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Zur Anwendung der Entsende-RL im internationalen Straßenverkehrssektor: Konkretisierung des Kriteriums der hinreichenden Verbindung zum Aufnahmestaat

DIANANIKSOVA (SALZBURG)
Art 1 Abs 1 und 3, Art 2 Abs 1, Art 3 Abs 8 Entsende-RL 96/71/EG; Art 1 RL 2020/1057/EU
EuGH 1.12.2020 C-815/18Van den Bosch Transporten
  1. Die Entsende-RL 96/71/EG ist dahin auszulegen, dass sie auf die länderübergreifende Erbringung von Dienstleistungen im Straßenverkehrssektor anwendbar ist.

  2. Ein AN, der als Fahrer im internationalen Straßenverkehrssektor tätig ist, ist dann ein in einen anderen Mitgliedstaat entsandter AN, wenn seine Arbeitsleistung während des betreffenden Zeitraums eine hinreichende Verbindung zu diesem Mitgliedstaat aufweist.

    Dass ein Kraftfahrer, der von einem in einem Mitgliedstaat ansässigen Unternehmen einem Unternehmen mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat überlassen wurde, am Sitz dieses zweiten Unternehmens die mit seinen Aufgaben zusammenhängenden Anweisungen erhält, die Ausführung dieser Aufgaben am Sitz dieses zweiten Unternehmens beginnt oder dort beendet, reicht nicht für die Annahme aus, dass dieser Fahrer in diesen anderen Mitgliedstaat entsandt worden ist, wenn die Arbeitsleistung dieses Fahrers aufgrund anderer Faktoren keine hinreichende Verbindung zu diesem Mitgliedstaat aufweist.

  3. Das Bestehen eines Konzernverbunds zwischen den Unternehmen, die Parteien des Vertrags über die Überlassung von AN sind, ist für die Beurteilung, ob eine Entsendung von AN vorliegt, nicht relevant.

  4. Ein AN, der als Fahrer im Straßenverkehrssektor tätig ist und Kabotagebeförderungen in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen, in dem er normalerweise arbeitet, durchführt, ist grundsätzlich als in den Mitgliedstaat, in dem diese Beförderungen erfolgen, entsandt anzusehen.

  5. Art 3 Abs 1 und 8 der Entsende-RL 96/71 ist dahin auszulegen, dass die Frage, ob ein Tarifvertrag für allgemein verbindlich erklärt worden ist, anhand des anwendbaren nationalen Rechts zu beurteilen ist.

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

12 Van den Bosch Transporten ist ein Güterkraftverkehrsunternehmen mit Standort in Erp (Niederlande). Van den Bosch Transporten, Van den Bosch Transporte, eine Gesellschaft deutschen Rechts, und Silo-Tank, eine Gesellschaft ungarischen Rechts, sind Schwestergesellschaften, die derselben Unternehmensgruppe angehören. [...]

13 Van den Bosch Transporten ist Mitglied des [...] niederländischen Verbands für den Güterverkehr. Dieser Verband und die FNV schlossen den Tarifvertrag für den Güterverkehr [...]. Er wurde nicht für allgemein verbindlich erklärt. [...] Der Tarifvertrag für den gewerblichen Güterkraftverkehr wurde dagegen [...] für allgemein verbindlich erklärt. Der [...] Erlass des Ministers für Soziales und Arbeit [...] befreite jedoch die unter den Tarifvertrag für den Güterverkehr fallenden Unternehmen von der Anwendung des Tarifvertrags für den gewerblichen Güterkraftverkehr. Diese Befreiung galt ua für Van den Bosch Transporten. [...]

15 Van den Bosch Transporten hatte mit Van den Bosch Transporte und Silo-Tank Charterverträge geschlossen, die sich auf grenzüberschreitende Beförderungen bezogen.

16 AN aus Deutschland und Ungarn, die an Van den Bosch Transporte bzw an Silo-Tank arbeitsvertraglich gebunden waren, gingen ihrer Tätigkeit als Fahrer im Rahmen dieser Charterverträge nach. In der Regel fand die Vercharterung in dem für das Ausgangsverfahren maßgeblichen Zeitraum ab Erp statt, und die Fahrten endeten dort auch. Die meisten auf der Grundlage der fraglichen Charterverträge durchgeführten Beförderungen fanden jedoch außerhalb des Hoheitsgebiets des Königreichs der Niederlande statt.

17 Die grundlegenden Arbeitsbedingungen, wie sie im Tarifvertrag für den Güterverkehr festgelegt waren, wurden auf die Fahrer aus Deutschland und Ungarn nicht angewandt.

18 Die FNV erhob gegen Van den Bosch Transporten, Van den Bosch Transporte und Silo-Tank eine Klage, mit der sie beantragte, diese Gesellschaften zur Einhaltung des Tarifvertrags für den Güterverkehr [...] zu verpflichten. [...]

29 [...] Der OGH der Niederlande hat beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1. Ist die RL 96/71 dahin auszulegen, dass diese auch auf einen AN anzuwenden ist, der als Fahrer im internationalen Güterkraftverkehr tätig ist und seine Arbeit folglich in mehr als einem Mitgliedstaat verrichtet?

