Die Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Plattformarbeitenden auf EU-Ebene

TOBIASMÜLLENSIEFEN (BRÜSSEL)/SASCHAOBRECHT (WIEN)
Die voranschreitende Digitalisierung der Arbeitswelt bringt gewaltige Umwälzungen mit sich und wirft arbeitsrechtliche Fragen auf. Auf der Grundlage von neuen Technologien und dadurch erzielten Effizienzgewinnen entdeckt die Plattformökonomie immer mehr Branchen und Geschäftsfelder für sich und stellt dabei traditionelle Modelle der Arbeitsbeziehungen in Frage. Es ist daher von zentraler Bedeutung, sich der daraus resultierenden Problemfelder mit bestehenden und – sofern nötig – neuen Regelungen anzunehmen. Nur so kann die Arbeitswelt weiterentwickelt werden. Die Europäische Kommission arbeitet bereits seit Längerem an angemessenen Regeln für Plattformarbeit und den Einsatz von Algorithmen-basierten Entscheidungsverfahren im Arbeitsverhältnis.*
  1. Was ist Plattformarbeit?

  2. Die zentralen Herausforderungen

  3. Die Statusfrage: Arbeits- oder Werkvertrag?

    1. Problemstellung

    2. Mögliche Lösungswege

  4. Algorithmisches Management

    1. Grundsätzliches

    2. DSGVO und KI-Verordnung

    3. Mögliche Lösungswege

  5. Eckpunkte des Richtlinien-Vorschlags zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Plattformarbeit

1.
Was ist Plattformarbeit?

Nach Eurofound* ist Plattformarbeit eine Form der Arbeitsorganisation, bei der eine Online-Plattform genutzt wird, um Organisationen oder Einzelpersonen zu ermöglichen, auf andere Organisationen oder Einzelpersonen zuzugreifen, um Probleme zu lösen oder Dienstleistungen gegen Bezahlung zu erbringen. Die wichtigsten Merkmale der Plattformarbeit sind dabei die folgenden:

  • Die bezahlte Arbeit wird über eine digitale Plattform organisiert.

  • Zumindest drei Parteien sind beteiligt: die Online-Plattform, der Kunde/die Kundin und der/die Plattformarbeitende.

  • Ziel ist es, bestimmte Aufgaben auszuführen oder bestimmte Probleme zu lösen.

  • Die Arbeit wird outgesourct oder in Auftrag gegeben.

  • Die Arbeit wird in Aufgaben (tasks) aufgeteilt.

  • Die Dienstleistungen werden auf Abruf (on demand) erbracht.

Die Europäische Kommission verwendet in ihren Konsultationspapieren2) betreffend mögliche Maßnahmen zur Bewältigung der Herausforderungen 100 im Zusammenhang mit den Arbeitsbedingungen der Plattformarbeit eine eigene Terminologie, die auch diesem Beitrag zu Grunde liegt. Im Glossar des das Konsultationspapier begleitenden Commission Staff Working Document* finden sich folgende Definitionen:*

  • „Menschen, die über Plattformen arbeiten“* (people working through platforms): Einzelpersonen, die Dienstleistungen erbringen, die, mehr oder weniger stark überwacht, über eine digitale Arbeitsplattform vermittelt werden, unabhängig vom rechtlichen Beschäftigungsstatus dieser Personen (AN, Selbstständige oder ein Status einer dritten Kategorie).

  • „Digitale Arbeitsplattform“ (digital labour platform): ein privates internetbasiertes Unternehmen, das mit einem mehr oder weniger großen Maß an Kontrolle Dienstleistungen auf Abruf vermittelt, die von Privat- oder Firmenkunden angefordert und direkt oder indirekt von Einzelpersonen erbracht werden, unabhängig davon, ob diese Dienstleistungen vor Ort oder online erbracht werden.

