37Reichweite der A1-Bestätigung nur für Sachverhalte der sozialen Sicherheit
Reichweite der A1-Bestätigung nur für Sachverhalte der sozialen Sicherheit
Die Bescheinigungen E101 und A1, die von dem zuständigen Träger eines Mitgliedstaats ausgestellt wurden, sind für die Gerichte des letztgenannten Mitgliedstaats nur hinsichtlich der sozialen Sicherheit bindend.
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24 Nachdem Bouygues, eine Gesellschaft mit Sitz in Frankreich, im Rahmen eines Ausschreibungsverfahrens für den Bau eines Kernreaktors der neuen Generation, eines Druckwasserreaktors (sogenannter „EPR“), in Flamanville (Frankreich) Aufträge erhalten hatte, bildete sie für die Durchführung dieser Aufträge zusammen mit zwei weiteren Unternehmen eine Beteiligungsgesellschaft. Diese vergab die Aufträge an eine wirtschaftliche Interessengemeinschaft als Unterauftragnehmerin weiter, an der ua Welbond, eine ebenfalls in Frankreich ansässige Gesellschaft, beteiligt war. Diese Interessengemeinschaft bediente sich ihrerseits zum einen weiterer Unterauftragnehmer, darunter Elco, einer in Rumänien ansässigen Gesellschaft, und zum anderen der Atlanco Ltd, eines Leiharbeitsunternehmens mit Sitz in Irland, das über eine Tochtergesellschaft in Zypern und ein Büro in Polen verfügte.
25 Nach einer Beschwerde über die Bedingungen der Unterbringung ausländischer AN, einer Streikbewegung polnischer Leih-AN wegen fehlender oder unzureichender sozialer Absicherung bei einem Unfall und dem Bekanntwerden von mehr als 100 nicht gemeldeten Arbeitsunfällen sowie einer Untersuchung der Autorité de sûreté nucléaire (ASN) (Behörde für nukleare Sicherheit, Frankreich) und sodann der Polizei wurden die Gesellschaften Bouygues, Welbond und Elco wegen Vorfällen in der Zeit von Juni 2008 bis Oktober 2012 strafrechtlich verfolgt, wobei den beiden erstgenannten Gesellschaften insb die Inanspruchnahme von Dienstleistungen von Schwarzarbeitern und unerlaubte Überlassung von AN zur Last gelegt wurden und der letztgenannten Schwarzarbeit.
26 Mit Urteil vom 20.3.2017 bestätigte die Cour d‘appel de Caen (Berufungsgericht Caen, Frankreich) teilweise das Urteil der Strafkammer des Tribunal d‘instance de Cherbourg (erstinstanzliches Gericht Cherbourg, Frankreich) vom 7.7.2015 und befand Elco des Straftatbestands der Schwarzarbeit für schuldig, weil Elco es unterlassen habe, AN vor ihrer Einstellung namentlich anzumelden und Lohn- und Sozialabgabenerklärungen bei den für die Einziehung von Sozialversicherungsbeiträgen und -abgaben zuständigen Stellen einzureichen. Elco habe nämlich in Frankreich gewöhnlich eine dauerhafte und fortgesetzte Tätigkeit ausgeübt und könne sich daher nicht auf das Entsenderecht berufen. Hierzu stellte das Berufungsgericht fest, dass die überwiegende Mehrheit der betroffenen AN von Elco erst kurz vor der Abreise zu dem alleinigen Zweck eingestellt worden sei, nach Frankreich geschickt zu werden, wobei die meisten von ihnen noch nicht oder erst seit kurzem für Elco gearbeitet hätten, dass die Tätigkeit von Elco in Rumänien gegenüber ihrer Tätigkeit in Frankreich nur noch von untergeordneter Bedeutung gewesen sei, dass die Personalverwaltung hinsichtlich der betroffenen AN nicht in Rumänien erfolgt sei und dass einige Entsendungen 24 Monate überschritten hätten.
