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Überwiegende Beanspruchung durch Ausbildung entscheidend für Anspruch auf Waisenpension

CAROLINEKRAMMER

Die Kindeseigenschaft nach § 252 Abs 1 Z 2 ASVG besteht auch fort, wenn die Waise aus einer Erwerbstätigkeit, die sie neben einer ihre Arbeitskraft überwiegend in Anspruch nehmenden Ausbildung ausübt, ein zur Selbsterhaltungsfähigkeit führendes Einkommen erzielt.

Sachverhalt

Die 1995 geborene Kl bezog ab 1.12.2013 eine Waisenpension von der bekl Pensionsversicherungsanstalt. Seit 1.4.2020 erzielt sie aus einem Dienstverhältnis im Ausmaß von 24 Wochenstunden, 398 verteilt auf drei Wochentage, ein monatliches Bruttoeinkommen von € 1.703,22. Zusätzlich studiert sie an einer Fachhochschule im Masterstudiengang, sowie an der Johannes Kepler Universität im Masterstudium. Die dafür aufgewendete Zeit übertraf im Sommersemester 2020 bei weitem das Ausmaß von 24 Wochenstunden.

Mit Bescheid vom 21.4.2020 entzog die Bekl die Waisenpension mit Ablauf des Monats April 2020 mit der Begründung, die Arbeitskraft der Kl würde durch das seit 1.4.2020 bestehende Dienstverhältnis nicht mehr überwiegend beansprucht.

Verfahren und Entscheidung

Die Kl begehrte die Weitergewährung der Waisenpension. Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt. Es begründete die Entscheidung damit, dass die Arbeitskraft der Kl von ihren Studien überwiegend in Anspruch genommen werde und das nicht aus der Ausbildung erzielte Erwerbseinkommen dabei nicht zu berücksichtigen sei.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Bekl Folge und wies das Klagebegehren ab. Als Begründung wurde die im Schrifttum kritisierte OGH-Rsp dargelegt und argumentiert, die Waisenpension bezwecke den entfallenden Unterhalt zu ersetzen und solle im Ergebnis das Scheitern einer Berufsausbildung verhindern. Auch neben der Ausbildung bezogene, die Selbsterhaltungsfähigkeit sichernde Entgelte müssten daher den Anspruch auf Waisenpension beseitigen, da den Materialien zur 29. ASVG-Novelle die Absicht des Gesetzgebers, den Zweck der Waisenpension zu ändern, nicht zu entnehmen sei.

Der OGH hielt die Revision der Kl für zulässig und berechtigt. Er gab der Revision Folge. Das Urteil des Erstgerichts wurde wiederhergestellt.

Originalzitate aus der Entscheidung

2.1 Zu § 252 ASVG idF der 29. ASVG-Novelle judiziert der Oberste Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung, dass neben der die Arbeitskraft überwiegend beanspruchenden Schul- oder Berufsausbildung erzielte Einkünfte dem Anspruch auf Waisenpension nicht schaden (RIS-Justiz RS0089658; RS0085139; 10 ObS 27/19x SSV-NF 33/24). Hintergrund ist die Wertung, dass ein Kind, das sich überwiegend einer Schul- oder Berufsausbildung widmet, in der Regel so beansprucht wird, dass ihm eine die Selbsterhaltungsfähigkeit garantierende Berufstätigkeit nicht zugemutet werden kann. Übt es eine solche dennoch aus, so vernichtet die Erwerbstätigkeit den Anspruch auf Waisenpension nicht (10 ObS 120/15t SSV-NF 30/17; RS0085139). Das entspricht dem Zweck der Waisenpension, den Lebensunterhalt einer Waise nach dem Tod des bisher Unterhalt Leistenden zu sichern und eine entsprechende Schul- oder Berufsausbildung zu gewährleisten (10 ObS 120/15t). Wenn die Waise neben ihrer Schul- oder Berufsausbildung einer Erwerbstätigkeit nachgeht, ist – so wie vom Gesetz vorgegeben – das Verhältnis zwischen der Beanspruchung der Arbeitskraft durch die Ausbildung und der Beanspruchung durch die Erwerbstätigkeit maßgebend. Überwiegt die Inanspruchnahme durch die Erwerbstätigkeit, so fehlt es an der vom Gesetz geforderten überwiegenden Beanspruchung der Arbeitskraft durch die Ausbildung (10 ObS 120/15t mwN).