Im Wesentlichen kann zwischen online und ortsgebundener Plattformarbeit unterschieden werden.* Während online Plattformarbeit wie Software- Entwicklung, Grafikdesign und Übersetzungsarbeiten sowie die sogenannte „Clickarbeit“* idR von jedem denkbaren und von den Plattformarbeitenden frei gewählten Ort nachgegangen werden kann (so etwa von Zuhause, einem Café oder dem Hotelzimmer), ist bei ortsgebundener Plattformarbeit die Selbstbestimmung hinsichtlich des Ortes der Leistungserbringung deutlich eingeschränkt. So sind Plattformarbeitende, die mit einem Fahrrad Lieferdienstleistungen erbringen oder in einer bestimmten Wohnung Handwerkertätigkeiten verrichten, ganz zwangsweise an bestimmte Örtlichkeiten gebunden.

Diese neue Form der Arbeitsorganisation ist ein mittlerweile überaus relevantes Phänomen, das in letzter Zeit stark gewachsen ist. Im Rahmen einer Umfrage im Auftrag der Europäischen Kommission konnte erhoben werden, dass bereits 11 % der am gesamteuropäischen Arbeitsmarkt Tätigen zumindest einmal über Plattformen gearbeitet haben.* Aus den 38.878 Antworten aus 16 partizipierenden Mitgliedstaaten ist zu schließen, dass sich die Hälfte der teilnehmenden Personen der Tätigkeit zumindest zehn Stunden pro Woche widmet und mindestens 25 % ihres Einkommens über Plattformarbeit bezieht.* Über die typischen Plattform arbeitenden kann gesagt werden, dass sie im Vergleich zur Gesamtgesellschaft im Schnitt jünger sind,* über einen höheren Bildungsgrad verfügen* und dass der Anteil an Personen mit Migrationshintergrund größer* ist. Eine weitere Studie im Auftrag der Europäischen Kommission konnte darüber hinaus darlegen, dass 92 % der in der EU aktiven Plattformen davon ausgehen, ihre Aufträge an Selbstständige zu vermitteln und dementsprechende Verträge vorgeben.*

2.
Die zentralen Herausforderungen

Im Zuge der Auseinandersetzung mit Plattformarbeit zeigt sich auch auf europäischer Ebene, dass diese Form der Arbeitsorganisation zahlreiche Vorteile sowie Nachteile auf unterschiedlichen Ebenen mit sich bringt.

Auf der positiven Seite steht das Argument, das für eine selbstständige Tätigkeit überhaupt spricht: die zeitliche Flexibilität und die fehlende Verpflichtung, bestimmte Zeiten einzuhalten bzw Tätigkeiten zu übernehmen.* Die Realität von zahlreichen Plattformarbeitenden sieht jedoch anders aus, da Plattformen bisweilen Mechanismen entwickelt haben, die in der Praxis dafür Sorge tragen, dass gewisse Arbeitszeiten eingehalten werden.* Das Spektrum reicht hier von besonderen Belohnungen für die Arbeitsleistung zu bestimmten Zeiten bis hin zu Sanktionen bei Nichtarbeit zu diesen Zeiten.

Auf der negativen Seite sind die mitunter unsicheren Arbeitsbedingungen zu nennen. Das Einkommen ist für Plattformarbeitende selten vorhersehbar und in der Regel gering; die Arbeit wird in der Regel nach Aufträgen und nicht nach Stunden bezahlt.* Auch im Bereich Gesundheitsschutz bestehen häufig Mängel. Die Kontrollmöglichkeiten werden durch digitale Werkzeuge derart intensiviert, dass sie den Druck auf AN deutlich erhöhen und somit auch die psychische Gesundheit gefährden können.* Erschwerend kommt hinzu, dass die Möglichkeit betrieblicher Organisation mangels greifbaren Betriebs erschwert wird* und der konkrete Ansprechpartner für Verbesserungen der Arbeitsbedingungen oft unklar ist (Plattform oder Kunde?). Auch die Vertretung auf überbetrieblicher Ebene durch Gewerkschaften steht vor Herausforderungen; so ist die Frage, ob die Sozialpartner Kollektivvertragsverhandlungen auch für 101 selbstständige Plattformarbeitende führen dürfen, durchaus in einem gewissen Spannungsverhältnis zum Kartellverbot* zu sehen. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Rs FNV Kunsten*, in der der EuGH die Auffassung vertritt, dass kein Verstoß gegen das Kartellverbot vorliegt, wenn Mindesttarife für „Scheinselbstständige“ festgelegt werden.