27 Die Gesellschaften Bouygues und Welbond befand das Berufungsgericht des Straftatbestands der Schwarzarbeit hinsichtlich der Inanspruchnahme der von der Gesellschaft Atlanco zur Verfügung gestellten AN sowie des Straftatbestands der unerlaubten Überlassung von AN für schuldig. Hierzu stellte es zunächst fest, dass Bouygues und Welbond über die zyprische Tochtergesellschaft von Atlanco und ein Büro dieser Tochtergesellschaft in Polen polnische Leih-AN eingestellt hätten und diese einen in griechischer Sprache verfassten Vertrag unterschreiben lassen hätten, um sie auf Vermittlung durch zwei in Dublin (Irland) ansässige und in Frankreich arbeitende Mitarbeiter dieser Tochtergesellschaft französischen Unternehmen zur Verfügung zu stellen. Ferner sei diese Tochtergesellschaft in Frankreich nicht im Handels- und Gesellschaftsregister eingetragen und weder in Zypern noch in Polen tätig gewesen. Schließlich hätten Bouygues und Welbond zwar von Atlanco die Dokumente, insb die Bescheinigungen E101 und A1 für die polnischen Leih-AN auf der Baustelle in Flamanville angefordert, hätten diese AN jedoch weiter beschäftigt, ohne diese Dokumente vollständig erhalten zu haben.
28 Bouygues, Elco und Welbond legten gegen das Urteil der Cour d‘appel de Caen (Berufungsgericht Caen) vom 20.3.2017 Rechtsmittel bei der Cour de cassation (Kassationshof, Frankreich) ein und machten ua geltend, das Berufungsgericht habe die Wirkungen der den betreffenden AN ausgestellten Bescheinigungen E101 und A1 verkannt.
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30 Das vorlegende Gericht weist jedoch darauf hin, dass im vorliegenden Fall AG insb auf der Grundlage von Art L 8221-3 und L 8221-5 des Arbeitsgesetzbuchs wegen Schwarzarbeit angeklagt seien, weil sie es nicht nur verabsäumt hätten, die Lohn- und Sozialabgabenerklärungen bei den für die Einziehung von Sozialversicherungsbeiträgen und -abgaben zuständigen Stellen einzureichen, sondern auch die AN vor ihrer Einstellung namentlich anzumelden, und dass zwei Gesellschaften, Bouygues und Welbond, insb auf der Grundlage von Art L 8221-1 des Arbeitsgesetzbuchs wegen Inanspruchnahme 392 von AN angeklagt seien, die von einer Gesellschaft beschäftigt worden seien, der ein Verstoß gegen eben diese Pflichten vorgeworfen werde.
31 Daher stelle sich die Frage, ob sich die Wirkungen, die an die im vorliegenden Fall gem Art 14 Nr 1 Buchst a und Nr 2 Buchst b der VO Nr 1408/71 bzw nach Art 13 Abs 1 der VO Nr 883/2004 ausgestellten Bescheinigungen E101 und A1 hinsichtlich der Bestimmung der für das System der sozialen Sicherheit und die Erklärungen des AG an die Sozialversicherungsträger geltenden Rechtsvorschriften geknüpft seien, auch auf die Bestimmung der geltenden arbeitsrechtlichen Vorschriften und der sich aus der Anwendung des Arbeitsrechts des Staates, in dem die von diesen Bescheinigungen erfassten AN ihre Arbeit verrichteten, ergebenden Pflichten des AG, insb auf die von diesem vor der Einstellung dieser AN vorzunehmenden Meldungen erstrecken.
32 Vor diesem Hintergrund hat die Cour de cassation (Kassationshof) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Sind Art 11 der VO Nr 574/72 und Art 19 der VO Nr 987/2009 dahin auszulegen, dass eine Bescheinigung E101, die vom durch die zuständige Behörde des Mitgliedstaats bezeichneten Träger nach Art 14 Nr 1 und Nr 2 Buchst b der VO Nr 1408/71 ausgestellt wurde, oder eine Bescheinigung A1, die nach Art 13 Abs 1 der VO Nr 883/2004 ausgestellt wurde, die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem die Arbeit ausgeführt wird, nicht nur bei der Bestimmung der für das System der sozialen Sicherheit geltenden Rechtsvorschriften, sondern auch bei der Bestimmung der geltenden arbeitsrechtlichen Vorschriften bindet, wenn diese Rechtsvorschriften die Pflichten der AG und die Rechte der AN festlegen, so dass diese Gerichte diese Bescheinigungen nach der kontradiktorischen Erörterung nur außer Acht lassen können, wenn sie aufgrund der Beurteilung der im Rahmen der gerichtlichen Prüfung gesammelten konkreten Beweise, die die Feststellung erlaubt haben, dass die Bescheinigungen betrügerisch erlangt oder geltend gemacht wurden und dass der ausstellende Träger es unterlassen hat, dies innerhalb einer angemessenen Frist zu berücksichtigen, von einem Betrug ausgehen, dessen objektives Element in der Nichterfüllung der Voraussetzungen gemäß den jeweiligen oben genannten Vorschriften der Verordnungen Nr 574/72 bzw Nr 987/2009 besteht und dessen subjektives Element in der Absicht der angeklagten Person besteht, die Voraussetzungen für die Ausstellung dieser Bescheinigung zu umgehen, um den damit verbundenen Vorteil zu erlangen?