2. a. Wenn Frage 1 bejaht wird: Welcher Maßstab oder welche Gesichtspunkte sind zugrunde zu legen, um zu bestimmen, ob ein als Fahrer im internationalen Güterkraftverkehr tätiger AN „in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats“ iSv Art 1 Abs 1 und 3 der RL 96/71 entsendet wird und ob dieser AN iSv Art 2 Abs 1 der RL 96/71 „während eines begrenzten Zeitraums seine Arbeitsleistung im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats als desjenigen erbringt, in dessen Hoheitsgebiet er normalerweise arbeitet“?

b. Ist für die Beantwortung von Frage 2. a der Umstand von Bedeutung, dass das Unternehmen, das den [...] AN entsendet, mit dem Unternehmen, in das dieser AN entsendet wird – zB über einen Konzern –, verbunden ist, und, falls ja, inwiefern?

c. Wenn die Arbeit des [...] AN teilweise eine Kabotagebeförderung beinhaltet [...], ist dann bei diesem AN in jedem Fall davon auszugehen, dass er hinsichtlich dieses Teils der Arbeiten vorübergehend im Hoheitsgebiet des erstgenannten Mitgliedstaats arbeitet? [...]

3. a) Wenn Frage 1 bejaht wird: Wie ist der Begriff „für allgemein verbindlich erklärte Tarifverträge“ iSv Art 3 Abs 1 und 8 Unterabs 1 RL 96/71 auszulegen? 397 Liegt ein autonomer Begriff des Unionsrechts vor, und reicht es folglich aus, dass die in Art 3 Abs 8 Unterabs 1 RL 96/71 festgelegten Bedingungen in tatsächlicher Hinsicht erfüllt sind, oder verlangen diese Bestimmungen zugleich, dass der Tarifvertrag nach dem nationalen Recht für allgemein verbindlich erklärt wurde? [...]

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

30 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die RL 96/71 dahin auszulegen ist, dass sie auf die länderübergreifende Erbringung von Dienstleistungen im Straßenverkehrssektor anwendbar ist. [...]

32 Art 1 Abs 2 der RL 96/71 schließt seinerseits vom Anwendungsbereich dieser RL nur solche Dienstleistungen aus, an denen die Schiffsbesatzungen von Unternehmen der Handelsmarine beteiligt sind.

33 Folglich gilt diese RL mit Ausnahme der letztgenannten Dienstleistungen grundsätzlich für jede länderübergreifende Erbringung von Dienstleistungen, die mit einer Entsendung von AN verbunden ist, unabhängig davon, zu welchem Wirtschaftssektor eine solche Dienstleistung gehört, also auch im Straßenverkehrssektor.

34 Diese Auslegung wird durch Art 2 Abs 1 der RL 96/71 untermauert, der den Begriff „entsandter AN“ iSd RL dahingehend definiert, dass er „jede[n] AN“ erfasst, der während eines begrenzten Zeitraums seine Arbeitsleistung im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats als desjenigen erbringt, in dessen Hoheitsgebiet er normalerweise arbeitet, ohne dass diese Bestimmung auf irgendeine Beschränkung hinsichtlich des Tätigkeitssektors dieses AN Bezug nehmen würde.

35 Die Anwendbarkeit der RL 96/71 auf den Straßenverkehrssektor wird ausdrücklich bestätigt durch andere Unionsrechtsakte, wie etwa die RL 2014/67 und die RL 2020/1057: Art 9 Abs 1 Buchst b der RL 2014/67 führt [...] Maßnahmen an, die spezifisch die „mobilen [AN] im Transportgewerbe“ betreffen, und im siebten ErwGr der RL 2020/1057 heißt es, dass die Vorschriften über die Entsendung von AN gem der RL 96/71 „für den Straßenverkehrssektor [gelten]“. [...]

37 [...] Zwar wird der freie Dienstleistungsverkehr im Verkehrsbereich nicht durch Art 56 AEUV geregelt, der den freien Dienstleistungsverkehr im Allgemeinen betrifft, sondern durch die Bestimmungen des Titels des AEUV über den Verkehr, auf die Art 58 Abs 1 AEUV verweist (vgl Urteil v 19.12.2019, Dobersberger, C-16/18, Rn 24 und die dort angeführte Rsp).

38 Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass die RL 96/71 [...] allgemeine Geltung hat. [...]

39 [...] Mit der RL 96/71 soll [...] nicht die gemeinsame Verkehrspolitik iSv Art 91 durchgeführt werden. Sie enthält auch keine „Maßnahmen zur Verbesserung der Verkehrssicherheit“ oder „zweckdienliche Maßnahmen“ im Bereich Verkehr iSv Art 91 Abs 1 lit c und d AEUV. [...]

Zur zweiten Frage

[...] 45 Ein AN kann im Hinblick auf die RL 96/71 nur dann als in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats entsandt angesehen werden, wenn seine Arbeitsleistung eine hinreichende Verbindung zu diesem Hoheitsgebiet aufweist (vgl Urteil v 19.12.2019, Dobersberger, C-16/18, Rn 31), was eine Gesamtwürdigung aller Gesichtspunkte voraussetzt, die die Tätigkeit des betreffenden AN kennzeichnen.

46 Hierzu ist festzustellen, dass sich das Vorliegen einer solchen Verbindung zu dem betreffenden Hoheitsgebiet insb anhand der Merkmale der Dienstleistung, für deren Erbringung der betreffende AN eingesetzt wird, zeigen kann. Ein relevanter Gesichtspunkt für die Beurteilung des Vorliegens einer solchen Verbindung stellt auch die Art der Tätigkeiten dar, die dieser AN im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats verrichtet.

47 Bei mobilen AN [...] ist hierfür auch von Bedeutung, wie eng die Verbindung zwischen den Tätigkeiten, die ein solcher AN im Rahmen der Erbringung der ihm zugewiesenen Beförderungsleistung verrichtet, und dem Hoheitsgebiet jedes betroffenen Mitgliedstaats ist.