Zudem ist das dislozierte Arbeiten ein immanenter Bestandteil der Arbeitsorganisation über digitale Arbeitsplattformen, was dazu führen kann, dass Plattformarbeitende in mehr als einem Staat ihre Arbeit verrichten oder aber die Plattform oder der Kunde ihren Sitz in einem anderen Staat haben. Dies wirft auch die zusätzliche Frage auf, an welche Rechtsordnung anzuknüpfen ist.*

Für viele Plattformarbeitende besteht zudem oft keine Möglichkeit, die positiven Bewertungen für ihre Aufträge zu anderen Plattformen „mitzunehmen“, was einem kompletten Neuanfang auf einer anderen Plattform gleichkommt. Dies verschärft sich vor allem dadurch, dass viele Plattformen bei einer hohen Anzahl an positiven Bewertungen oder einem guten Bewertungsschnitt bessere Aufträge verteilen, und kann sich dadurch unmittelbar auf das Entgelt auswirken, das Plattformarbeitende ins Verdienen bringen.

Schließlich ergeben sich auch sozialversicherungsrechtliche Probleme, da für Kleinstaufträge meist keine Sozialversicherungsbeiträge anfallen und daher auch kein Sozialversicherungsverhältnis begründet wird. Selbst anfallende Sozialversicherungsbeitragspflichten werden nicht immer erfüllt. Plattformarbeitende häufen daher selten Pensionsund andere Sozialversicherungsansprüche an und sind daher in Europa sehr oft auf sogenannte „last resort“-Netze angewiesen.*

Dreh- und Angelpunkt einer jeden Diskussion über die arbeitsrechtliche Situation von Plattformarbeitenden wird aber immer die Qualifikation als Arbeitsverhältnis, und damit die Anwendung des mitgliedstaatlichen Arbeitsrechts, bleiben. Darauf ist sogleich (Pkt 3) ebenso näher einzugehen wie auf die Problematik des algorithmischen Managements, das der Arbeitsorganisation durch digitale Plattformen wesentlich zu Grunde liegt und Probleme insb hinsichtlich der Transparenz und der Verantwortlichkeit für automatisierte Entscheidungen aufwirft (Pkt 4).

3.
Die Statusfrage: Arbeits- oder Werkvertrag?
3.1.
Problemstellung

Die der Statusfrage zu Grunde liegende Problemlage offenbart sich augenscheinlich, wenn man zwei Ergebnisse bestehender Studien gegenüberstellt: Die meisten Plattformen kategorisieren Plattformarbeitende über die vorgegebenen Vertragsbedingungen als Selbstständige.* Neun von zehn in der EU operierenden Plattformen stufen die über sie Arbeitenden als Selbstständige ein.* Dem steht die Einschätzung der Plattformarbeitenden selbst entgegen, die sich in der Regel als AN sehen.* Wie kann es zu einer solch diametralen Einschätzung der Akteure in der Plattformwirtschaft kommen?

Aufgrund der durchaus unterschiedlich ausgeprägten Kontrolldichte der Plattformen über die Arbeit der Plattformarbeitenden ist eine generelle Einordnung als AN oder Selbstständige im Einzelfall jedenfalls schwierig. Während die Arbeitserbringung über die Plattform für einige über sie Arbeitende nämlich durchaus mit vermehrter Autonomie verbunden ist, ist sie für andere durch eine derart starke Determinierung durch Plattform und Kunden geprägt, dass von einem Arbeitsverhältnis auszugehen ist.

