Where do we go from here?* – Trends in der Arbeitswelt und ihre Auswirkungen auf das Arbeitsrecht
Where do we go from here?* – Trends in der Arbeitswelt und ihre Auswirkungen auf das Arbeitsrecht
Problemstellung
Flexibilität und Schutz – ein Gegensatzpaar?
Die Flucht aus dem Arbeitsrecht
Neuerungen durch die Digitalisierung
Die Lösung: individuell oder kollektiv?
Statt einer Conclusio ...
Schon jetzt zeichnen sich wesentliche Themenbereiche ab, in denen arbeitsrechtliche Änderungen in den nächsten Jahren zu erwarten sind, da gewisse Probleme mittlerweile nun schon sehr drücken. Dabei ist freilich zu betonen, dass es in diesem Rechtsbereich keinen Automatismus in dem Sinne gibt, dass gewisse Entwicklungen schon vorbestimmt sind und kaum abgewendet werden können. Gerade was das Arbeitsverhältnis betrifft, so ist dessen Genese immer auf, mehr oder weniger, offen ausgetragene Kämpfe zurückzuführen, die zwischen den AN und AG bzw ihren kollektiven Vertretungen und den ihnen nahestehenden Parteien – eben zwischen Arbeit und Kapital – ausgetragen werden. Das ist natürlich auch heute der Fall, es gibt hier keinen technologischen oder gar historisch-materialistischen Determinismus und es folgt somit die rechtliche Entwicklung nicht zwangsläufig der technischen. Wie dies Harry Braverman schon 1974 treffend ausdrückte: „Auch wenn es den allgemeinen Eindruck gibt, der von offizieller akademischer und journalistischer Seite her befeuert wird, dass die Verschlechterung der Arbeitsbedingungen (the deterioration of work), wegen der technischer Entwicklungen und des vermehrten Einsatzes neuer Maschinen stattfindet, so ist dieser Prozess davon überhaupt nicht abhängig“
,* sondern, so Braverman, vom Ergebnis der Aushandlungsprozesse darüber, wer die Kontrolle über den Arbeitsprozess hat und wie dessen Früchte verteilt werden. Es geht somit um die zahlreichen Komponenten, die diese Aushandlungsprozesse beeinflussen.*
Dabei ist die Technologie, und heute konkret die Digitalisierung, freilich ein wichtiger Faktor, da er bestimmt, wie wir arbeiten können, nicht aber, wie wir arbeiten müssen. Und hier greift die Rechtsordnung als wichtige Determinante ein, da sie einerseits teilweise direkt das Arbeitsverhältnis reguliert, und andererseits, weil sie Selbstregulierung in unterschiedlicher Form durch kollektive Verhandlungen ermöglicht. Das alles ist auf die Erkenntnis des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts zurückzuführen, dass eine unregulierte Marktwirtschaft in einer ungleichen Welt nicht zu fairen Ergebnissen, sondern schlicht zu einer Verschärfung der Ungleichheit und massiven sozialen Verwerfungen führt, die eine Gesellschaft kaum ertragen kann. Als Reaktion darauf kam es bekanntlich zur Entwicklung 106 des Arbeits- und Sozialrechts sowie der besonderen Institutionen des Arbeitslebens wie den Gewerkschaften, kollektiven Verhandlungen und betrieblicher Mitbestimmung. All dies war das Ergebnis eines schmerzhaften Lernprozesses da rüber, was den technologischen Fortschritt während der (ersten und zweiten) indus triellen Revolution und den daraus resultierenden gesellschaftlichen Veränderungen an negativen Folgen zeitigte, wenn diese Entwicklungen nicht auch gelenkt und kanalisiert werden. Die nur unzureichend bewältigte „soziale Frage“ führte deshalb zu massiven sozialen Verwerfungen und Konflikten bis hin zum Ersten Weltkrieg. Es ist daher nicht verwunderlich, dass nach diesem Krieg im Versailler Friedensvertrag von 1919/1920 auch die Gründung der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) beinhaltet war, die auf folgender, heute noch gültiger Erkenntnis beruhte: „Der Weltfriede kann auf die Dauer nur auf sozialer Gerechtigkeit aufgebaut werden.“
