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Posttraumatische Belastungsstörung eines Polizisten nach mehrtägigem Einsatz am Hauptbahnhof während Flüchtlingskrise 2015 kein Dienstunfall

SOPHIAMARCIAN

Betriebliche Ereignisse, die nicht im Einzelnen, sondern erst in ihrer Gesamtheit eine messbare Gesundheitsstörung zur Folge haben, stellen keinen Arbeitsunfall dar, wenn sie in einer über eine Arbeitsschicht hinausgehenden Zeit eintreten.

Sachverhalt

Der Kl, ein Polizist mit langjähriger Diensterfahrung, war in seiner Position als Polizeioffizier (Major) im September 2015 zu insgesamt vier Diensten am Hauptbahnhof eingeteilt und hatte die Aufgabe, die ankommenden Flüchtlinge zu koordinieren und am Bahnhof für Sicherheit zu sorgen. Er war für etwa 100 PolizistInnen verantwortlich. Für den Kl war die Situation am Hauptbahnhof in diesen Tagen sehr dramatisch, es kam immer wieder zu gewaltsamen Zwischenfällen, zB wenn die Flüchtlinge versuchten, einen Zug nach Deutschland zu erwischen. Die Verständigung war nur sehr schwierig möglich und auch die persönliche Situation der Flüchtlinge aufgrund der Strapazen der Flucht war schlecht und belastend für den Beamten. Es gab dabei auch einen Zwischenfall 403 mit einer Mutter und ihrem Kind, die im Gedränge der Menschenmenge bei einem Absperrgitter eingeklemmt wurden, die den Polizisten bis heute stark belastet. Zudem plagten ihn während des gesamten Einsatzes Versagensängste und Panik. Zunächst arbeitete der Kl weiter, ließ sich dann aber aufgrund zunehmender psychischer Probleme im Jahr 2019 krankschreiben. Er begehrte im selben Jahr die Anerkennung einer posttraumatischen Belastungsstörung als Folge eines Arbeitsunfalles oder einer Berufskrankheit aus dem Einsatz am Hauptbahnhof im Jahr 2015. Die Unfallversicherungsanstalt lehnte dies ab.

Verfahren und Entscheidung

Das Erstgericht gab der Bekl Recht und wies das Klagebegehren mit der Begründung, der Unfallbegriff sei nicht erfüllt, ab. Das Berufungsgericht bestätigte die Entscheidung der ersten Instanz, ließ jedoch die ordentliche Revision zu, weil eine Klarstellung des Begriffs „zeitlich begrenztes Ereignis“ durch das Höchstgericht geboten erschiene.

Der OGH sah die Revision des Kl als zulässig, aber nicht berechtigt an.

Originalzitate aus der Entscheidung

[…]

„2.1 Der Unfall unterscheidet sich von der (hier nicht mehr geltend gemachten) Berufskrankheit durch den Zeitraum, in dem er sich ereignet: Während sich die Berufskrankheit typischerweise während eines längeren Zeitraums entwickelt, mag sie auch mitunter plötzlich zu Gesundheitsstörungen führen, versteht man unter einem Unfall ein im Allgemeinen von außen auf Geist und/oder Körper einwirkendes, meist plötzlich eintretendes, zumindest aber zeitlich eng begrenztes Ereignis, durch das eine Gesundheitsschädigung oder der Tod bewirkt wird […].

2.2 Für den Unfallbegriff nicht maßgeblich ist, ob die Körperschädigung durch eine physische oder eine psychische Wirkung (zB einen Nervenschock) hervorgerufen wird […].

2.3 „Plötzlichkeit“ muss nicht Einmaligkeit heißen. Die Rechtsprechung hat die äußerste zeitliche Grenze bei der Dauer einer Arbeitsschicht gezogen (10 ObS 45/12h SSV-NF 26/31 ua; R. Müller in SV-Komm Vor §§ 174–177 ASVG Rz 8). Betriebliche Ereignisse, die nicht im Einzelnen, sondern erst in ihrer Gesamtheit eine messbare Gesundheitsstörung zur Folge haben, stellen keinen Arbeitsunfall dar, wenn sie in einer über eine Arbeitsschicht hinausgehenden Zeit eintreten (10 ObS 96/11g SSV-NF 25/84; 10 ObS 10/03y SSV-NF 17/15; grundlegend 10 ObS 224/98h SSV-NF 12/89). Die letzte körperliche oder seelische Belastung stellt dann nur das Endglied einer Kette von Ereignissen dar, die allmählich eingewirkt haben, ohne dass einem einzelnen dieser Ereignisse die Bedeutung eines Arbeitsunfalls beigemessen werden kann […]. […]

3.1 Im vorliegenden Fall macht der Kläger geltend, dass er infolge der Ereignisse während insgesamt vier (von Ruhezeiten unterbrochenen) Dienste eine Gesundheitsstörung erlitten habe. Die von der Rechtsprechung für die zeitliche Begrenzung eines Unfallereignisses herausgearbeitete Dauer einer Arbeitsschicht ist damit überschritten.

[…]

4.1 Gemäß dem seit 1.1.1997 geltenden § 8 Abs 1 Satz 2 des deutschen SGB VII sind Unfälle „zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen“. Dieser Unfallbegriff übernahm den bereits zuvor von der deutschen Rechtsprechung verwendeten Unfallbegriff (Krasney in Krasney/Burkhardt/Kruschinsky/Becker, Gesetzliche Unfallversicherung [SGB VII] – Kommentar [37. Lfg] § 8 Rn 2), der auch dem in Österreich verwendeten Unfallbegriff entspricht.