Beachtenswert ist in diesem Zusammenhang die Studie von Hießl* zur Rsp hinsichtlich des Beschäftigtenstatus von Plattformarbeitenden innerhalb Europas. Im Rahmen der Studie wurden 150 Entscheidungen aus neun EU-Mitgliedstaaten* sowie der Schweiz und dem Vereinigten Königreich untersucht; die überwiegende Mehrheit beschäftigt sich mit ortsgebundener Plattformarbeit (Personentransport, Essen- und Paketzustellung, Reinigung, Reparatur)* und ging zu Gunsten der Plattformarbeitenden aus. So wurden diese in Frankreich, Spanien und Deutschland entgegen ihrem vermeintlichen Selbstständigen-Status als AN eingestuft. In Italien („lavoro eteroorganizzato“) und dem Vereinigten Königreich („worker“) wurden sie einem in den jeweiligen Rechtsordnungen etablierten dritten Status zwischen AN und Selbstständigen zugeordnet.* Teilweise liegen nur unterinstanzliche Entscheidungen vor (Niederlande, Belgien) und es ist bisweilen auch der Fall, dass Untergerichte den Höchstgerichten nicht folgen (zB Palermo: AN-Status,* Lyon: Selbstständigeneigenschaft*). Das Bild in der EU ist daher noch nicht unbedingt einheitlich, wenngleich sich doch eine Richtung abzeichnet, die der verbreiteten Einschätzung der digitalen Arbeitsplattformen nicht immer entspricht.

Ein Blick auf die inhaltlichen Begründungen der Urteile lohnt dabei: Generell ist das geringere Beharren der Gerichte auf die tatsächliche Verpflichtung zur Leistungserbringung bei der Einstufung zum AN festzustellen.* Letztere ist bei Plattformen formal oft nicht gegeben, wenngleich es aber bspw durch den Einsatz von Anreiz- und 102 Disziplinierungssystemen an einer echten Selbstbestimmung hinsichtlich der Arbeitspflicht fehlen kann.* Vor allem auch dieses Argument ließ bspw das deutsche Bundesarbeitsgericht erst jüngst „die kontinuierliche Durchführung einer Vielzahl von Kleinstaufträgen („Mikrojobs“) durch Nutzer einer Online-Plattform („Crowdworker“) auf der Grundlage einer mit dem Betreiber („Crowdsourcer“) getroffenen Rahmenvereinbarung“* als Arbeitsverhältnis qualifizieren.*

Zusätzlich war auch die ausgeübte Kontrolle über die Leistungserbringung ein zentrales Merkmal, das bei der Klassifizierung geprüft wurde. Diese mag nicht mit der unmittelbaren Kontrolle im Betrieb vergleichbar sein; sie kann in einer digitalen Arbeitswelt aber auch durch stark determinierte Arbeitsaufträge und unter Zuhilfenahme digitaler Mechanismen (zB GPS-Standortverfolgung, Ratingsysteme durch Plattform mitunter auch unter Einbindung von Kundenbewertungen) erfolgen.*

Die Gerichte haben deshalb den Blick auch auf andere, zum Teil neuartige Kriterien gelegt: So ist vermehrt eine Fokussierung auf das Ausmaß der Integration der Plattformarbeitenden in die Organisation der Plattform wahrzunehmen. Zentrale Fragestellungen waren hierbei, ob die Plattform zB ein bestimmtes Auftreten vorgibt (Bekleidung, Verwendung des Logos der Plattform, usw) und wer die Preise für die Arbeit festlegt sowie wie die Zahlungsabwicklung organisiert ist.*

Auch die Frage, wer Eigentümer der Produktionsmittel ist, war oft zentral.* Dafür käme bei ortsgebundender Plattformarbeit natürlich ein Abstellen auf das Fahrrad, das Smartphone oder ähnliche Gegenstände im Eigentum der Plattformarbeitenden in Frage. Die Gerichte sehen jedoch zT die digitale Infrastruktur und auch die App selbst als die zentralen Produktionsmittel an;* und diese stehen gerade nicht im Eigentum der Plattformarbeitenden. Dieser Aspekt war auch eines der Hauptargumente des spanischen obersten Gerichtshofs Tribunal Supremo* für die Einstufung des Vertrags zwischen einer Lieferplattform und einem Kurier als Arbeitsvertrag (mit besonderem Fokus darauf, dass die Lieferplattform mit der digitalen Infrastruktur über das wichtigste Produktionsmittel verfügt*).