*Im Folgenden befasst sich die Präambel mit Problemen, die heute genauso dringlich sind wie vor ziemlich genau 100 Jahren:
„Nun bestehen aber Arbeitsbedingungen, die für eine große Anzahl von Menschen mit so viel Ungerechtigkeit, Elend und Entbehrungen verbunden sind, dass eine Unzufriedenheit entsteht, die den Weltfrieden und die Welteintracht gefährdet. Eine Verbesserung dieser Bedingungen ist dringend erforderlich, zB durch Regelung der Arbeitszeit, einschließlich der Festsetzung einer Höchstdauer des Arbeitstages und der Arbeitswoche, Regelung des Arbeitsmarktes, Verhütung der Arbeitslosigkeit, Gewährleistung eines zur Bestreitung des Lebensunterhaltes angemessenen Lohnes, Schutz der Arbeitnehmer gegen allgemeine und Berufskrankheiten sowie gegen Arbeitsunfälle, Schutz der Kinder, Jugendlichen und Frauen, Vorsorge für Alter und Invalidität, Schutz der Interessen der im Auslande beschäftigten Arbeitnehmer, Anerkennung des Grundsatzes „gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit“, Anerkennung des Grundsatzes der Vereinigungsfreiheit, Regelung des beruflichen und technischen Unterrichtes und ähnliche Maßnahmen.“*
Auch heute stellt sich die Frage, wie wir ua durch die Instrumente des Arbeitsrechts dazu beitragen können, dass die Entwicklung in Richtung stärkerer Gleichheit und Partizipation gelenkt wird. Denn eines hat die Geschichte klar gezeigt: Ohne eine entsprechende Regulierung nimmt diese eine andere Richtung und verschärft Ungleichheit und führt zu sozialen Konflikten. Es geht somit weiterhin um einen Eingriff in den freien Markt in Form der Regulierung in unterschiedlicher Form, der aber freilich auch unter Arbeitenden nicht unbedingt populär ist. Niemand schätzt Regulierung, da diese als Beeinträchtigung der persönlichen Freiheit wahrgenommen wird. Man kann jetzt trefflich darüber streiten, wie weit die Freiheitsräume von AN überhaupt reichen und ob diese nicht ohnehin über weite Strecken Illusion sind. Es zeigt sich aber, dass Menschen auch im Arbeitsleben ihre Freiheit sehr wichtig ist und diese ein starkes Argument für mangelnde Regulierung oder gar Deregulierung iSd Reduktion bestehender Schutzniveaus ist.
Im Arbeitsrecht begegnet uns das Thema der AN-Autonomie und der unternehmerischen Freiheit der AG in aller Regel unter dem Titel der „Flexibilität“. Seit den 1990ern ging es viel um Arbeitszeitflexibilität bis hin zur Reform 2018,* die ja vor allem mit der Erweiterung der Entscheidungsspielräume der Vertragsparteien argumentierte und dass mündige Arbeitende nicht (mehr) der paternalistischen Gängelung durch die Gesetzgebung bedürfen. Und ganz aktuell geht es um die örtliche Flexibilität, die unter dem Titel Home-Office und mobiles Arbeiten diskutiert wird und auch zum Teil schon einen gesetzlichen Niederschlag gefunden hat. Auch beim Homeoffice-Paket 2021* wurde betont, dass das Vereinbarungsprinzip im Vordergrund stehe und dass man deshalb nur sehr behutsam kleine Detailfragen reguliert. Mit der Flexibilität, dh der Eröffnung von Spielräumen für individuelle Vertragsverhandlungen, wird vor allem eines suggeriert, nämlich Autonomie, dh, dass Arbeitende es selbst in der Hand haben, wie sie wesentliche Aspekte ihrer Arbeitsbeziehung gestalten. Und interessanterweise sind sie für dieses Gefühl der Freiheit auch bereit, einen gewissen Preis zu bezahlen – wir sehen das zB gerade bei den Interviews mit Plattformbeschäftigten, die wir im Rahmen der internationalen Fairwork-Studie der an der Oxford University verankerten Fairwork Foundation durchführen: In Österreich gibt es im Wesentlichen zwei große