Zur Vorlagefrage
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37 Nach stRsp des Gerichtshofs sollen die Bescheinigungen E101 und A1 – ebenso wie die materiellrechtliche Regelung in Art 14 Nr 1 Buchst a und Nr 2 Buchst b der Verordnung Nr 1408/71 sowie Art 12 Abs 1 und Art 13 Abs 1 der VO Nr 883/2004 – die Freizügigkeit der AN und die Dienstleistungsfreiheit fördern (vgl in diesem Sinne Urteil vom 6.2.2018, Altun ua, C-359/16, EU:C:2018:63, Rn 35 und die dort angeführte Rsp).
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39 Wegen des Grundsatzes, dass die AN einem einzigen System der sozialen Sicherheit angeschlossen sein sollen, haben diese Bescheinigungen damit notwendig zur Folge, dass die Systeme der sozialen Sicherheit der anderen Mitgliedstaaten keine Anwendung finden können (vgl in diesem Sinne Urteil vom 6.2.2018, Altun ua, C-359/16, EU:C:2018:63, Rn 36 und die dort angeführte Rsp).
40 Nach dem in Art 4 Abs 3 EUV niedergelegten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit, der auch den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens umfasst, sind die Bescheinigungen E101 und A1, da sie eine Vermutung dafür begründen, dass der Anschluss des betreffenden AN an das System der sozialen Sicherheit des Mitgliedstaats, dessen zuständiger Träger sie ausgestellt hat, ordnungsgemäß ist, für den zuständigen Träger und die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem dieser AN eine Arbeit ausführt, bindend (vgl in diesem Sinne Urteile vom 6.2.2018, Altun ua, C-359/16, EU:C:2018:63, Rn 37 bis 40, und vom 6.9.2018, Alpenrind ua, C-527/16, EU:C:2018:669, Rn 47).
41 Solange diese Bescheinigungen nicht zurückgezogen oder für ungültig erklärt werden, hat deshalb der zuständige Träger des Mitgliedstaats, in dem der AN eine Arbeit ausführt, dem Umstand Rechnung zu tragen, dass dieser AN bereits dem Recht der sozialen Sicherheit des Mitgliedstaats unterliegt, dessen Träger diese Bescheinigungen ausgestellt hat; er kann daher den fraglichen AN nicht seinem eigenen System der sozialen Sicherheit unterstellen (vgl in diesem Sinne Urteil vom 6.2.2018, Altun ua, C-359/16, EU:C:2018:63, Rn 41 und die dort angeführte Rsp).
42 Nach der Rsp des Gerichtshofs ist dies selbst dann der Fall, wenn festgestellt wird, dass die Bedingungen, unter denen der betreffende AN seine Tätigkeit ausübt, offensichtlich nicht in den sachlichen Anwendungsbereich von Titel II der VO Nr 1408/71 und der VO Nr 883/2004 fallen (vgl in diesem Sinne Urteil vom 27.4.2017, A-Rosa Flussschiff, C-620/15, EU:C:2017:309, Rn 61).