48 Das Gleiche gilt für den Anteil dieser Tätigkeiten an der Gesamtheit der betreffenden Dienstleistungen. Insoweit sind das Be- oder Entladen von Waren, die Instandhaltung oder die Reinigung von Transportfahrzeugen von Bedeutung, sofern sie tatsächlich von dem betreffenden Fahrer und nicht von Dritten durchgeführt werden.

49 Dagegen kann ein AN, der in dem Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats, in den er entsandt wird, Leistungen von sehr beschränktem Umfang erbringt, nicht als „entsandt“ iSd RL 96/71 angesehen werden (vgl Urteil v 19.12.2019, Dobersberger, C-16/18, Rn 31). Dies gilt etwa für einen Fahrer, der das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats im Rahmen eines Gütertransports auf der Straße nur durchquert. Gleiches gälte für einen Fahrer, der lediglich einen grenzüberschreitenden Transport vom Sitzmitgliedstaat des Transportunternehmens bis zum Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats oder umgekehrt durchführt.

50 Im Übrigen reicht der Umstand, dass ein im grenzüberschreitenden Verkehr tätiger Kraftfahrer, der von einem in einem Mitgliedstaat ansässigen Unternehmen einem Unternehmen mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat überlassen wurde, am Sitz dieses zweiten Unternehmens die mit seinen Aufgaben zusammenhängenden Anweisungen erhält, die Ausführung seiner Aufgaben am Sitz dieses zweiten Unternehmens beginnt oder dort beendet, für sich genommen nicht für die Annahme aus, dass dieser Fahrer in das Hoheitsgebiet dieses anderen Mitgliedstaats „entsandt“ worden ist, wenn die Arbeitsleistung dieses Fahrers aufgrund anderer Faktoren keine hinreichende Verbindung zu diesem Hoheitsgebiet aufweist. [...]

56 Das Bestehen eines Konzernverbunds zwischen den Unternehmen [...] vermag als solches nichts darüber auszusagen, wie eng die Verbindung zu dem Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats ist, in das der betreffende AN entsandt wird. [...]

62 [...] Kabotagebeförderungen finden vollständig im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats statt, was die Annahme zulässt, dass die Arbeitsleistung 398 des Fahrers im Rahmen solcher Beförderungen eine hinreichende Verbindung zu diesem Hoheitsgebiet aufweist. [...]

64 Auch wenn die Dauer solcher Kabotagebeförderungen an sich das Bestehen einer hinreichenden Verbindung [...] nicht in Frage zu stellen vermag, lässt diese Beurteilung doch die Anwendung von Art 3 Abs 3 der Entsende-RL 96/71 unberührt. [...]

Zur dritten Frage

72 [...] Art 3 Abs 1 und 8 RL 96/71 ist dahin auszulegen, dass die Frage, ob ein Tarifvertrag für allgemein verbindlich erklärt worden ist, anhand des anwendbaren nationalen Rechts zu beurteilen ist. Dem in diesen Bestimmungen enthaltenen Begriff entspricht ein Tarifvertrag, der nicht für allgemein verbindlich erklärt worden ist, aber dessen Einhaltung für die ihm unterliegenden Unternehmen die Voraussetzung für die Befreiung von der Anwendung eines anderen, seinerseits für allgemein verbindlich erklärten Tarifvertrags darstellt, dessen Bestimmungen im Wesentlichen mit jenen dieses anderen Tarifvertrags identisch sind.

ANMERKUNG
1.
Einleitung

Nach der Rs Dobersberger (EuGH 19.12.2019, C-16/18) liegt nunmehr die zweite EuGH-E vor, in der der Gerichtshof zu beurteilen hatte, ob mobile AN, die ständig in unterschiedlichen Staaten eingesetzt werden, als entsandte AN iSd Entsende- RL 96/71 zu qualifizieren sind. Die Anwendung der Entsende-RL im Verkehrssektor gehört zu den kompliziertesten Fragen des Entsenderechts. Vor dem Hintergrund eines starken Wettbewerbs um niedrige Arbeitskosten zwischen den Transportunternehmen in der Union hat sich die Frage der anzuwendenden Arbeitsbedingungen auf Kraftfahrer zu einem der Hauptprobleme des Entsenderechts entwickelt. Problematisch ist, dass die Anwendung der Entsende-RL, die der Unionsgesetzgeber erlassen hat, um im Binnenmarkt eine Balance zwischen der Förderung des freien Dienstleistungsverkehrs, fairem Wettbewerb und dem Schutz der AN zu schaffen und damit ein „level playing field“ zu ermöglichen, im Transportsektor erhebliche Auslegungsschwierigkeiten bereitet. Diese sind darauf zurückzuführen, dass der Unionsgesetzgeber bei Erlass der ursprünglichen Entsende-RL 96/71 insb ortsgebundene Tätigkeiten (vor allem im Bausektor) vor Augen hatte (siehe zB Windisch-Graetz in EuArbR2 Art 1 RL 96/71 Rz 5). Anders als bei ortsgebundenen Tätigkeiten ist jedoch die Frage, ob auch mobile AN, die ständig in unterschiedlichen Staaten tätig sind, als entsandte AN zu qualifizieren sind, ungleich schwieriger zu beurteilen (siehe dazu zB Windisch-Graetz, DRdA 2013, 13 ff; Gagawczuk, DRdA 2016, 404 ff; Niksova, ZAS 2020, 259 ff mwN). In der Zwischenzeit hat der Unionsgesetzgeber dieses Problem erkannt und eine eigene RL zur Anwendung der Entsende-RL im Straßenverkehrssektor erlassen, die von den Mitgliedstaaten bis 2.2.2022 umzusetzen ist (RL 2020/1057). Die vorliegende E erging aber noch zur ursprünglichen Rechtslage.