Ein weiteres wichtiges Merkmal, das in vielen Fällen zu einer Einstufung als AN führte, war das Fehlen an echter unternehmerischer Freiheit. So konnten die Plattformarbeitenden oft keine Kontaktaufnahme zu Kunden durchführen und hatten auch keine Möglichkeit zur Weiterentwicklung „ihres“ Unternehmens. Kurzum wurden Plattformarbeitende auch dann von den Gerichten als AN klassifiziert, wenn sie das volle wirtschaftliche Risiko tragen mussten, jedoch nicht über die Handlungsmöglichkeiten eines Unternehmers verfügten.*

3.2.
Mögliche Lösungswege

Die korrekte Einstufung von Plattformarbeitenden als AN bzw Selbstständige ist eine zentrale Fragestellung im Konsultationsprozess der Europäischen Kommission mit den Sozialpartnern. Dafür werden mehrere Lösungswege in den Raum gestellt: Einerseits wird die (widerlegbare) Vermutung eines Arbeitsverhältnisses bei Erfüllung bestimmter Merkmale im Rahmen der Vertragsbeziehung angedacht.* Damit einher könnte auch die Verlagerung der Beweislast für das Nichtvorliegen eines Arbeitsverhältnisses auf die digitalen Arbeitsplattformen einher gehen. Andererseits werden auch alternative Möglichkeiten der Statusdurchsetzung erwogen; so könnte nach belgischem Vorbild ein Verwaltungsverfahren vorgesehen werden, das einem Gerichtsverfahren vorgelagert ist oder nach italienischem Vorbild eine Zertifizierung der der Plattformarbeit zu Grunde liegenden Vertragsdokumente.* Und freilich sind auch Kombinationen der einzelnen Verfahren denkbar. Zudem ist noch unklar, wer von solchen Mechanismen zur erleichterten Statusfeststellung erfasst sein soll, alle digitalen Arbeitsplattformen oder nur bestimmte Kategorien? Soll es darüber hinaus noch Kriterienoder Indizienkataloge geben, die nur beispielhafte oder doch abschließende Qualität haben?

Das Europäische Parlament hat sich dazu in einer Entschließung am 16.9.2021* zu fairen Arbeitsbedingungen, Rechten und sozialen Schutz für Plattformbeschäftigte insofern festgelegt, als es die Kommission auffordert, „in ihren künftigen Vorschlag eine widerlegbare Vermutung eines Arbeitsverhältnisses für alle Plattformbeschäftigten im Einklang mit den nationalen Definitionen, die in den jeweiligen Rechtsvorschriften oder Tarifverträgen der Mitgliedstaaten festgelegt sind, aufzunehmen, um die korrekte Einstufung von Plattformbeschäftigten zu erleichtern, in Kombination mit der Umkehr der Beweislast und möglichen zusätzlichen Maßnahmen“. Es wird dabei betont, „dass103somit die Partei, bei der geltend gemacht wird, dass es sich um den Arbeitgeber handelt, nachweisen muss, dass kein Arbeitsverhältnis vorliegt, wenn Plattformbeschäftigte die Einstufung ihres Beschäftigungsstatus in gerichtlichen Verfahren bei einem Gericht oder einer Verwaltungsbehörde im Einklang mit den nationalen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten anfechten“ und betont, „dass die widerlegbare Vermutung eines Arbeitsverhältnisses nicht dazu führen darf, dass automatisch alle Plattformbeschäftigten als Beschäftigte eingestuft werden“. Das Europäische Parlament stellt dabei aber auch klar, „dass mit einer derartigen widerlegbaren Vermutung sichergestellt wird, dass Beschäftigte, die wirkliche Selbstständige sind, dies bleiben können und weiterhin über Plattformen auf Arbeit zugreifen können“. Die Kommission wird ferner aufgefordert, „klarzustellen, dass die Einführung eines neuen sogenannten dritten Status der EU zwischen Beschäftigten und Selbstständigen nicht in Betracht zu ziehen ist, da dies nicht zur Lösung der derzeitigen Probleme beitragen würde und die Gefahr birgt, dass bereits unklare Begriffe weiter verwischt werden, und im Einklang mit dem nationalen Recht sicherzustellen, dass jeder Plattformbeschäftigte entweder als Beschäftigter oder als Selbstständiger eingestuft wird“.*