Akteure bei der Essenszustellung mittels Fahrradbot:innen; der eine stellt seine Rider mit vollem arbeitsrechtlichen Schutz inklusive kollektivvertraglichem Mindestlohn an, der andere bietet nur freie Dienstverträge ohne einen solchen Schutz. Die Interviewten sind sich dieser Unterschiede durchaus bewusst und sie haben hier sogar eine echte Alternative – dennoch wählen sie zum Teil die (Schein-)Selbständigkeit ohne umfassenden Schutz insb bei Krankheit, da sie es schätzen, zumindest formal größeren Einfluss auf das Arbeitsvolumen und die Arbeitszeit nehmen zu können. Es kommt hier somit zum Austausch von Freiheit gegen Schutz.*
Und interessanterweise wird in der politischen Diskussion gerade das suggeriert – es geht eben schlicht nicht anders: Wer mehr Freiheit haben möchte, der muss den arbeitsrechtlichen Schutz zumindest teilweise aufgeben. Und dieses Narra- 107 tiv verfängt insb in der derzeit wohl am meisten digitalisierten Form der Dienstleistungserbringung, der Plattformwirtschaft, sehr gut. Das zeigt insb die Ablehnung einer harten gesetzlichen Vermutung für einen AN-Status in einem kalifornischen Gesetz, dem AB 5,* durch eine letztlich erfolgreiche Volksabstimmung über die sogenannte Proposition 22.* Plattformbeschäftigte wurden in einer mit mehr als 200 Mio Dollar von Plattformunternehmen finanzierten Kampagne von den „alternativen Fakten“ überzeugt, dass es bei einer Qualifikation als AN aus mit der Freiheit wäre. Das ist schlicht falsch, wie wir als Arbeitsrechtler natürlich wissen. Es gibt auch Arbeitsverträge, die Gleitzeit ohne Kernzeit und mobiles Arbeiten, dh Flexibilität iSd Beschäftigten, ermöglichen. Was jedoch rechtlich nicht zulässig ist, ist hingegen eine entsprechende rechtlich verankerte Hyperflexibilität für die AG, wie sie zB die berüchtigten Null-Stunden-Verträge vorsehen.* Damit wird auch klar, warum Arbeitsverträge von dieser Seite nicht gewollt sind. Es stellt sich dabei aber doch die Frage, wie das eigentlich passieren kann, dass so viele dieser Erzählung, dass Freiheit immer nur ohne Schutz möglich ist, aufsitzen?
Dieses Verständnis ist mE wesentlich auf die Art und Weise zurückzuführen, wie wir derzeit den Schutzbereich des Arbeitsrechts definieren. Dabei wird in Österreich und auch sonst wo bekanntlich auf die persönliche Abhängigkeit abgestellt, die sich nach stRsp „in organisatorischer Gebundenheit, insb an Arbeitszeit, Arbeitsort und Kontrolle ... äußert. Für den Arbeitsvertrag wesentlich ist daher eine weitgehende Ausschaltung der Bestimmungsfreiheit des Arbeitnehmers, welcher hinsichtlich Arbeitsort, Arbeitszeit und arbeitsbezogenes Verhalten dem Weisungsrecht des Arbeitgebers unterworfen ist.“
*
Es zeigt sich freilich, dass der tragende Grund für die meisten arbeitsrechtlichen Regelungen nicht diese persönliche Abhängigkeit ist, sondern die wirtschaftliche Unterlegenheit einer der Vertragsparteien, nämlich der Arbeitenden, die dazu führt, dass das Marktmodell des freien Aushandelns des Vertragsinhaltes zu jenen unbefriedigenden Ergebnissen führt, die ich eingangs beschrieben habe. Es geben nämlich nur die Personen ihre persönliche Freiheit in einem derartig großen Maß auf, die keine anderen Alternativen haben, als ihre Arbeitskraft zu verwerten. Sie haben schlicht nichts anderes, was sie auf dem Markt verkaufen können, als sich selbst. Das ist der Umstand, den Karl Marx* als die „doppeltfreien Lohnarbeiter:innen“ bezeichnet, die letztlich in die Situation des persönlich abhängigen Arbeitsvertrages mündet: Die formale Freiheit, Verträge abzuschließen und die Freiheit von Produktionsmitteln, die dazu führt, dass man seine Arbeitskraft an jemand anderen