Die Große Kammer musste sich in diesem Fall mit drei großen Problembereichen auseinandersetzen. Als Vorfrage war zunächst zu klären, ob die Entsende-RL überhaupt auf den Straßenverkehrssektor anwendbar ist. Diese seit Langem umstrittene Frage hat der EuGH nunmehr zu Recht bejaht (siehe Pkt 2.). Im Anschluss widmete sich der Gerichtshof der entscheidenden Frage, ob die Kraftfahrer im konkreten Sachverhalt als entsandt anzusehen waren. Dabei berief sich der EuGH auf das von ihm in der Rs Dobersberger erstmals entwickelte Kriterium der hinreichenden Verbindung zum Aufnahmestaat und konkretisierte dieses nunmehr näher. Letztlich war aber nach Ansicht des EuGH im vorliegenden Sachverhalt eine hinreichende Verbindung zum Aufnahmestaat nicht gegeben; eine Entsendung lag daher – außer bei Kabotagetätigkeiten – nicht vor. Das vom EuGH entwickelte Kriterium der hinreichenden Verbindung zum Aufnahmestaat an sich, ebenso wie die nähere Konkretisierung dieses Kriteriums in der vorliegenden E, werfen jedoch zahlreiche Fragen auf, auf die in diesem Beitrag näher einzugehen ist (siehe Pkt 3.). Zuletzt beschäftigte sich der EuGH mit einer allgemeinen Frage des Entsenderechts, deren Bedeutung nicht auf den Verkehrssektor beschränkt ist, nämlich der Auslegung von allgemein verbindlich erklärten Kollektivverträgen iSd Art 3 Abs 8 Entsende-RL, die Aufnahmestaaten auf entsandte AN zu erstrecken haben (siehe Pkt 4.). Abschließend soll im vorliegenden Beitrag ein kurzer Ausblick in die Zukunft gegeben werden (siehe Pkt 5.).

2.
Anwendung der Entsende-RL auf den Straßenverkehrssektor

In einem ersten Schritt bejaht der EuGH zu Recht die bislang umstrittene Frage, ob die Entsende-RL überhaupt auf den Straßenverkehrssektor anwendbar ist. Wenngleich man sich die Klärung dieser Frage für den Verkehrssektor bereits in der Rs Dobersberger erwartet hatte, hat der EuGH in der Rs Dobersberger diese Frage offengelassen, um nicht zu sagen, dass er dort sogar eher den gegenteiligen Eindruck vermittelt hat, indem er betont hat, dass die in der Rs Dobersberger relevanten Catering- Tätigkeiten in internationalen Zügen gerade keine Dienstleistungen auf dem Gebiet des Verkehrs seien und die Entsende-RL daher angewendet werden könne (EuGH Rs Dobersberger, Rn 24 ff). Das hat den Anschein erweckt, dass er der Anwendung der Entsende-RL auf Verkehrsdienstleistungen eher abgeneigt sein könnte (so Windisch-Graetz, DRdA 2020, 432 [434 f], die diese Aussagen des EuGH in der Rs Dobersberger zu Recht kritisiert hat). Umso erfreulicher ist es, dass der EuGH nunmehr doch klargestellt hat, dass die Entsende-RL auf den Straßenverkehrssektor anwendbar ist. Dafür bringt er in den Rn 31-41 eine Vielzahl an Argumenten systematischer, teleologischer und primär- bzw kompetenzrechtlicher Natur vor, denen uneingeschränkt zuzustimmen ist. Viele dieser Argumente 399 sind im Übrigen in der österreichischen Literatur bereits oft vorgebracht und mehrfach bestätigt worden (zB Windisch-Graetz, DRdA 2013, 13 [15 ff]; Windisch-Graetz, DRdA 2020, 432 [434 f]; Niksova, ZAS 2020, 259 [261 FN 14 mwN]). In der Zwischenzeit hat der EuGH dieses Ergebnis auch ein weiteres Mal bestätigt (EuGH 8.7.2021, C-428/19, OL, Rn 35 f), sodass nunmehr von einer gesicherten Rsp ausgegangen werden kann.

3.
Kraftfahrer als entsandte AN iSd Art 2 Abs 1 Entsende-RL?
3.1.
Hinreichende Verbindung zum Aufnahmestaat

Deutlich problematischer ist die daran anschließende Frage, ob Kraftfahrer als entsandte AN iSd Art 2 Abs 1 Entsende-RL zu qualifizieren sind. Der EuGH beruft sich dabei auf das in der Rs Dobersberger entwickelte Kriterium der hinreichenden Verbindung der Tätigkeit des AN zum Aufnahmestaat und konkretisiert es nun etwas näher. Die Begründung des EuGH in der Rs Dobersberger für die Entwicklung dieses Kriteriums, das weder in der Entsende-RL 96/71 noch in der Entsende-RL „neu“ 2018/957 ausdrücklich normiert ist, wurde in der Literatur zu Recht heftig kritisiert (Windisch-Graetz, DRdA 2020, 432 [435 ff]; Mankowski, EuZA 2020, 495 [501 ff]; Niksova, ZAS 2020, 259 [261 ff]). Weder die dort gezogene Parallele zum Montageprivileg iSd Art 3 Abs 2 Entsende-RL noch die Berufung auf die fakultativen Ausnahmebestimmungen iSd Art 3 Abs 3 und 4 Entsende-RL vermögen zu überzeugen. Trotz der zahlreichen Kritik in der Literatur übernimmt der EuGH in der vorliegenden E nunmehr dieses Kriterium wieder, ohne sich mit den in der Literatur vorgebrachten Gegenargumenten auseinanderzusetzen oder andere Begründungsansätze für dieses Kriterium anzubieten als in der Rs Dobersberger, wie etwa das Telos und die primärrechtskonforme Interpretation der Entsende-RL (ausführlich dazu Niksova, ZAS 2020, 259 [263 ff]). Akzeptiert man nun mit dem EuGH dieses neue Kriterium, stellt sich in weiterer Folge die Frage nach dessen Konkretisierung. Damit hat sich der EuGH in der vorliegenden E näher auseinandergesetzt.