2.2 Ob die Arbeitskraft durch eine Schul- oder Berufsausbildung überwiegend beansprucht wird, ist durch den Vergleich der konkreten Auslastung der Arbeitskraft mit der von der geltenden Arbeitsordnung oder Sozialordnung, wie etwa im Arbeitszeitgesetz oder in den Kollektivverträgen für vertretbar gehaltenen Gesamtbelastung zu ermitteln (RS0085184; 10 ObS 33/18bSSV-NF 32/33). Richtschnur ist dabei ein durchschnittliches wöchentliches Ausmaß von 20 Stunden. Liegt der zeitliche Aufwand für die Ausbildung darunter, liegt keine Kindeseigenschaft mehr vor (RS0085184 [T5]; 10 ObS 33/18b).

2.3 Im vorliegenden Fall ist unstrittig, dass der Zeitaufwand für ein Masterstudium und einen Masterstudienlehrgang jenen für die Teilzeitbeschäftigung im Ausmaß von 24 Wochenstunden bei weitem übersteigt und daher das Studium die Arbeitskraft der Klägerin überwiegend in Anspruch nimmt.

3.1 Einkommen, die aus der Ausbildungstätigkeit selbst stammen, lassen nach der Rechtsprechung die Kindeseigenschaft nur dann weiterbestehen, wenn im Rahmen der Ausbildung kein oder nur ein geringes, die Selbsterhaltungsfähigkeit nicht sicherndes Entgelt bezogen wird (RS0085125; 10 ObS 67/18bSSV-NF 32/53; 10 ObS 27/19xSSV-NF 33/24). […]

3.2 So lassen eine Lehrlingsentschädigung (10 ObS 134/91 SSV-NF 5/56), ein ausnahmsweises zuerkanntes Arbeitslosengeld während der Ausbildung in einer Fachschule (10 ObS 229/91 SSV-NF 5/91), der Ausbildungsbeitrag für Rechtspraktikanten (10 ObS 38/13f SSV-NF 27/22), ein Fachkräftestipendium des Arbeitsmarktservice (10 ObS 67/18b SSV-NF 32/53) in einer zumindest den Ausgleichszulagenrichtsatz erreichenden Höhe (10 ObS 72/17m SSV-NF 31/41 mwN) sowie ein aufgrund eines Praktikumsvertrags von der ausbildenden Stelle gewährtes Stipendium, das zuzüglich der Leistungen des AMS während der Ausbildung den Ausgleichszulagenrichtsatz übersteigt (10 ObS 27/19x SSV-NF 33/24), die Kindeseigenschaft wegfallen.399

4.1 Diese Differenzierung zwischen neben und aus (oder im Zusammenhang mit) der Ausbildungstätigkeit erzielten Einkünften kritisierten in der Lehre Standeker (Verlängerte Kindeseigenschaft und Waisenpension, ZAS 2001, 129 ff) undR. Müller (Richterliche Rechtsfortbildung im Leistungsrecht der Sozialversicherung,

[473 f]) unter anderem als mit dem verfassungsrechtlichen Gleichheitssatz nicht vereinbar. […]

4.2 Der Senat sieht sich durch diese – schon längere Zeit zurückliegende – Kritik im Schrifttum nicht dazu veranlasst, von seiner ständigen Rechtsprechung abzugehen. Die Waisenpension soll als Unterhaltssurrogat den Wegfall der Unterhaltsleistung ausgleichen und eine entsprechende Schul- oder Berufsausbildung gewährleisten (10 ObS 150/15d SSV-NF 30/19; 10 ObS 27/19x SSV-NF 33/24). Stellen die aus der Ausbildung selbst erzielten Einkünfte die Selbsterhaltungsfähigkeit sicher, führt der subsidiäre Charakter der Waisenpension zu ihrem Entfall. Die Ausbildung ist – ohne zusätzliche Erwerbstätigkeit – ebenso gesichert wie die Deckung des Lebensaufwandes. Neben einem Studium, das die Arbeitskraft wie im vorliegenden Fall überwiegend beansprucht, muss eine Waise nicht zusätzlich einer Beschäftigung nachgehen. Kann sie aber neben einer zeitintensiven Ausbildung – wie im vorliegenden Fall nach den Feststellungen des Erstgerichts anzunehmen ist – nur aufgrund besonderer Anstrengung und/oder besonderen Fähigkeiten aus einer Teilzeitbeschäftigung Einkünfte in oder über Höhe des Ausgleichszulagenrichtsatzes erzielen, ist es nicht sachgerecht, diesen besonderen Einsatz mit dem Verlust der Waisenpension zu „sanktionieren“. Dann müsste die Waise ihr Studium nämlich erst recht – bis an die Grenzen ihrer Leistungskraft oder darüber hinausgehend – über eine daneben ausgeübte Erwerbstätigkeit finanzieren, wozu sie aber nicht verpflichtet ist. Dieses Ergebnis widerspricht den Wertungen des Gesetzgebers, der das Kriterium der Selbsterhaltungsfähigkeit mit der 29. ASVG-Novelle aufgegeben hat. […]