verkaufen muss, da man sie mangels den erforderlichen Ressourcen nicht selbst verwerten kann. Diese Situation erklärt auch, warum im Zeitpunkt der Entstehung der Kerninstitutionen des Arbeitsrechts an dieses durchaus praktikable Kriterium angeknüpft wurde – in ein solches, damals noch ungeschütztes Vertragsverhältnis begaben sich nur jene, die keine Alternativen und insb kein Vermögen hatten. Die daraus resultierende soziale Schieflage für die Masse der Arbeitenden barg dann so viel gesellschaftlichen Sprengstoff, dass nach längerem Ringen und über die Zeit ein Kompromiss gefunden wurde. Das ist der von Firlei16) angesprochene reformistische Weg – keine revolutionäre Umwälzung der Besitzverhältnisse an den Produktionsmitteln und keine Übergangslösung in Form der Diktatur des Proletariats, sondern eben ein Kompromiss zwischen Kapital und Arbeit, der die bestehenden Verhältnisse im Wesentlichen aufrecht erhält, aber ihre extremen negativen Folgen abmildert. Es gab und gibt weiterhin das „unfreie“ Arbeitsverhältnis, doch ist dieses nun mit gesetzlichen Rechten und der Möglichkeit kollektiver Verhandlungen verbunden. Diese besseren Arbeitsbedingungen führen freilich zu erhöhten Arbeitskosten – und die letzten Jahrzehnte der Entwicklung neuer Formen der Arbeitsorganisation sind nicht unwesentlich dadurch geprägt, wie diese vermieden werden können.
Eine Strategie liegt klar auf der Hand – die Wahl eines anderen Vertragstyps, der mit weniger Rechten kommt, ein Phänomen, das Firlei schon 1987 für Österreich in einem vielzitierten Aufsatz* beschrieben hat. Es geht somit darum, die Grenzen des Arbeitsverhältnisses auszuloten und dafür auch die Möglichkeiten der Digitalisierung zu nutzen. Diese neuen Formen der Arbeitsorganisation werden bewusst in den Graubereich und im Neuland zwischen Arbeitsverträgen und freier Mitarbeit in Form der Kleinstselbständigkeit entwickelt. Den Arbeitenden wird hier in der Regel viel formelle 108 Freiheit geboten, die aber häufig auf Grund von wirtschaftlichen Zwängen oder auch Anreizsystemen klar iSd Vertragspartner:innen genutzt werden soll. Es stellt sich daher die Frage, inwieweit bei der vertragsrechtlichen Einordnung nicht nur die rechtliche Ebene, sondern auch die faktische Handhabung des Vertrages zu berücksichtigen ist.
Wie so häufig im Zusammenhang mit der Digitalisierung der Arbeitswelt ist die Plattformwirtschaft das beste Beispiel für viele sich stellende Probleme, so auch für das „Statusproblem“, dh die Frage, ob Plattformbeschäftigte AN oder Selbständige sind. Die Diversität der Gerichtsentscheidungen in einzelnen Staaten ebenso wie auf europäischer Ebene zeigt sehr gut, wie herausfordernd es ist, hier eine adäquate Lösung zu finden und den AN-Begriff an die durch die Digitalisierung veränderten neuen Rahmenbedingungen anzupassen. Während zB der EuGH in der Rs Yodel Delivery* noch sehr stark im Formalen verhaftet ist, hat das deutsche BAG in der sogenannten Roamler-E* hier einen anderen, mE dem telos des Arbeitsrechts sehr adäquaten Weg gefunden. Es geht nämlich davon aus, dass die für den Arbeitsvertrag konstitutive Dienstleistungsverpflichtung auch durch Anreizsysteme gegeben sein kann.*
Eine Problematik der digitalen Gestaltung von Arbeitsprozessen ist aber auch, dass die Leistungsverpflichtung ebenso wie die persönliche Abhängigkeit oft nur schwer zu beweisen ist. Das gilt besonders, aber nicht nur, für die Plattformökonomie, die derzeit als Kristallisationspunkt der Digitalisierung der Arbeitswelt erscheint. Die dort Arbeitenden sind mit einer App konfrontiert, die die Arbeit organisiert – wie und unter welchen Kriterien die über diese erfolgten Angebote und Anweisungen zu Stande kommen, das wissen sie freilich nicht. Sie stehen einer digitalen Black Box gegenüber, was zu einem Beweisnotstand führt und es ihnen fast unmöglich macht, das Vorliegen persönlicher Abhängigkeit zu beweisen.* Das ist eine unbefriedigende Situation, da die so nur schwer aufzudeckende Scheinselbständigkeit einen
