RL sehen aber dem Wortlaut nach ausdrücklich eine Pflicht zur Arbeitszeiterfassung vor. In der Literatur wurde dem EuGH daher zum Teil vorgeworfen, in der Rs CCOO/Deutsche Bank Rechtsfortbildung betrieben zu haben. Ulber bezieht zu diesem Problem Stellung und arbeitet heraus, dass die E des EuGH seiner Ansicht nach methodisch durchaus vertretbar sei. Die E lasse sich sehr wohl auf den Wortlaut der Arbeitszeit-RL zurückführen, weil diese in Art 3, 5 und 6 „erforderliche Maßnahmen“ verlange. Der EuGH lege in der E genauer aus, welche Maßnahmen in diesem Sinne erforderlich seien. Der Autor pflichtet der Kritik in der Literatur aber bei, dass eine bessere Anbindung an den Wortlaut der Arbeitszeit-RL wünschenswert gewesen wäre, weil der EuGH sehr konkrete und weitreichende Vorgaben aus der RL ableite. Neben dem Wortlaut der Arbeitszeit-RL untersucht Ulber auch andere Begründungsansätze des EuGH, die den Gerichtshof dazu veranlasst haben, eine Pflicht zur Arbeitszeiterfassung einzuführen – allen voran das effet utile-Argument und den Gesundheitsschutz – und leitet daraus unterschiedliche Anforderungen ab, die ein solches Arbeitszeiterfassungssystem erfüllen muss.

In Kapitel III (S 30-58) analysiert der Autor im Detail, was unter einem „objektiven, verlässlichen und zugänglichen System der Arbeitszeiterfassung“ iSd EuGH-Rsp zu verstehen ist. Die Literaturmeinungen sind im Hinblick auf die Interpretation dieser Begriffe gespalten. Ulber betont zunächst, dass der Adressat der Verpflichtung der AG sei. Eine Übertragung der Pflichten auf den AN sei nicht zulässig. Das wird jedoch im Schrifttum zum Teil anders gesehen. Vor allem im österreichischen Recht wird eine Delegation der Arbeitszeitaufzeichnungen auf den AN gem § 26 Abs 2 öAZG auch nach der EuGH-E CCOO/Deutsche Bank vom überwiegenden Teil der Literatur zu Recht weiterhin für zulässig erachtet. Zwar betont der EuGH, die Mitgliedstaaten müssten die AG verpflichten, ein Arbeitszeiterfassungssystem einzuführen. Das bedeutet aber nicht, dass AG nicht ein System einrichten können, bei dem die AN die Aufzeichnungen führen, wenn die AN die tatsächliche Arbeitszeit aufzeichnen und – so wie es im österreichischen Recht vorgesehen ist – die AG die AN zur Aufzeichnung der tatsächlichen Arbeitszeit anleiten, sich die Aufzeichnungen aushändigen lassen und diese kontrollieren müssen (ausführlich dazu Niederfriniger, JAS 2019, 389 [406]; Niksova, DRdA 2020, 236 [240 f mwN]).

Das Kriterium der „Objektivität“ setzt Ulber zufolge voraus, dass es sich um ein technisches System der Arbeitszeitaufzeichnung handeln müsse. Händische Erfassungssysteme, die durch den AN alleine auf einem Zettel vorgenommen werden, seien nicht objektiv, weil die Zeitangabe des AN dann lediglich auf seiner subjektiven Einschätzung basiere. Auch dieses Argument wurde in der Literatur unterschiedlich bewertet, weil selbst technische Systeme der Arbeitszeiterfassung von subjektiven Einflüssen des AN nicht gänzlich frei sind. So entscheidet etwa der AN selbst, zu welchem Zeitpunkt er eine Stechuhr aktiviert, ob er sich davor oder danach umzieht, oder ob er nach dem „Ausstechen“ die Arbeit nach Hause mitnimmt und zu Hause weiterarbeitet (Niksova, DRdA 2020, 236 [240 f mwN]). Ulber hält solche „Mitwirkungshandlungen“ des AN zwar für unproblematisch, solange der Erfassungsvorgang selbst durch ein technisches Erfassungssystem objektiviert werde; bei händischen Aufzeichnungen sei allerdings der Erfassungsvorgang nicht objektiv, weshalb sie seiner Meinung nach unionsrechtwidrig seien.

Zur Verlässlichkeit arbeitet Ulber treffend heraus, dass das System der Arbeitszeitaufzeichnung so weit wie möglich gegen Manipulation gesichert sein muss. Wenngleich wohl kein System der Arbeitszeiterfassung zu 100 % manipulationssicher sei, müssten die Systeme die Manipulation zumindest strukturell erschweren. Auch im Hinblick auf die Zugänglichkeit ist Ulber zuzustimmen, dass das System der Arbeitszeiterfassung dem AN als Beweismittel dienen soll, ferner aber auch AG, Arbeitsschutzbehörden und betriebliche Interessenvertretungen Zugriff auf die erfassten Zeiten haben müssen.

Nach ausführlicher Abhandlung der unionsrechtlichen Grundlagen in den Kapiteln I-III widmet sich der 459 Autor in den darauffolgenden Kapiteln IV (S 59-61), V (S 62-83) und VI (S 84-110) den Auswirkungen der EuGH-E auf die deutsche Rechtslage. Ulber untersucht zunächst die geltende Rechtslage in Deutschland im Hinblick auf die Arbeitszeiterfassung, bevor er in einem nächsten Schritt auf die Umsetzungspflicht des deutschen Gesetzgebers de lege ferenda eingeht. In Kapitel VII (S 111-113) werden die wichtigsten Ergebnisse thesenartig zusammengefasst.

Insgesamt ist es dem Autor hervorragend gelungen, das Urteil des EuGH tiefgründig und systematisch aufzuarbeiten. Das Werk ist sehr gut aufbereitet und äußerst verständlich geschrieben. Es bietet einen ausgezeichneten Überblick über die zahlreichen Probleme, die die EuGH-E aus europarechtlicher und deutscher Sicht aufwirft. Da die EuGH-E aber nicht nur auf die deutsche, sondern auch auf die österreichische Rechtslage Auswirkungen hat – insb auch im Hinblick auf die derzeit viel diskutierte Frage der Arbeitszeitaufzeichnungen im Homeoffice und der Unionsrechtskonformität des § 26 Abs 3 öAZG –, ist das Buch nicht nur deutschen, sondern auch österreichischen ArbeitsrechtlerInnen mit Nachdruck zu empfehlen. Auf der Homepage des Hugo-Sinzheimer-Instituts (https://www.hugo-sinzheimer-institut.de/faust-detail.htm?sync_id=8857https://www.hugo-sinzheimer-institut.de/faust-detail.htm?sync_id=8857) ist das Werk im Übrigen in elektronischer Form auch kostenlos verfügbar.