5. Ergebnis: Die Kindeseigenschaft nach § 252 Abs 1 Z 2 ASVG besteht auch dann fort, wenn die Waise aus einer Erwerbstätigkeit, die sie neben einer ihre Arbeitskraft überwiegend in Anspruch nehmenden Ausbildung ausübt, ein zur Selbsterhaltungsfähigkeit führendes Einkommen erzielt.

Erläuterung

Gegenstand des Verfahrens ist die Frage, ob neben der die Arbeitskraft überwiegend beanspruchenden Schul- oder Berufsausbildung erzielte Einkünfte dem Anspruch auf Waisenpension schaden. Dies wird vom OGH unter Verweis auf die stRsp verneint. Außerdem wird die Differenzierung zwischen neben und aus (oder im Zusammenhang mit) der Ausbildungstätigkeit erzielten Einkünften thematisiert.

In seiner Stammfassung (BGBl 1955/189) wurde im ASVG für die Frage des Verlustes der Kindeseigenschaft bei Erwerbseinkommen auf die Selbsterhaltungsfähigkeit abgestellt. Mit der Neufassung des § 252 ASVG durch die 29. Novelle zum ASVG (BGBl 1973/31) wurde das Kriterium der Selbsterhaltungsfähigkeit durch die leichter feststellbaren Merkmale der überwiegenden Inanspruchnahme der Arbeitskraft durch die Schul- oder Berufsausbildung ersetzt (OGH 10 ObS 67/18b SSV-NF 32/53; ErläutRV 404 BlgNR 13. GP 88). Ob die Arbeitskraft durch eine Schul- oder Berufsausbildung überwiegend beansprucht wird, ist nunmehr durch den Vergleich der konkreten Auslastung der Arbeitskraft mit der für vertretbar gehaltenen Gesamtbelastung zu ermitteln. Dabei liegt der Richtwert für den zeitlichen Aufwand der Ausbildung bei einem durchschnittlichen Ausmaß von 20 Wochenstunden. Wird dieser unterschritten, liegt keine Kindeseigenschaft mehr vor.

Sichern die aus der Ausbildung selbst erzielten Einkünfte die Selbsterhaltungsfähigkeit, führt der subsidiäre Charakter der Waisenpension hingegen zu ihrem Entfall. Die Differenzierung wird damit begründet, dass in diesem Fall die Ausbildung, wie auch die Deckung des Lebensaufwandes, auch ohne zusätzliche Erwerbstätigkeit gesichert ist. Kann die Waise aber neben einer zeitintensiven Ausbildung nur aufgrund besonderer Anstrengung und/oder besonderen Fähigkeiten aus einer Teilzeitbeschäftigung Einkünfte (in oder über der Höhe des Ausgleichszulagenrichtsatzes) erzielen, ist es nicht sachgerecht, diesen besonderen Einsatz mit dem Verlust der Waisenpension zu „sanktionieren“.

Im vorliegenden Fall ist unstrittig, dass der Zeitaufwand für ein Masterstudium und einen Masterstudienlehrgang jenen für die Teilzeitbeschäftigung bei weitem übersteigt und daher das Studium die Arbeitskraft der Kl überwiegend in Anspruch nimmt. Im Ergebnis sieht sich der OGH nicht dazu veranlasst, von seiner stRsp abzugehen. Die Waisenpension soll als Unterhaltssurrogat den Wegfall der Unterhaltsleistungen ausgleichen und eine entsprechende Schul- oder Berufsausbildung gewährleisten. Damit besteht die Kindeseigenschaft nach § 252 Abs 1 Z 2 ASVG aber auch dann fort, wenn die Waise Einkünfte aus einer neben der die Arbeitskraft überwiegend in Anspruch genommenen Schul- oder Berufsausbildung ausgeübten Erwerbstätigkeit erzielt. 400