43 Wie das vorlegende Gericht zutreffend ausgeführt hat, darf ein Gericht des Aufnahmemitgliedstaats Bescheinigungen E101 nur dann außer Acht lassen, wenn zwei kumulative Voraussetzungen erfüllt sind: Zum einen muss der Träger, der die Bescheinigungen ausgestellt hat, vom zuständigen Träger des Aufnahmemitgliedstaats unverzüglich mit einem Ersuchen um erneute Prüfung, ob die Bescheinigungen zu Recht ausgestellt wurden, befasst worden sein und es unterlassen haben, innerhalb einer angemessenen Frist im Licht der ihm vom letztgenannten Träger übermittelten Anhaltspunkte eine solche erneute Prüfung vorzunehmen und die Bescheinigungen gegebenenfalls für ungültig zu erklären oder zurückzuziehen, und zum anderen müssen die genannten Anhaltspunkte es dem Gericht ermöglichen, unter Beachtung der mit dem Recht auf ein faires Verfahren zusammenhängenden Garantien festzustellen, dass die fraglichen Bescheinigungen auf betrügerische Weise erlangt oder geltend gemacht wurden (Urteil vom 2.4.2020, CRPNPAC und Vueling Airlines, C-370/17 und C-37/18, EU:C:2020:260, Rn 78).393
44 Daraus folgt jedoch, dass die Bescheinigungen E101 und A1 zwar Bindungswirkung haben, diese sich aber auf die Verpflichtungen beschränkt, die sich aus den nationalen Rechtsvorschriften im Bereich der sozialen Sicherheit, die von der durch die Verordnungen Nr 1408/71 und Nr 883/2004 bewirkten Koordinierung erfasst sind, ergeben (vgl in diesem Sinne Urteile vom 4.10.1991, De Paep, C-196/90, EU:C:1991:381, Rn 12, und vom 9.9.2015, X und van Dijk, C-72/14 und C-197/14, EU:C:2015:564, Rn 39).
45 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach Art 1 Buchst j der VO Nr 1408/71 und Art 1 Buchst l der VO Nr 883/2004 für die Zwecke der Anwendung dieser Verordnungen der Begriff „Rechtsvorschriften“ das Recht der Mitgliedstaaten in Bezug auf die in Art 4 Abs 1 und 2 der VO Nr 1408/71 bzw Art 3 Abs 1 der VO Nr 883/2004 aufgezählten Zweige und Systeme der sozialen Sicherheit umfasst.
46 Im Übrigen liegt nach der Rsp des Gerichtshofs das entscheidende Kriterium für die Anwendung dieser Verordnungen darin, dass zwischen einer bestimmten Leistung und den nationalen Rechtsvorschriften, die diese Zweige und Systeme der sozialen Sicherheit regeln, ein unmittelbarer und hinreichend relevanter Zusammenhang bestehen muss (vgl in diesem Sinne Urteile vom 26.2.2015, de Ruyter, C-623/13, EU:C:2015:123, Rn 23, und vom 23.1.2019, Zyla, C-272/17, EU:C:2019:49, Rn 30).
47 Daraus folgt, dass die vom zuständigen Träger eines Mitgliedstaats ausgestellten Bescheinigungen E101 und A1 den zuständigen Träger und die Gerichte des Aufnahmemitgliedstaats nur insoweit binden, als sie bescheinigen, dass der betreffende AN im Bereich der sozialen Sicherheit für die Gewährung von Leistungen, die in unmittelbarem Zusammenhang mit einem der in Art 4 Abs 1 und 2 der VO Nr 1408/71 sowie Art 3 Abs 1 der VO Nr 883/2004 aufgezählten Zweige und Systeme stehen, den Rechtsvorschriften des ersten Mitgliedstaats unterliegt.
48 Diese Bescheinigungen erzeugen somit keine Bindungswirkung hinsichtlich der Verpflichtungen, die sich aus den nationalen Rechtsvorschriften in anderen Bereichen als der sozialen Sicherheit iS dieser Verordnung ergeben, wie etwa Verpflichtungen, die das Arbeitsverhältnis zwischen AG und AN, insb die Arbeitsbedingungen der AN betreffen (vgl in diesem Sinne Urteil vom 4.10.1991, De Paep, C-196/90, EU:C:1991:381, Rn 13).