4.2 Auch nach deutscher Rechtsprechung und Lehre dient die zeitliche Begrenzung der Abgrenzung des Unfalls von der Krankheit. Auch dort wird angenommen, dass die Arbeitsschicht die äußerste zeitliche Grenze bildet: Neben der Verletzung, zB durch Gegenstände, Insektenstiche oder Bisse, kommen etwa auch Infektionskrankheiten als Unfall in Betracht, wenn die Infektion durch Einwirkungen innerhalb einer Arbeitsschicht die Gesundheitsstörung hervorruft (vgl nur Krasney, SGB VII § 8 Rn 635 mzwH; Holstraeter in Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann, Kommentar zum Sozialrecht6 § 8 SGB VII Rn 2 mwH; Lauterbach, Unfallversicherung – Sozialgesetzbuch VII4 [70. Lfg] § 8 SGB VII Rn 27; BSG 2 RU 17/84; B 2 U 1/98 R; B 2 U 2/11 R, Rn 24 mwH).

[…]

4.4 Wenn […] bei über mehreren Arbeitsschichten auftretenden zB Gewalteinwirkungen sich eine einzelne Gewalteinwirkung aus der Gesamtheit derart hervorhebt, dass sie nicht nur die letzte von mehreren für den Erfolg gleichwertigen Einwirkungen erscheint, so ist diese eine, eigenständige Gewalteinwirkung für die Schädigung von wesentlicher Bedeutung und damit ein Unfall im Sinn der Unfallversicherung (Krasney, SGB VII § 8 Rn 636 mwH; Ricke in Kasseler Kommentar [112. Lfg] SGB VII § 8 Rn 23; Keller in Hauck/Noftz, SGB VII, K § 8 Rn 12 mwH; Mehrtens/Valentin/Schönberger, Arbeitsunfall und Berufskrankheit9 10; Wietfeld in Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching, Beck-OK SozR, 60. Edition SGB VII § 8 Rn 100).

4.5 Dem entspricht auch die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs: Bereits in der Entscheidung 10 ObS 224/98hwurde ausgeführt, dass betriebliche Ereignisse, die nicht im Einzelnen, sondern erst in ihrer Gesamtheit eine messbare Gesundheitsstörung zur Folge haben, keinen Arbeitsunfall darstellen, wenn sie in einer über eine Arbeitsschicht hinausreichenden Zeit eintreten. Die letzte körperliche oder seelische Belastung am Todestag ist dann nur 404das Endglied einer Kette von alltäglichen Ereignissen, die allmählich eingewirkt haben, ohne dass einem einzelnen Ereignis davon die Bedeutung eines Arbeitsunfalls beigemessen werden könnte. Ein solches zeitlich begrenztes psychisches Ereignis – etwa ein psychisches Trauma – als dessen kausale Folge der Entschluss zum Selbstmord fällt, kann einen Unfall darstellen (10 ObS 10/03y SSV-NF 17/15 ua, RS0110322).

Klarzustellen ist, dass es nicht unbedingt das letzte von mehreren betrieblichen Ereignissen, die sich über mehr als eine (bestimmte) Arbeitsschicht erstrecken, sein muss, das für die Schädigung von wesentlicher Bedeutung ist.

4.6 Ergebnis:

a) Betriebliche Ereignisse, die nicht im Einzelnen, sondern erst in ihrer Gesamtheit eine messbare Gesundheitsstörung zur Folge haben, sind kein Arbeitsunfall, wenn sie in einer über eine Arbeitsschicht hinausgehenden Zeit eintreten.

b) Bei Verteilung mehrerer physischer oder psychischer Ereignisse über einen über eine Arbeitsschicht hinausgehenden Zeitraum ist „Plötzlichkeit“ – und damit ein Arbeitsunfall im Sinn der gesetzlichen Unfallversicherung – nur dann zu bejahen, wenn sich ein oder mehrere Ereignisse (Einwirkungen) innerhalb einer bestimmten Arbeitsschicht aus der Gesamtheit der Ereignisse (Einwirkungen) so herausheben, dass sie nicht bloß eine (insbesondere die letzte) unter mehreren gleichwertigen Ursachen der Schädigung sind, sondern für die Schädigung wesentliche Bedeutung haben, diese also alleine wesentlich bedingen.“

Erläuterung

Leistungen aus der UV gebühren bei Vorliegen einer Berufskrankheit, die hier nicht (mehr) geltend gemacht wurde, und bei Vorliegen eines Arbeitsunfalls. Der OGH nimmt in der vorliegenden Entscheidung Bezug auf die eigene Rsp, die Literatur und auch die deutsche Judikatur.

Im Ergebnis bestätigt er in seiner Entscheidung die Beurteilung des Berufungsgerichts, wonach die hier vorliegenden, sehr belastenden Ereignisse während des viertägigen Einsatzes in ihrer Gesamtheit verantwortlich für die aufgetretene posttraumatische Belastungsstörung des Kl waren, jedoch aufgrund des Erstreckens der Vorgänge auf mehrere „Arbeitsschichten“ die zeitliche Begrenzung iSd (Dienst-)Unfallbegriffs im vorliegenden Fall nicht erfüllt ist.

Aus den bindenden Feststellungen des Erstgerichts hat sich nicht ergeben, dass ein besonderer Vorfall (der geschilderte Vorfall der Mutter mit dem kleinen Kind) in diesem Zeitraum alleine wesentlich für das Auftreten der Gesundheitsstörung beim Kl gewesen sei, was eine Anerkennung als Dienst-(Arbeits-)unfall unmöglich macht.