190

Auswahlermessen des Unfallversicherungsträgers nur bei gleichwertigen Hilfsmitteln

FABIANGAMPER

Der Versicherte hat zwar einen „Grund-“Anspruch auf die erforderliche und geeignete Versorgung gem § 202 Abs 1 ASVG, nicht jedoch Anspruch auf ein von ihm gewünschtes bestimmtes Hilfsmittel.

Die Entscheidung, welches Hilfsmittel im Einzelfall geeignet ist, trifft der Unfallversicherungsträger. Ein solches Auswahlermessen steht dem Unfallversicherungsträger allerdings nur (und erst) dann zu, wenn mehrere iSd § 202 Abs 1 ASVG gleichwertige Alternativen zur Wahl stehen.

Gleichwertige Alternativen iSd § 202 Abs 1 ASVG liegen nur vor, wenn Hilfsmittel sowohl medizinisch objektiv erforderlich als auch subjektiv den persönlichen und beruflichen Verhältnissen des Versicherten entsprechen. Nur in einem solchen Fall sind auch die Kosten eines Hilfsmittels von Bedeutung.

Sachverhalt

Der Kl erlitt am 12.10.1981 einen Arbeitsunfall mit einem kompletten Querschnittssyndrom, seitdem er auf den Gebrauch eines Rollstuhles angewiesen ist. Die Bekl hat derzeit den Kl zwei modellgleiche Rollstühle aus den Jahren 2014 und 2017 als Hilfsmittel zur Verfügung gestellt. Der Kl ist als unselbständiger Versicherungsmakler tätig. Pro Kundenbesuch sind je zwei Verlade- und zwei Entladevorgänge des Rollstuhles aus und in den PKW notwendig. Ein Leichtbau-Rollstuhl würde dabei zu einer bis zu 50 % niedrigeren Belastung führen. Dadurch könnten die degenerativen Veränderungen des Kl zwar nicht gebessert werden, aber mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in ihrem raschen Fortschreiten verzögert werden. Mit Bescheid vom 28.8.2019 wies die Bekl die Übernahme der Kosten für die Anschaffung eines Carbonrollstuhls ab. Dies mit der Begründung, dass dieser nicht die beste Versorgung für den Kl darstelle und vielmehr ein neuerliches Rollstuhltraining und eine Verladehilfe für den PKW erforderlich sei.

Verfahren und Entscheidung

Gegen diesen Bescheid brachte der Kl Klage ein und das Erstgericht verpflichtete die Bekl, die Kosten für die Anschaffung des Carbonrollstuhls oder eines gleichartigen Rollstuhls zu übernehmen.396

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Bekl Folge und wies das Klagebegehren ab, die angebotene Verladehilfe und das neuerliche Rollstuhltraining stelle ein erforderliches und geeignetes Hilfsmittel iSd § 202 Abs 1 ASVG dar.

Dagegen richtet sich die außerordentliche Revision des Kl, mit dem er die Stattgebung der Klage anstrebt. Die Revision ist zur Klarstellung der Rechtslage zulässig und sie ist iSd hilfsweise vom Kl gestellten Aufhebungsantrags auch berechtigt.

Originalzitate aus der Entscheidung

„1.1 Gemäß § 202 Abs 1 ASVG hat der Versehrte Anspruch auf Versorgung mit Körperersatzstücken, orthopädischen Behelfen und anderen Hilfsmitteln, die erforderlich sind, um den Erfolg der Heilbehandlung zu sichern oder die Folgen des Arbeitsunfalls oder der Berufskrankheit zu erleichtern. Alle diese Hilfsmittel müssen den persönlichen und beruflichen Verhältnissen des Versehrten angepasst sein [...].

1.2 Danach hat der Versehrte Anspruch auf das erforderliche (geeignete) Hilfsmittel, um die von § 202 Abs 1 ASVG angestrebten Zwecke zu erreichen. Ein Hilfsmittel muss einerseits objektiv medizinisch erforderlich und geeignet sein, die vom Gesetzgeber in dieser Bestimmung angestrebten Zwecke zu erfüllen. Andererseits ist die Erforderlichkeit und Eignung auch subjektiv unter Berücksichtigung der individuellen persönlichen und beruflichen Verhältnisse des Versehrten im jeweiligen konkreten Fall zu beurteilen. Das „erforderliche“ Hilfsmittel muss daher seinen persönlichen und beruflichen Verhältnissen angepasst sein, es darf insofern keine „Überversorgung“ stattfinden. Es besteht kein Anspruch auf ein jeweils dem letzten Stand der Technik entsprechendes Hilfsmittel (10 ObS 161/16y SSV-NF 31/4). [...]