3.2.
Konkretisierung des Kriteriums der hinreichenden Verbindung zum Aufnahmestaat

Der EuGH betont zunächst, dass eine Gesamtwürdigung aller Gesichtspunkte vorzunehmen ist, die die Tätigkeit des AN kennzeichnen (Rn 45). Als relevante Faktoren zählt er in den Rn 46-48 bspw auf

  1. die Art der Tätigkeiten, die der AN im Aufnahmestaat verrichtet,

  2. bei mobilen AN die Enge der Verbindung zwischen den Tätigkeiten des AN und dem Hoheitsgebiet jedes betroffenen Staates,

  3. den Anteil der Tätigkeiten an der Gesamtheit der betreffenden Dienstleistungen, etwa das Be- oder Entladen von Waren, die Instandhaltung oder die Reinigung der LKWs.

Sodann bringt der EuGH Beispiele vor, in denen für ihn eine hinreichende Verbindung zum Aufnahmestaat eindeutig zu verneinen ist. Zuzustimmen ist dem EuGH, wenn er Kraftfahrer im reinen Transit, die einen Mitgliedstaat lediglich durchqueren, ohne dort Waren auf- oder abzuladen, nicht als entsandte AN qualifiziert, weil sie keine hinreichende Verbindung zum Transitstaat aufweisen (Rn 49; zum Transit siehe zB Windisch-Graetz, DRdA 2013, 13 [21]; Riesenhuber, EuZA 2021, 195 [199 f]; Niksova, ZAS 2020, 259 [264 mwN]). Gleiches gilt nach Ansicht des EuGH für bilaterale Beförderungen, wenn Kraftfahrer lediglich einen grenzüberschreitenden Transport vom Sitzmitgliedstaat des Transportunternehmens in einen anderen Staat und umgekehrt durchführen (Rn 49). Sowohl im Hinblick auf den reinen Transit als auch im Hinblick auf bilaterale Beförderungen wurde nunmehr auch in Art 1 Abs 5 und 3 RL 2020/1057 klargestellt, dass es sich dabei nicht um Entsendungen handelt (siehe dazu Riesenhuber, EuZA 2021, 195 [199 ff]; Niksova, ZAS 2020, 259 [267 mwN]). Dem EuGH ist auch zu folgen, wenn er umgekehrt bei Kabotagetätigkeiten, die vollständig im Aufnahmestaat stattfinden, sehr wohl eine hinreichende Verbindung zum Aufnahmestaat und damit eine Entsendung in diesen Staat bejaht, und zwar unabhängig von der Dauer der Tätigkeit des AN im Aufnahmestaat (Rn 58-65; zu Kabotage siehe zB Windisch-Graetz, DRdA 2013, 13 [17]; Gagawczuk, DRdA 2016, 404 [407]). Auch das wurde nunmehr ausdrücklich in Art 1 Abs 7 RL 2020/1057 aufgenommen. Zuzustimmen ist dem EuGH schließlich auch, wenn er bei der Konkretisierung der hinreichenden Verbindung und der Frage, ob eine Entsendung vorliegt, dem Umstand, dass es sich um verbundene Konzerngesellschaften handelt, keine Bedeutung beimisst (Rn 53 ff).

Kopfzerbrechen bereitet jedoch die Rn 50 der vorliegenden E, in der der Gerichtshof das Kriterium der hinreichenden Verbindung auf den gegenständlichen Sachverhalt anwendet. Dazu ist zunächst auszuführen – wie auch bereits GA Bobek in seinen Schlussanträgen (Rn 24 ff) bemängelt hat –, dass der Sachverhalt im konkreten Fall nicht abschließend bekannt ist und zahlreiche Sachverhaltselemente fehlen, die für die rechtliche Beurteilung eine Rolle spielen könnten. Festgestellt wurde nur, dass die niederländische Gesellschaft Van den Bosch Transporten mit der ungarischen Gesellschaft Silo-Tank und der deutschen Gesellschaft Van den Bosch Transporten GmbH, die konzernrechtlich verbunden sind, Charterverträge abgeschlossen hat, die sich auf grenzüberschreitende Beförderungen bezogen. Ungarische Kraftfahrer, die mit der ungarischen Gesellschaft Arbeitsverträge abgeschlossen haben, und deutsche Kraftfahrer, die mit der deutschen Gesellschaft Arbeitsverträge abgeschlossen haben, gingen ihrer Tätigkeit als Fahrer im Rahmen dieser Charterverträge nach. Sie haben ihre Fahrten in den Niederlanden begonnen und dort beendet. Die Fahrten selbst führten sie aber überwiegend in anderen Staaten und nicht in den Niederlanden aus (Rn 15 f). Aus dem Sachverhalt geht jedoch zB nicht hervor, wo die AN 400 die Anweisungen zu ihren Tätigkeiten erhielten, wo die Arbeit organisiert wurde, wo die Waren be- oder entladen wurden, ob die LKWs in den Niederlanden stationiert waren oder wo die AN die Reinigung der LKWs durchführten. Vor dem Hintergrund dieses dünnen Sachverhalts sind die Ausführungen des EuGH in der Rn 50 durchaus überraschend: „Im Übrigen reicht der Umstand, dass ein im grenzüberschreitenden Verkehr tätiger Kraftfahrer, der von einem in einem Mitgliedstaat ansässigen Unternehmen einem Unternehmen mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat überlassen wurde, am Sitz dieses zweiten Unternehmens die mit seinen Aufgaben zusammenhängenden Anweisungen erhält, die Ausführung seiner Aufgaben am Sitz dieses zweiten Unternehmens beginnt oder dort beendet, für sich genommen nicht für die Annahme aus, dass dieser Fahrer in das Hoheitsgebiet dieses anderen Mitgliedstaats „entsandt“ worden ist, wenn die Arbeitsleistung dieses Fahrers aufgrund anderer Faktoren keine hinreichende Verbindung zu diesem Hoheitsgebiet aufweist [Hervorhebungen durch die Autorin].“ Diese Randnummer wirft erhebliche Zweifel auf.