49 Zu Wesen und Umfang der im Arbeitsgesetzbuch vorgesehenen Meldung vor der Einstellung, die von den französischen Behörden verlangt wird, was im Ausgangsverfahren eine zentrale Rolle spielt, ist darauf hinzuweisen, dass den Rechtsmittelführerinnen des Ausgangsverfahrens zufolge diese Meldung, auch wenn sie formal im Arbeitsgesetzbuch vorgesehen ist, der Prüfung dient, ob ein AN dem einen oder dem anderen Zweig des Systems der sozialen Sicherheit angeschlossen ist, und folglich die Zahlung der Sozialversicherungsbeiträge in Frankreich sicherstellen soll. Diese Meldung müsse nämlich vom AG bei den Sozialversicherungsträgern abgegeben werden und stelle somit für diese ein Mittel dar, um die Einhaltung der nationalen Vorschriften über die soziale Sicherheit zu überprüfen und damit die Schwarzarbeit zu bekämpfen.
50 Die französische Regierung führt dagegen aus, dass die Meldung vor der Einstellung ein Instrument der Verwaltungsvereinfachung darstelle, das es dem AG ermögliche, mit einem einzigen Vorgang mehrere Formalitäten zu erfüllen, von denen einige zwar die soziale Sicherheit beträfen, die aber keineswegs einen Anschluss an das französische System der sozialen Sicherheit implizierten. Diese Meldung ermögliche es dadurch, dass sie den zuständigen Behörden alle zweckdienlichen Informationen zu dem künftigen Vertragsverhältnis zwischen dem betreffenden AG und dem betreffenden AN liefere, ua zu gewährleisten, dass die nach den nationalen arbeitsrechtlichen Vorschriften vorgeschriebenen Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen eingehalten würden, wenn ein AN, wie im Ausgangsverfahren, nicht iS dieser Vorschriften entsandt, sondern als AN in Frankreich beschäftigt sei. Somit betreffe der vorliegende Rechtsstreit nicht die Zahlung von Sozialversicherungsbeiträgen in diesem Mitgliedstaat, sondern die Frage, ob die Rechtsmittelführerinnen des Ausgangsverfahrens sämtliche französischen arbeitsrechtlichen Vorschriften eingehalten hätten.
51 Es ist daran zu erinnern, dass Art 267 AEUV dem Gerichtshof nicht die Befugnis verleiht, die Normen des Unionsrechts auf einen Einzelfall anzuwenden, sondern nur die, sich zur Auslegung der Verträge und der Rechtsakte der Unionsorgane zu äußern (vgl ua Urteil vom 19.11.2019, A. K. ua [Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des OGH], C-585/18, C-624/18 und C-625/18, EU:C:2019:982, Rn 132 und die dort angeführte Rsp).
52 Der Gerichtshof hat daher weder die dem Ausgangsrechtsstreit zugrunde liegenden Tatsachen festzustellen und daraus die Schlussfolgerungen für die vom vorlegenden Gericht zu erlassende Entscheidung zu ziehen noch die betreffenden nationalen Rechts- oder Verwaltungsvorschriften auszulegen (vgl in diesem Sinne Urteil vom 16.10.2019, Glencore Agriculture Hungary, C-189/18, EU:C:2019:861, Rn 30 und 31).
53 Folglich ist es Sache des vorlegenden Gerichts, festzustellen, ob die im Arbeitsgesetzbuch vorgesehene Pflicht zur Meldung vor der Einstellung ausschließlich bezweckt, den Anschluss der betreffenden AN an den einen oder den anderen Zweig des Systems der sozialen Sicherheit zu gewährleisten und damit lediglich die Beachtung der einschlägigen Rechtsvorschriften sicherzustellen, oder ob diese Pflicht zumindest teilweise auch bezweckt, die Wirksamkeit der Kontrollen zu gewährleisten, die von den zuständigen nationalen Behörden durchgeführt werden, um die Einhaltung der nach den arbeitsrechtlichen Vorschriften vorgeschriebenen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen sicherzustellen; im erstgenannten Fall stünden die vom zuständigen Träger ausgestellten Bescheinigungen E101 und A1 einer solchen Pflicht grundsätzlich entgegen, im letztgenannten Fall hätten diese Bescheinigungen keinerlei Auswirkungen auf die genannte Pflicht, die jedenfalls nicht zum Anschluss der 394 betreffenden AN an den einen oder anderen Zweig des Systems der sozialen Sicherheit führen kann.