2.2 Nach den bisher getroffenen Feststellungen lässt sich nicht beurteilen, ob der vom Kläger begehrte Carbonrollstuhl objektiv medizinisch erforderlich und geeignet ist, die vom Gesetzgeber in § 202 Abs 1 ASVG angestrebten Zwecke zu erfüllen. Denn es steht zwar fest, dass ein leichterer Rollstuhl beim Verladen die Gelenke, Muskeln, Bänder und Kapseln weniger belastet und deren Abnützung hintanhalten kann. Beim Vortrieb des Rollstuhls – auf dessen Rolle der Kläger selbst schon in der Klage Bezug nahm – spielen jedoch neben dem Gewicht des Rollstuhls (unabhängig vom gewählten Modell) andere Faktoren eine wesentliche Rolle, darunter auch die korrekte Sitzposition. Es steht also [...] hier nicht fest, ob die Verwendung eines Carbonrollstuhls zu wesentlichen Gebrauchsvorteilen bei der beruflichen Tätigkeit führt. Insb fehlen Feststellungen über die Auswirkungen der weiteren vom Berufungsgericht ergänzend genannten Faktoren wie Größe der Lenkräder und Ausbalancierung des Schwerpunkts des Carbonrollstuhls, um beurteilen zu können, ob dieses Hilfsmittel erforderlich im Sinn des § 202 Abs 1 ASVG ist. Schon aus diesem Grund erweist sich das Verfahren als ergänzungsbedürftig, sodass auf die behauptete Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens nicht mehr eingegangen werden muss.

3.1 Im fortzusetzenden Verfahren werden daher zunächst Feststellungen zu treffen sein, aus denen sich beurteilen lässt, ob die Versorgung des Klägers mit dem von ihm gewünschten Carbonrollstuhl oder einem gleichartigen Leichtbaurollstuhl eines anderen Herstellers objektiv medizinisch erforderlich ist, um die Folgen des Arbeitsunfalls für den Kläger in dem von der Unfallversicherung angestrebten weitestgehenden Umfang (10 ObS 56/16g, Pkt 3.1) zu erleichtern. Für das Vorliegen des rechtserzeugenden Sachverhalts trifft den Kläger die objektive Beweislast (RIS-Justiz RS0103347 [T2]). Dazu werden Feststellungen über das Vorhandensein und die Qualitäten allenfalls vergleichbarer Leichtbaurollstühle zu treffen sein. [...]

3.2 Sollte sich danach herausstellen, dass der vom Kläger begehrte Carbonrollstuhl oder ein gleichwertiger Leichtbaurollstuhl eines anderen Herstellers ein objektiv medizinisch erforderliches Hilfsmittel ist, wird darauf Bedacht zu nehmen sein, dass dieses Hilfsmittel den persönlichen und beruflichen Verhältnissen des Klägers angepasst, daher auch subjektiv erforderlich und geeignet sein muss. Der Kläger ist für seine Tätigkeit als Versicherungsmakler zur Durchführung von Kundenbesuchen unstrittig auf die Verwendung eines Personenkraftwagens angewiesen. [...]

4.1 Erweist sich der vom Kläger gewünschte Carbonrollstuhl oder ein gleichartiger Leichtbaurollstuhl eines anderen Herstellers danach als objektiv und subjektiv erforderliches Hilfsmittel im Sinn des § 202 Abs 1 ASVG, wird in einem weiteren Schritt zu prüfen sein, ob der von der Beklagten angebotene Aktivrollstuhl samt Verladehilfe ein im Sinn des § 202 Abs 1 ASVG ebenso objektiv und subjektiv geeignetes Hilfsmittel darstellt. Die Beweislast dafür trifft die Beklagte (10 ObS 56/16g, Pkt 8.3).

4.2 Dazu sind bisher vom Erstgericht keine Feststellungen getroffen worden. Das Berufungsgericht hat lediglich festgestellt, dass eine Verladehilfe die Belastung der Gelenke und der Wirbelsäule beim Ein- und Ausladen des Rollstuhls „signifikant“ verringere und diese medizinisch indiziert sei. Im fortzusetzenden Verfahren werden nähere Feststellungen zur Frage zu treffen sein, ob überhaupt, und wenn ja, welche Gewichtsbelastung bei Verwendung einer Verladehilfe gegeben ist. Sollte damit eine Gewichtsbelastung verbunden sein, wird zu klären sein, ob die Belastung von Muskeln, Kapseln, Bändern und Gelenken des Klägers bei Verwendung einer Verladehilfe geringer oder höchstens gleich groß 397ist wie bei Verwendung eines Carbonrollstuhls (ohne Verladehilfe), und ob dies bei einer Gesamtbetrachtung auch unter Berücksichtigung der durch den Vortrieb der bisher vom Kläger verwendeten bzw des nunmehr mit der Verladehilfe angebotenen Aktivrollstuhls verursachten Abnützungserscheinungen der Fall ist.