starken Anreiz dafür schafft, Plattformbeschäftigte falsch einzuordnen und damit das Arbeitsrecht zu vermeiden. Und tatsächlich werden in der Praxis bei zahlreichen Plattformen die dort Beschäftigten als Selbständige angesehen.* Es verwundert daher nicht, dass ein wesentlicher Teil der Plattform- Initiative der Europäischen Kommission* der Erleichterung der Durchsetzung des AN-Status gewidmet ist und dass dabei insb vorgeschlagen wird, mit der widerleglichen Vermutung eines Arbeitsvertrages zu operieren.* Das Europäische Parlament hat diese Position übrigens am 16.9.2021 in einer entsprechenden Entschließung* zu fairen Arbeitsbedingungen, Rechten und sozialem Schutz für Plattformbeschäftigte übernommen. Für österreichische Arbeitsrechtler:innen mag dieser Zugang neu erscheinen, aber zahlreiche europäische Arbeitsrechtsordnungen, wie zB Kroatien, Estland, Griechenland, Malta, die Niederlande, Portugal, Slowenien, Frankreich und Belgien kennen solche im Detail freilich sehr unterschiedliche Strategien insb zur Bekämpfung der Scheinselbständigkeit abseits der Plattformwirtschaft schon länger.* In Spanien wurde erst im Mai diesen Jahres eine solche Vermutung für die Essenszustellung in Form des sogenannten „Riders Law“ eingeführt.*
Aber auch bei aller zeitgemäßen Interpretation des AN-Begriffes und der Erleichterung des Nachweises des AN-Status werden wir jedoch auch an eine Grenze stoßen. Es wird auch bei Ausschöpfung aller methodischen Möglichkeiten eine Gruppe von Personen verbleiben, die trotz mangelnder AN-Eigenschaft schutzbedürftig sind in dem Sinne, dass sie mangels Alternativen in Arbeits- und Entgeltbedingungen einwilligen müssen, die schlechter sind als solche für Personen in einem Arbeitsverhältnis. Auch hier hat man es offensichtlich mit zwei Vertragsparteien zu tun, die unterschiedliches Gewicht in die Verhandlungen einbringen und wo die Gefahr eines nicht sozialverträglichen individuellen Vertragsabschlusses besteht. Wer das nun ist, wie sich diese Gruppe praktikabel eingrenzen lässt und welche Rechte man diesen zuerkennt, ist nicht erst seit der Digitalisierung ein „Dauerbrenner“ der sozialpolitischen Diskussionen.*
Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, dass durch die Digitalisierung der Konflikt von Kapital und Arbeit insofern verschärft wurde, dass alte rechtliche und institutionelle Lösungen zu dessen Kanalisierung und zum Ausgleich nicht mehr so greifen wie bisher und dass diese entsprechend angepasst werden müssen. Es kommt aber durch die Digitalisierung noch eine neue, zusätzliche virtuelle Dimension hinzu, deren Auswirkungen im soziologischen Eingangsreferat von Kollegen Flekker von der Universität Wien sehr gut zum Ausdruck gekommen sind. Einerseits erfolgt nämlich im Zuge der Digitalisierung die Organisation der arbeitsteiligen Arbeit nunmehr verstärkt unter Einsatz von digitalen Mechanismen, wie zB das gemeinsame Bearbeiten von im Internet zugänglich gemachten 109 Dokumenten oder auch die Steuerung über Apps und sonstige Algorithmen. Andererseits sind die Arbeitsmittel nicht mehr (nur) physisch verfügbar, sondern auch digital zugänglich, sodass es nicht mehr auf einen konkreten Arbeitsort ankommt, sondern darauf, dass auf einen digitalen Raum zugegriffen werden kann. Damit ist die Thematik angesprochen, dass Arbeitende