54 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art 11 Abs 1 Buchst a, Art 12a Nr 2 Buchst a und Nr 4 Buchst a der VO Nr 574/72 sowie Art 19 Abs 2 der VO Nr 987/2009 dahin auszulegen sind, dass eine Bescheinigung E101, die von dem zuständigen Träger eines Mitgliedstaats gem Art 14 Nr 1 Buchst a oder Nr 2 Buchst b der VO Nr 1408/71 an AN ausgestellt wurde, die ihre Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat ausüben, und eine Bescheinigung A1, die ihnen von diesem Träger gem Art 12 Abs 1 oder Art 13 Abs 1 der VO Nr 883/2004 ausgestellt wurde, für die Gerichte des letztgenannten Mitgliedstaats nur hinsichtlich der sozialen Sicherheit bindend sind.
Auf den ersten Blick scheint die E des EuGH nichts Neues zu bieten. Es wird die Bindungswirkung der ausgestellten Formulare E101 und A1 nochmals zusammenfassend referiert und dargelegt, in welchem Fall ein nationales Gericht nicht an diese ausgestellten Dokumente gebunden ist.
Das zu beachtende Element in dieser E liegt aber darin, dass der EuGH sich aufgrund der Vorlagefrage des nationalen Gerichtes mit der Abgrenzungsfrage, inwieweit die Bindungswirkung von E101 und A1 reicht, beschäftigen musste.
Der EuGH verweist in Rn 44 auf frühere Urteile, in welchem er sich bereits mit dieser Abgrenzung beschäftigte. Diese Fälle betrafen aber Sachverhalte der Hochseeschifffahrt bzw der internationalen Flussschifffahrt. Ging es im Fall De Paep (C-196/90, ECLI:EU:C:1991:381)um eine Hinterbliebenenrente im Zusammenhang mit dem Untergang eines Schiffes auf Hochsee, war die Vorfrage im Fall van Dijk (ECLI:EU:C:2015:564), inwieweit Rheinschiffer unter die Vorschriften der VO 1408/71 fallen.
Im ersten Fall (De Paep Rn 12 f) hält der EuGH allgemein fest, dass die VO 1408/71 keine arbeitsrechtlichen Kollisionsfragen regelt, sondern lediglich Kollisionsnormen für die Zweige der sozialen Sicherheit enthält. Im zweiten Fall (van Dijk, Spruch erster Teil, Rn 64) hält der Gerichtshof fest, dass ein ausgestelltes Dokument E101 aufgrund der Nichtanwendbarkeit der VO 1408/71 keine Bindungswirkung entfaltet.
Gegenständlicher Sachverhalt, der von Entsendungstatbeständen bzw Schwarzarbeit und Meldevergehen handelt, lag dem EuGH aber noch nicht zur Entscheidung vor.
Bei diesem vom EuGH wiedergegebenen Sachverhalt geht es um jene bei Großprojekten wohlbekannten Vorgangsweisen, dass umfangreiche Subunternehmensketten gebildet werden, um die Aufträge überhaupt bzw kostengünstig erfüllen zu können. Darunter findet man – ebenso klassisch – Unternehmen aus den neuen Mitgliedstaaten bzw Firmenkonstruktionen, die in als Steuerparadiesen bekannten Mitgliedstaaten, wie Irland, Malta bzw traditionelle Entsendestaaten wie Polen, Tochterunternehmen bzw Büros unterhalten.
Die französischen Behörden warfen den beteiligten Unternehmen Verstöße gegen die Meldebestimmungen in Frankreich vor, ua daraus resultierend Schwarzarbeit und verbotene Arbeitskräfteüberlassung.
Den auftragvergebenden Unternehmen wurde vorgeworfen, polnische Leiharbeiter zu beschäftigen, obwohl diese trotz Aufforderung der führenden Projektunternehmen keine E101- bzw A1-Dokumente vorgewiesen bzw beigebracht haben. Überdies seien die Leih-AN, soweit der vom EuGH wiedergegebene Sachverhalt nachvollziehbar erscheint, über den Umweg Zyperns Irland und Malta überlassen worden und hätten lediglich Arbeitsverträge in griechischer Sprache erhalten.
Die bekl Unternehmen wehrten sich mit der – nunmehr auch sattsam bekannten – Begründung, dass aufgrund der anscheinend dann doch ausgestellten E101- und A1-Bestätigungen das in Frage kommende französische Recht nicht anwendbar sei, da die betroffenen AN ja bescheinigtermaßen anderen nationalen Systemen der sozialen Sicherheit unterlägen.