4.3 Der Versicherte hat nämlich zwar einen „Grund“anspruch auf die erforderliche und geeignete Versorgung gemäß § 202 Abs 1 ASVG, nicht jedoch Anspruch auf ein von ihm gewünschtes bestimmtes Hilfsmittel. Dies ergibt sich schon aus dem Wortlaut des § 202 Abs 1 ASVG [...]. Die Entscheidung, welches Hilfsmittel im Einzelfall geeignet ist, trifft der Unfallversicherungsträger. Ein solches Auswahlermessen steht dem Unfallversicherungsträger allerdings nur (und erst) dann zu, wenn mehrere im Sinn des § 202 Abs 1 ASVG gleichwertige Alternativen zur Wahl stehen [...]. Gleichwertige Alternativen im Sinn des § 202 Abs 1 ASVG liegen nur vor, wenn Hilfsmittel sowohl medizinisch objektiv erforderlich als auch subjektiv den persönlichen und beruflichen Verhältnissen des Versicherten entsprechen. Nur in einem solchen Fall sind auch die Kosten eines Hilfsmittels von Bedeutung, weil auch die Unfallversicherungsträger in ihrer gesamten Gebarung an die Grundsätze der Sparsamkeit, Wirtschaftlichkeit und Zweckmäßigkeit („Ökonomiegebot“) gebunden sind und eine Überversorgung der Versicherten vermieden werden soll.

4.4 Sollte sich daher – wofür die Beklagte beweispflichtig ist – der von ihr angebotene Aktivrollstuhl samt Verladehilfe als ein im Sinn des § 202 Abs 1 ASVG (ebenso) objektiv und subjektiv erforderliches (geeignetes) Hilfsmittel erweisen, steht entgegen seiner Rechtsansicht nicht dem Kläger das Wahlrecht zwischen beiden Hilfsmitteln zu, sondern liegt die Entscheidung bei der Beklagten. Daher kommt dem Einwand des Klägers, der Einbau einer Verladehilfe in sein Auto komme teurer als die Anschaffung des von ihm begehrten Carbonrollstuhls, keine Relevanz zu.“

Erläuterung

Hat ein Arbeitsunfall oder eine Berufskrankheit eine körperliche Schädigung des oder der Versicherten zur Folge, ist der Unfallversicherungsträger zur Unfallheilbehandlung verpflichtet. Ziel der Unfallheilbehandlung nach § 189 ASVG ist, dass die durch den Arbeitsunfall oder Berufskrankheit hervorgerufene Gesundheitsstörung bzw Körperbeschädigung oder verursachte Minderung der Erwerbsfähigkeit bzw der Fähigkeit zur Besorgung der lebenswichtigen persönlichen Angelegenheiten mit allen geeigneten Mitteln beseitigt, verbessert oder zumindest verbessert und eine Verschlimmerung der Folgen der Verletzung verhindert wird. Der bzw die Versicherte hat gem § 202 Abs 1 ASVG ua Anspruch auf die Versorgung mit allen geeigneten Hilfsmitteln, die erforderlich sind, um den Erfolg der Heilbehandlung zu sichern bzw die Folgen zu erleichtern. Maßstab dabei ist die höchstmöglichste Versorgungsqualität. Dieser grundsätzlich weit gefasste Anspruch auf erforderliche Hilfsmittel wird jedoch dadurch begrenzt, dass sie den persönlichen und beruflichen Verhältnissen des Versehrten angepasst sein müssen. Dies soll verhindern, dass es zu einer sogenannten Überversorgung des oder der Versicherten kommt.

Beachtlich ist die E des OGH insb deswegen, weil er nun ausgesprochen hat, dass die Wahl des geeigneten Hilfsmittels bereits gem § 202 ASVG dem Unfallversicherungsträger zukommt. Eines Rückgriffs auf § 193 ASVG bedarf es nicht (vgl noch die anderslautende Argumentation in OGH 13.9.2016, 10 ObS 56/16g, Pkt 6.2). Weiters präzisiert der OGH das Auswahlermessen des Unfallversicherungsträgers aber erfreulicherweise dahingehend, dass dieses nur besteht, wenn mehrere gleichwertige Alternativen an Hilfsmitteln zur Wahl stehen. Als gleichwertig gelten Hilfsmittel nur, wenn sie objektiv medizinisch erforderlich sind und subjektiv den persönlichen und beruflichen Verhältnissen des Versicherten entsprechen. Für den Nachweis der Gleichwertigkeit eines alternativen Hilfsmittels trägt der Unfallversicherungsträger die Beweislast. Wie vom OGH ausgeführt, unterliegen auch die Unfallversicherungsträger in ihrem gesamten Vollzug einem „Ökonomiegebot“, jedoch kann der Unfallversicherungsträger nur bei Vorliegen der Gleichwertigkeit eine kostengünstigere Alternative wählen.