Zunächst ist unklar, ob es sich tatsächlich um eine Arbeitskräfteüberlassung im rechtlichen Sinne gehandelt hat oder ob der EuGH das Wort „überlassen“ eher umgangssprachlich verwendet. Dafür, dass er aber in der Tat eine Arbeitskräfteüberlassung aus Ungarn bzw Deutschland in die Niederlande gemeint haben könnte, könnte sprechen, dass er nicht nur in Rn 50 und 52 das Wort „überlassen“ verwendet, sondern auch in Rn 53, 56 und 57 von „(...) Unternehmen, die Parteien des Vertrags über die Überlassung von Arbeitnehmern sind (...)“ spricht. Auch in anderen Sprachfassungen verwendet er den rechtlichen Begriff der Arbeitskräfteüberlassung, zB im Englischen: „hired out by an undertaking“ (Rn 50 und 52) und „hiring-out of workers“ (Rn 53, 56 und 57). Auch der GA hat sich in seinen Schlussanträgen zur Arbeitskräfteüberlassung geäußert, allerdings mit einem anderen Ergebnis als der EuGH. In Rn 100 konstatiert GA Bobek, dass Konstellationen, in denen ein AG einen bei ihm angestellten Fahrer einem anderen Unternehmen zur Verfügung stellt, der sodann vorübergehend nationale oder internationale Transporte für dieses zweite Unternehmen durchführt, als Entsendung zu qualifizieren sind, wenn der Fahrer in den Sitzmitgliedstaat des zweiten Unternehmens befördert wird, dort Anweisungen erhält und die LKWs belädt sowie Transporte aus diesem und in diesen Staat durchführt (GA Bobek, C-815/18, Rn 100).

Sollte es sich tatsächlich um eine grenzüberschreitende Arbeitskräfteüberlassung iSd Art 1 Abs 3 lit c Entsende-RL gehandelt haben, was anhand der Kriterien geprüft werden müsste, die der EuGH in der Rs Martin Meat (18.6.2015, C-586/13) aufgestellt hat – in Ermangelung wesentlicher Sachverhaltselemente kann hier diese Frage jedoch nicht beurteilt werden –, wäre eine Entsendung iSd Entsende-RL mE jedenfalls zu bejahen. Andernfalls könnten Transportunternehmen aus „Niedriglohnstaaten“ Fahrer in „Hochlohnstaaten“ iSd Art 1 Abs 3 lit c Entsende-RL überlassen, die dann von den Hochlohnstaaten aus ihre Fahrten ausführen, und dabei weiterhin nur Arbeitsbedingungen aus dem Niedriglohnstaat anwenden. Dadurch würde der Zweck der Entsende-RL gänzlich unterlaufen und der Weg für ein „unlevel playing field“, das durch die Entsende-RL gerade verhindert werden soll, wäre im Binnenmarkt offen. Dass das die Intention der Großen Kammer in Rn 50 war, ist nicht anzunehmen.