Die gegenständlichen Grundlagen für das Strafverfahren befinden sich im achten Teil des französischen Code du Travail, dem Arbeitsgesetzbuch mit der Überschrift Kontrolle der Anwendung des Arbeitsrechts. Die gegenständlichen Bestimmungen (Art L 8221-3 und L 8221-5) wurden grundlegend 2014 als Teil der Bekämpfung von Lohn- und Sozialdumping eingeführt. Der französische Regelkanon beinhaltet bei Verstößen sowohl Freiheits- als auch Geldstrafen als Sanktion (siehe Überblick bei Germany Trade and Invest, https://www.gtai.de/gtai-de/trade/recht/rechtsbericht/ frankreich/schwarzarbeit-und-andere-illegale-beschaeftigungsformen-in-15072https://www.gtai.de/gtai-de/trade/recht/rechtsbericht/ frankreich/schwarzarbeit-und-andere-illegale-beschaeftigungsformen-in-15072, zuletzt abgefragt am 23.6.2021).
Strafbar ist ua die Verschleierung einer Inlandstätigkeit durch Nichtvornahme gesetzlich vorgeschriebener Meldungen oder Vortäuschung eines Entsendetatbestands (Art 8221-3 Z 2 und 3 Code du Travail).
Für die Frage, ob die Bestimmungen des Code du Travail anwendbar sind, ist nun von entscheidender Bedeutung, ob diese dem Normenkanon der sozialen Sicherheit zuzuordnen sind oder nicht. Der EuGH hat sich in dieser E quasi nobel zurückgehalten und die Beurteilung dem nationalen Gericht überlassen. Das war nicht immer so. In der Rs Paletta (ECLI:EU:C:1992:236) musste der EuGH klären, ob die Krankschreibung eines aus Sicht des AG ausländischen Arztes iSd deutschen Rechtes 395 eine verbindliche Bestätigung der Arbeitsunfähigkeit darstellt, da der deutsche AG die gleichzeitige Krankschreibung des Ehepaares Paletta durch einen italienischen Arzt nicht akzeptierte und die Entgeltfortzahlung verweigerte. Der Gerichtshof löste die Frage damals so, dass er die Normen der Entgeltfortzahlung durch den AG und die sachlich zugehörenden Normen nicht als Teil des Arbeitsrechts qualifizierte, sondern als Teil der Regelungen der sozialen Sicherheit und damit der Koordinierung der damaligen VO 1408/71 unterliegend. Dies deshalb, da der Anspruch auf Entgeltfortzahlung nur bei Krankheit gewährt wird und ein Ruhen des Krankengeldes der SV auslöst. Zudem komme es bei der Qualifizierung als Leistung der sozialen Sicherheit iSd VO 1408/71 nicht darauf an, wer die Kosten trage (Urteil Rn 17 f).
Diese Zuordnung mag in der Rs Paletta zwar zu einem zufriedenstellenden Ergebnis geführt haben, sorgt aber spätestens nach gegenständlicher Entscheidung für laufende Abgrenzungsprobleme, da man nicht auf die traditionelle Abgrenzung zwischen Arbeits- und Sozial-(versicherungs-)recht zurückgreifen kann.
Da es im gegenständlichen Fall ua um Meldungen an die SV geht, stellt sich die Frage, ob diese nur dem Zweck dienen, die Einbeziehung in das System der sozialen Sicherheit zu ermöglichen, oder, wie die französische Regierung behauptet, als Verwaltungsvereinfachung jedenfalls auch der Kontrolle der Einhaltung der Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen.
Und hier entscheidet der EuGH mE doch etwas unerwartet, indem er nicht eine generelle Zuordnung der Norm, auch wenn nur ein Teil des Normzwecks der sozialen Sicherheit dient, dem Regime der jeweiligen KoordinierungsVO unterstellt, sondern den umgekehrten Weg geht:
Zum einen hält der Gerichthof fest, dass E101 und A1 nur dann Bindungswirkungen hinsichtlich Regelungen entfalten können, die in unmittelbarem Zusammenhang mit einem der in Art 4 Abs 1 und 2 der VO 1408/71 sowie Art 3 Abs 1 der VO 883/2004 aufgezählten Zweige und Systeme stehen. In diesem Sinne ist als eine Leistung iSd sozialen Sicherheit zu verstehen, wenn diese durch eine individuelle Bedarfsprüfung aufgrund eines gesetzlichen Tatbestandes zu gewähren ist (Fuchs, Europäisches Sozialrecht7 [2018] Art 3 Rn 7).