Letzteres ergibt sich auch aus dem Konsultationsdokument der Kommission selbst, da mit der Initiative in der derzeitigen Form weder eine (Neu-)Definition eines EU-weiten Begriffes des AN beabsichtigt ist noch die Schaffung eines „dritten Status“ neben dem des AN und des Selbstständigen.

4.
Algorithmisches Management
4.1.
Grundsätzliches

Eng verbunden mit der Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Plattformökonomie sind auch Fragestellungen rund um den Einsatz von algorithmischem Management. Dieser Begriff beschreibt die automationsunterstützte Entscheidungsfindung durch Einsatz von Formeln in Fragen der Unternehmensführung oder des Personalmanagements. Dabei können durch vordefinierte Parameter bspw die Verteilung von Arbeitsaufgaben und Prämien oder auch die Sanktionierung von Arbeitenden ohne Zwischenschritt durch ein Computersystem übernommen werden. Denkbar ist auch der Einsatz derartiger Formen automatisierter Entscheidungsfindung zur verdichteten Kontrolle und Bewertung von Arbeitenden betreffend ihren Standort, die Leistungserbringung oder auch die Arbeitsergebnisse.

Neben den Vorteilen, vor allem zur Effizienzsteigerung bei Einsatz derartiger Technologien, resultieren daraus auch gleich einige Problemfelder, die insb in der fehlenden Transparenz der Datengrundlage und der Entscheidungskriterien sowie im Mangel von menschlicher Einflussnahme auf relevante Entscheidung liegen. Wie ist zB gewährleistet, dass der einzelne AN nachvollziehen kann, nach welchen Kriterien für ihn bedeutsame Entscheidungen getroffen werden? Und gibt es überhaupt noch Personen im Unternehmen, die den Entscheidungsprozess, dem ein Algorithmus zu Grunde liegt, erklären können? Dies kann zu völlig unvorhersehbaren und auch nur schwer nachvollziehbaren Entscheidungen im Arbeitsverhältnis führen; dabei ist noch nicht einmal erwähnt, dass durch fehlerhafte Grundannahmen im Algorithmus (zB wegen einer mangelbehafteten Datengrundlage) diskriminierende und falsch pauschalierende Entscheidungen getroffen werden. Auch der Einsatz von Gamification ist dabei zu beachten: So können gezielt programmierte Anwendungen durch Ausnutzen bestimmter psychologischer Verhaltensmuster von Menschen dazu führen, dass AN sich weit über ihre eigene Leistungsfähigkeit „selbst ausbeuten“. Das Arbeitsrecht der Mitgliedstaaten adressiert die angesprochenen Problemlagen bislang kaum.