Selbst wenn jedoch nicht alle Voraussetzungen für eine Arbeitskräfteüberlassung iSd Art 1 Abs 3 lit c Entsende-RL erfüllt sein sollten, sind mE bereits die wenigen bekannten Sachverhaltselemente gewichtige Indizien für eine hinreichende Verbindung zu den Niederlanden und damit für eine „klassische“ Entsendung (iSd Art 1 Abs 3 lit a oder b Entsende-RL) aus Ungarn bzw Deutschland in die Niederlande: das Beginnen und Beenden der Tätigkeit in den Niederlanden sowie die Anweisungen am Standort in den Niederlanden in Erp, wo auch der Sitz des Dienstleistungsempfängers liegt. Im Rahmen einer Gesamtwürdigung relevant – hier aber nicht bekannt – wäre ferner etwa, wo die Arbeit organisiert wird (wenn die AN aber in den Niederlanden ihre Weisungen erhalten, ist es nicht unwahrscheinlich, dass die Arbeit in den Niederlanden organisiert wird), wo die Waren be- und/ oder entladen werden (wenn die Fahrten in den Niederlanden beginnen und enden, ist auch die Be-/Entladung von Waren in den Niederlanden nicht unwahrscheinlich) oder wo die LKWs stationiert sind (zur hinreichenden Verbindung in ähnlichen Fällen, in denen AN von einer „Basis“ im Ausland aus nationale und internationale Transporte ausführen, siehe auch Schlussanträge GA Bobek, C-428/19, OL, Rn 26). Dagegen wird man bei mobilen Tätigkeiten für eine hinreichende Verbindung zum Aufnahmestaat mE nicht verlangen können, dass die AN auch hauptsächlich in diesem Staat ihre Transportfahrten ausführen. Denn bei mobilen Tätigkeiten wird nicht einmal für die Bestimmung des gewöhnlichen Arbeitsorts iSd Art 8 Abs 2 Rom I-VO verlangt, dass AN ihre Fahrten hauptsächlich in diesem Staat ausführen. So hat der EuGH in der Rs Koelzsch (EuGH 15.3.2011, C-29/10) den gewöhnlichen Arbeitsort iSd Art 8 Abs 2 Rom I-VO bei mobilen AN so ausgelegt, dass dabei auf den Staat abzustellen sei, von dem aus der AN seine Transportfahrten durchführt, in dem er Anweisungen zu diesen Fahrten erhält und seine Arbeit organisiert und an dem sich die Arbeitsmittel befinden. Zu prüfen sei auch, an welche Orte die Waren hauptsächlich transportiert werden, wo sie entladen werden und wohin der AN nach seinen Fahrten zurückkehrt (EuGH Rs Koelzsch, Rn 49). Zwar verfolgen Art 8 Abs 2 Rom I-VO und die Entsende-RL unterschiedliche Zwecke (treffend GA Bobek, C-815/18, Rn 90 ff), sodass die Kriterien für den gewöhnlichen Arbeitsort iSd Art 8 Abs 2 Rom I-VO und für eine Entsendung iSd Entsende-RL nicht zwingend gleich auszulegen sind. Wenn es jedoch bei mobilen AN sogar für die Bestimmung des gewöhnlichen Arbeitsorts iSd Art 8 Abs 2 Rom I-VO ausreicht, dass sie von diesem Staat aus401 ihre Transportfahrten durchführen, wird man bei mobilen Tätigkeiten auch für die Frage, ob ein AN in einen Staat entsandt (oder überlassen) worden ist, nicht zwingend verlangen können, dass die Transportfahrten hauptsächlich in diesem Staat durchgeführt werden.

Für dieses Ergebnis spricht auch der Zweck der Entsende-RL, der in der Förderung des länderübergreifenden Dienstleistungsverkehrs im Rahmen eines fairen Wettbewerbs unter Wahrung der Rechte der AN besteht. Wenn nämlich Unternehmen aus Niedriglohnstaaten ihre Fahrer an Unternehmen in Hochlohnstaaten entsenden (oder sogar überlassen), die im Hochlohnstaat ihre Fahrten beginnen und beenden und dort ihre Weisungen erhalten (möglicherweise bestehen auch noch weitere Verbindungspunkte zum Hochlohnstaat), dann ist die Anwendung der Entsende-RL sowohl zum Schutz der (entsandten) AN notwendig als auch zum Schutz des fairen Wettbewerbs, weil das Unternehmen aus dem Niedriglohnstaat (hier Ungarn) dann mit den Unternehmen im Hochlohnstaat (hier Niederlande) in den Wettbewerb tritt, die ihre AN vom Hochlohnstaat aus Fahrten durchführen lassen und gem Art 8 Abs 2 Rom I-VO die Arbeitsbedingungen dieses Hochlohnstaates einhalten müssen. Vor diesem Hintergrund sind die Ausführungen des EuGH in der Rn 50 miss- und unverständlich.

4.
Allgemein verbindlich erklärte Kollektivverträge

Die über die Transportbranche hinaus relevante letzte Frage, mit der sich die Große Kammer auseinanderzusetzen hatte, betrifft die Auslegung des Art 3 Abs 8 Entsende-RL. Der EuGH stellt zu Recht klar, dass die Frage, ob ein KollV für allgemein verbindlich erklärt worden ist, nach nationalem Recht zu beurteilen ist (Rn 66 ff). Die Erklärung kann nämlich nur nach dem nationalen Recht erfolgen; die Union hat diesbezüglich keine Kompetenzen. In weiterer Folge hat der EuGH aber den KollV, der nach dem nationalen Recht nicht für allgemein verbindlich erklärt worden ist, dennoch einem allgemein verbindlich erklärten KollV gleichgehalten, weil dessen Einhaltung Voraussetzung war, um von der Anwendung eines anderen KollV befreit zu werden, der seinerseits für allgemein verbindlich erklärt worden ist und dessen Bestimmungen im Wesentlichen mit dem ersten KollV identisch sind (Rn 71). Dem ist aus teleologischen Gründen zuzustimmen, weil in dieser Sondersituation sichergestellt war, dass die inländischen Unternehmen entweder ohnehin den allgemein verbindlich erklärten KollV einhalten oder von diesem nur dann befreit werden, wenn sie den nicht allgemein verbindlich erklärten KollV einhalten, der aber inhaltlich mit dem allgemein verbindlich erklärten KollV übereinstimmt. Damit sind die inländischen Unternehmen in der betreffenden Branche verpflichtet, die in diesen Kollektivverträgen geregelten Arbeitsbedingungen einzuhalten, sodass es gerechtfertigt ist, auch ausländische Unternehmen, die AN in diesen Staat entsenden, zu verpflichten, diese Arbeitsbedingungen auf entsandte AN zu erstrecken.

5.
Fazit und Ausblick

Die Große Kammer hat in der vorliegenden E wichtige Ausführungen zur Anwendung der Entsende- RL im Straßenverkehrssektor getroffen. Wesentlich ist zunächst, dass die Entsende-RL auf den Straßenverkehrssektor anwendbar ist. Ob ein Kraftfahrer als ein entsandter AN iSd Art 2 Abs 1 Entsende-RL anzusehen ist, hängt davon ab, ob er eine hinreichende Verbindung zum Aufnahmestaat aufweist. Während das beim reinen Transit und bei der bilateralen Beförderung nicht der Fall ist, ist das bei der Kabotage unabhängig von der Dauer der Tätigkeit im Aufnahmestaat zu bejahen. In diesen Punkten, die in der Zwischenzeit auch in Art 1 der neuen RL 2020/1057 ausdrücklich klargestellt wurden, ist dem EuGH zuzustimmen.