Zum anderen (judiziert im Zusammenhang mit Abgabenvorschriften) fällt eine Regelung dann unter den Anwendungsbereich der Koordinierungsverordnungen, wenn ein hinreichender Zusammenhang zu den in diesen Verordnungen normierten Leistungen steht (Rn 46).
Bemerkenswert ist nun aber, dass der EuGH in seinen Ausführungen für das nationale Gericht (Rn 53) festhält, dass Normen, welche auch nur teilweise den Zweck haben, Kontrollen zu ermöglichen, um die Einhaltung der Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen sicherzustellen, keiner Bindungswirkung von E101 oder A1 unterliegen. Die Rechtsfolge dieser Auslegung führt also dazu, dass (auch bei überwiegendem Normzweck der Umsetzung von Zielen der sozialen Sicherheit) bei Vorliegen von Kontroll-/Schutzzwecken, die bezüglich Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen eine Kontrolle durch Gerichte und Behörden ermöglichen sollen, die nicht dem Ausstellerland von E101 und A1 zuzurechnen sind, diese in Ermittlung des Sachverhaltes und Subsumption unter die anwendbare Rechtsordnung frei von gegenständlicher Bindungswirkung sind.
Der EuGH schränkt also quasi über die „Hintertüre“ seine extensive Rsp über Bindungswirkung und Unüberprüfbarkeit der Entsendungsbestätigungen ein.
Es wird in Zukunft also auf die Argumentation von Behörden und Gerichten im Kampf gegen Lohn- und Sozialdumping auf Folgendes ankommen: Ist der Zweck einer Norm zumindest teilweise auf Einhaltung der Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen bzw auf Bekämpfung von Lohn- und Sozialdumping gerichtet, so umfassen die Dokumente E101 und A1 zumindest für diesen Normteil keine Bindungswirkung und die nationalen Behörden können aufgrund der von ihnen getroffenen Feststellungen den Fall rechtlich beurteilen.
Ein weiterer Mehrwert ist aber für mich bei dieser E ersichtlich: Durch die Klarstellung des EuGH ist nun offensichtlich, dass Verfahren hinsichtlich arbeitsrechtlicher Ansprüche bei internationalen Arbeitsverhältnissen unabhängig von der Existenz aufgrund der KoordinierungsVO ausgestellter Entsendungsdokumente geführt werden können, wenn strittig ist, ob eine echte Entsendung vorliegt, und es aufgrund des Sachverhaltes und der kollisionsrechtlichen Bestimmungen der Rom-I-VO für Arbeitsverträge ein anderes Arbeitsvertragsstatut anzuwenden ist als das durch die Bindung festgelegte anwendbare Recht der sozialen Sicherheit.
Grundsätzlich kommt so ein bisschen Licht in den Schatten der bisherigen Rsp des EuGH im Zusammenhang mit der Bekämpfung von Lohn- und Sozialdumping. Das ändert nichts an den bisherigen Entscheidungen des Gerichtshofes, in denen dieser die Strategien der Bekämpfung von Lohn- und Sozialdumping entweder wegen fehlender Verhältnismäßigkeit (EuGH Rs Maksimovic, ECLI:EU:C:2019:723; EuGH Rs Cepelnik, EU:C:2018:896) oder aufgrund fehlender Anwendbarkeit der Entsende-RL, RL 96/71 (EuGH Rs Dobersberger, ECLI:EU:C:2019:1110), scheitern ließ.
Der EuGH hält fest, dass eine Bindungswirkung der Erklärungen E101 und A1 nicht besteht, soweit der alleinige Zweck einer Norm nicht in Zusammenhang mit Teilaspekten der sozialen Sicherheit der VO 1408/71 und 883/2004 steht. Er zeigt damit Strategien auf, wie fehlerhaft ausgestellte Dokumente doch durch nationale Behörden und Gerichte überprüft werden können, solange nicht der Anwendungsbereich der KoordinierungsVO alleinig bzw hauptsächlich von der zur Anwendung kommenden Norm betroffen ist. 396