4.2.
DSGVO und KI-Verordnung

Einzig in der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) finden sich bisher vereinzelte Bestimmungen, die Schutzdefizite beseitigen: So verbietet Art 22 DSGVO Entscheidungen, die ausschließlich auf automatisierten Prozessen beruhen und die der Person gegenüber rechtliche Wirkung entfalten oder sie in ähnlicher Weise erheblich beeinträchtigen. Dieses Verbot gilt jedoch vor allem dann nicht, wenn diese Entscheidung zum Abschluss oder zur Erfüllung eines Vertrags erforderlich ist. Auch in diesen Fällen hat die betroffene Person hingegen mehrere Rechte: sie kann das Eingreifen von Personen erwirken (als Kontrapunkt zu einer rein computerbasierten Entscheidung), kann zur automatisierten Entscheidung Stellung beziehen und die Entscheidung auch anfechten.

Auch die Regelungen zur Transparenz bei der Verarbeitung von personenbezogenen Daten (Art 12-15 DSGVO), also die Informationspflichten und das Auskunftsrecht der betroffenen Person (auch in Hinblick auf automatisierte Entscheidungsverfahren) sind in diesem Zusammenhang zu erwähnen. Zudem besteht nach Art 20 DSGVO ein Recht auf Übertragbarkeit der personenbezogenen Daten, was im Hinblick auf Ratings auf Plattformen von Bedeutung sein kann.

Der von der Europäischen Kommission vorgelegte Vorschlag für die Einführung eines Gesetzes über Künstliche Intelligenz (KI-Gesetz – AI Act)* zielt auf die Regelung dieses Bereichs des Binnenmarkts iS einer Harmonisierung in Form einer unmittelbar anwendbaren Verordnung ab und fußt dabei auf Art 114 AEUV. Anders als im Arbeitsrecht geht es hierbei also nicht um die Setzung von Mindeststandards. Das erklärte Ziel ist vielmehr die „Festlegung harmonisierter Vorschriften, insbesondere in Bezug auf die Entwicklung, das Inverkehrbringen und den Einsatz von Produkten und Diensten, die KI-Techniken anwenden, oder von eigenständigen104 KI-Systemen, für ein reibungsloses Funktionieren des Binnenmarkts“.*

KI-Systeme, die im Zusammenhang mit dem Arbeitsverhältnis eingesetzt werden, werden gem Annex III zur vorgeschlagenen VO als sogenannte „Hochrisiko- Systeme“ betrachtet. Für derartige Systeme soll gem Art 13 des vorliegenden Vorschlags gelten, dass ein erhöhtes Ausmaß an Transparenz für die Nutzer der KI-Systeme gewährleistet ist. Dadurch sollen die Nutzer die Ergebnisse des Systems hinreichend interpretieren und verwenden können. An dieser Stelle ist jedoch darauf hinzuweisen, dass die Plattformen als Nutzer des Systems anzusehen sind, und nicht die Menschen, die über diese arbeiten. Außerdem muss gem Art 15 ein derartiges Hochrisiko-KISystem so konzipiert werden, dass es durch natürliche Personen wirksam beaufsichtigt werden kann; es geht hierbei um eine menschliche Aufsicht aus dem Blickwinkel der Produktsicherheit. Die Bestimmungen der vorgeschlagenen KI-VO zielen in erster Linie auf die Nutzer von KI-Systemen ab, also im Fall der Plattformarbeit, die Plattformen die sich dieser bei der Organisation der über sie abgewickelten Dienstleistungen bedienen. Für AN sind im Entwurf der KI-VO keine zusätzlichen Rechte vorgesehen.

4.3.
Mögliche Lösungswege

Da algorithmisches Management in der Plattformökonomie bei zahlreichen relevanten Entscheidungsprozessen, wie insb bei der Zuteilung von Arbeitsaufträgen, eingesetzt wird, wird erwogen, neben der KI-VO entsprechende neue Rechte betreffend den Einsatz automatisierter Entscheidungsverfahren bei digitalen Arbeitsplattformen einzuführen bzw bestehende Rechte zu stärken. Diese könnten dabei insb folgende Punkte umfassen:

  • Eine bessere Information der vom algorithmischen Management betroffenen Personen und ihrer Vertreter über die Art und Weise, wie die Arbeit durch Algorithmen organisiert wird;