Der hier eigentlich zu beurteilende Sachverhalt bleibt jedoch in Ermangelung wichtiger Sachverhaltselemente völlig unklar. Aus der E geht nicht hervor, ob es im vorliegenden Fall um eine grenzüberschreitende Arbeitskräfteüberlassung iSd Art 1 Abs 3 lit c oder um eine „klassische“ Entsendung iSd Art 1 Abs 3 lit a (oder b) Entsende-RL ging. Im Falle einer Arbeitskräfteüberlassung wäre die Entsende-RL mE jedenfalls anwendbar; aber auch bei einer „klassischen“ Werkvertragsentsendung würden gewichtige Indizien für eine hinreichende Verbindung zu den Niederlanden und damit für die Anwendung der Entsende-RL vorliegen. Da das Kriterium der hinreichenden Verbindung zum Aufnahmestaat nunmehr ausdrücklich in die RL 2020/1057 aufgenommen wurde, bleibt zu hoffen, dass es der Gerichtshof in zukünftigen Verfahren noch weiter konkretisieren wird. Zu beachten ist aber, dass sich die RL 2020/1057 gem Art 1 Abs 2 (nur) auf länderübergreifende Maßnahmen iSd Art 1 Abs 3 lit a Entsende-RL bezieht (Tscherner, ecolex 2021, 569 [571]). Das bedeutet jedoch nicht, dass die grenzüberschreitende Arbeitskräfteüberlassung iSd Art 1 Abs 3 lit c Entsende-RL oder eine konzerninterne Entsendung iSd Art 1 Abs 3 lit b Entsende-RL im Straßenverkehrssektor nach Ablauf der Umsetzungsfrist der RL 2020/1057 nicht mehr als Entsendungen zu qualifizieren sein werden. Vielmehr werden sie auch in Zukunft nach der Entsende-RL 96/71 idF 2018/957 (siehe Art 3 Abs 3 RL 2018/957) zu beurteilen sein. Umso wichtiger wäre es gewesen, dass der EuGH in der vorliegenden E klarstellt, von welchem Sachverhalt er ausgeht und was er mit Rn 50 aussagen möchte.

In der Praxis stellen sich bei diesen Sachverhalten überdies noch deutlich komplexere Folgefragen, mit denen sich der EuGH in dieser E nicht auseinandersetzen musste. Wenn nämlich von den Niederlanden aus weitere Entsendungen (zB Kabotagetätigkeiten oder nicht bilaterale Beförderungen) in andere Staaten (etwa Frankreich oder Belgien) vorgenommen werden, ist fraglich, ob es sich dann um Entsendungen aus den Niederlanden in die weiteren Staaten handelt oder um Entsendungen aus Ungarn bzw Deutschland in diese Staaten. 402

In Art 1 Abs 3 lit c sublit ii idF Entsende-RL neu 2018/957 wurde eine neue Bestimmung eingeführt, nach der grenzüberschreitend überlassene AN, die vom Beschäftiger in einen weiteren Staat entsandt werden, als vom Überlasser in diesen weiteren Staat entsandt anzusehen sind. Das würde eher dafür sprechen, eine Entsendung aus Ungarn zB nach Frankreich oder Belgien anzunehmen, nicht jedoch aus den Niederlanden nach Frankreich oder Belgien, was für den Günstigkeitsvergleich im Hinblick auf die Arbeitsbedingungen, die auf die Fahrer anzuwenden sind, von Bedeutung ist. Dieses Ergebnis könnte dadurch untermauert werden, dass eine Entsendung grundsätzlich aus dem Staat erfolgt, in dem der gewöhnliche Arbeitsort des AN iSd Art 8 Abs 2 Rom I-VO liegt. Ob das aber auch der EuGH so sehen würde, bleibt abzuwarten. Es ist wohl nur eine Frage der Zeit, bis auch solche „Folgefragen“, die hier aus Platzgründen nicht umfassend behandelt und abschließend geklärt werden können, an ihn herangetragen werden.

Zuletzt ist zu betonen, dass die hier diskutierten Probleme in Zukunft auch österreichische Gerichte beschäftigen werden. Der VwGH war erst kürzlich mit einem Fall befasst, in dem er zu beurteilen hatte, ob LKW-Fahrer aus Ungarn nach Österreich überlassen oder entsandt worden sind und ob die Entsende-RL in diesem Fall anzuwenden war (VwGH 24.6.2021, Ra 2017/09/0005). Der VwGH gibt die Ausführungen des EuGH in der Rs C-815/18 wieder, betont aber zu Recht, dass zunächst geprüft werden muss, ob die Kriterien für eine Arbeitskräfteüberlassung iSd Art 1 Abs 3 lit c Entsende-RL vorliegen, die der EuGH in der Rs Martin Meat aufgestellt hat. Da dem VwGH zufolge jedoch wichtige Tatsachenfeststellungen des VwG zur Beurteilung dieser Frage sowie auch zu der Frage fehlten, ob die LKW-Fahrer eine hinreichende Verbindung iSd EuGH-E C-815/18 zu Österreich hatten, wird das VwG im fortgesetzten Verfahren Feststellungen zu diesen Fragen treffen müssen. Weitere Entscheidungen zu diesen und ähnlichen Fragen im Transportsektor dürfen mit Spannung erwartet werden.