  • Etablierung interner Verfahren zur Gewährleistung einer zeitnahen und angemessenen menschlichen Aufsicht, Kontrolle und Rechenschaftspflicht über und für automatisierte Entscheidungen, die erhebliche Auswirkungen auf die Betroffenen haben;

  • Schaffung geeigneter Beschwerde- und Rechtsbehelfsmöglichkeiten;

  • Stärkung der Rechte auf Unterrichtung und Anhörung der AN-Vertretungen zu algorithmischen Managementsystemen sowie die Gewährleistung der umfassenden Einbeziehung der Sozialpartner;

  • Sicherstellung des Rechts auf Schutz der Privatsphäre außerhalb der Arbeitszeit* sowie die wirksame Umsetzung anderer einschlägiger Grundsätze und Anforderungen der DSGVO am Arbeitsplatz;

  • Förderung der Übertragbarkeit von Ratings, insb durch eine stärkere Inanspruchnahme des Rechts auf Datenübertragbarkeit und

  • Ausschluss der automatischen Beendigung arbeitsbezogener Vertragsverhältnisse oder von Praktiken mit gleicher Wirkung.

Auch hier ist der personelle Anwendungsbereich einer möglichen EU-Initiative noch offen; sie könnte spezifisch für die Plattformarbeit konzipiert sein und nur für AN gelten oder auch auf Selbstständige ausgedehnt werden. Sie könnte sich, was das algorithmische Management betrifft, aber auch über die Plattformarbeit hinaus mit der Arbeitswelt im Allgemeinen befassen und so den Weg für ein breiteres Konzept für den Einsatz von Algorithmen im Zusammenhang mit der Erbringung von Arbeitsleis tungen ebnen.

5.
Eckpunkte des Richtlinien-Vorschlags zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Plattformarbeit

Basierend auf dem Konsultationsprozess veröffentlichte die Europäische Kommission am 9.12.2021 ihren Vorschlag für eine RL zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Plattformarbeit.* Die Eckpunkte sind im Wesentlichen:

  • Die Etablierung einer widerleglichen Vermutung für das Vorliegen eines Arbeitsverhältnisses (samt Beweislastumkehr), sofern die Plattform bestimmte Aspekte der Arbeitsleis tung kontrolliert. Eine derartige Kontrolle der Arbeitsleistung liegt gem Art 4 des Richtlinienvorschlags vor, wenn zwei der fünf dort definierten Kriterien erfüllt sind (zB Bestimmung der Höhe der Vergütung der Plattformarbeitenden durch die Plattform oder Aufforderung, ein bestimmtes Erscheinungsbild und Verhalten gegenüber dem Dienstleistungsempfänger einzuhalten).

  • Hinsichtlich des Einsatzes von algorithmischem Management soll durch den Richtlinienvorschlag für mehr Transparenz und bessere Rechtsbehelfe für Plattformarbeitende gesorgt werden. So müssen digitale Arbeitsplattformen Plattformbeschäftigte über den Einsatz automatisierter Überwachungs- und Entscheidungssysteme informieren (Art 6), die Auswirkungen solcher Systeme auf Arbeitsbedingungen überwachen und evaluieren (Art 7) und dafür sorgen, dass Plattformbeschäftigte wichtige automatisierte Entscheidungen durch Menschen nachprüfen lassen können (Art 8). Diese Bestimmungen finden auch auf selbstständige Plattformarbeitende Anwendung (Art 10).

  • Außerdem sollen Plattformen dazu verpflichtet werden, Informationen zur Plattformarbeit an die zuständigen Arbeits- und Sozialversicherungsbehörden der Mitgliedstaaten zu melden, in denen sie ausgeführt werden (Art 11 und 12). Dadurch sollen „die zuständigen Behörden bei der Durchsetzung bestehender Rechte und Pflichten in Bezug auf Arbeitsbedingungen und Sozialschutz“* unterstützt werden. 105