nicht nur an einem Ort anwesend sind, sondern neben ihrer physischen Präsenz an einem Arbeitsplatz zugleich auch in einem Informationsraum arbeiten. Und auch dieser Informationsraum hat sich massiv verändert – war dies anfänglich noch ein lokaler Computer, so hat sich dieser über das Internet mit anderen immer intensiver verbunden, bis er sich heute zu einen weltweit verfügbaren Informationsraum entwickelt hat, der sich als immer bedeutsamere soziale Handlungsebene in Wirtschaft und Gesellschaft erweist. Mit diesem entsteht also neben der materiell-stofflichen, „analogen“ Welt, die wir bisher als einzige kohärente soziale Handlungsebene kannten, eine zweite, virtuelle Handlungsebene, die vielfältige Formen des sozialen Handelns auch im Zusammenhang mit der Arbeit ermöglicht.* Diese virtuelle Arbeit kann als „Cyberwork“ bezeichnet werden und tritt je nach Intensität der digitalen Dimension in unterschiedlicher Form auf: Der Bogen spannt sich von alleiniger virtueller Präsenz über ortsungebundene sowie ortsgebundene Online arbeit bis hin zur „normalen“ Arbeit mit bloßen Spuren im digitalen Raum wie sie heutzutage so gut wie überall stattfindet.* Die virtuelle Dimension der Arbeit führt letztlich dazu, dass es zumeist trotz einer abnehmenden physischen Präsenz zu keiner Lockerung der Kontrolle durch die AG kommt. Ganz im Gegenteil ermöglicht der von den einzelnen AN im Cyberspace hinterlassene „Datenschatten“ eine engmaschige und vor allem auch automatisierte Kontrolle, die dazu führt, dass der virtuelle Datenraum zu einem Panoptikum wird und AN ihr Verhalten entsprechend gestalten. Ausgehend von der dauernden Kontrolle verhalten sich AN regelkonform, selbst wenn es ihnen gegenüber noch zu gar keinen Sanktionen gekommen ist.* Das ist ein Aspekt, der nicht zuletzt im Homeoffice und beim mobilen Arbeiten eine große Rolle spielt.
Diese virtuellen Formen der Arbeitsorganisation stellen für das Arbeitsrecht freilich eine starke Herausforderung dar, da dieses bislang von einem Arbeitsort, der sich typischerweise zudem im Betrieb des/der AG befindet, ausgegangen ist. So wirft schon die Arbeit in der Wohnung der Arbeitenden, dem Homeoffice, zahlreiche Probleme auf, da sich diese ja nicht im direkten Einfluss- und Herrschaftsbereich der AG befindet und somit die Verantwortlichkeiten anders verteilt werden müssen. Die österreichische Rechtsordnung geht freilich darauf trotz des erst im Frühjahr dieses Jahres erlassenen Homeoffice-Pakets 2021* mE nur unzureichend ein.*
Und auch die Betriebsverfassung geht von klaren Organisationsstrukturen und einem physischen Austausch der Belegschaft und des BR untereinander aus. Dies alles sieht in einer teilweise auch im digitalen Raum stattfindenden Arbeitswelt ganz anders aus – es geht dabei um virtuelle Betriebe und digitale Kommunikation, alles Umstände, die bislang im ArbVG noch nicht ausreichend berücksichtigt sind.*
Andere Probleme ergeben sich bei neuen Formen der Teamarbeit in Form des agilen Arbeitens, insb der SCRUM-Methode, die bei der Softwareentwicklung und nun verstärkt auch bei anderen projektbezogenen Arbeiten zum Einsatz kommt. Auch diese hyperflexible Art der Kollaboration, die eine dauernde Rückkoppelung und schnelle Anpassungen an die Wünsche der Auftraggeber:innen in den Arbeitsablauf schon systemisch integriert, ist vor allem deshalb möglich, da die Arbeit für alle Teammitglieder in einen Datenraum transparent erfolgt und keine örtlichen Grenzen kennt.*
Ein letzter wichtiger Aspekt des virtuellen Datenraumes ist jener, dass dieser keine Staatsgrenzen kennt und deshalb ohne physische örtliche Bewegung Arbeit grenzüberschreitend organisiert und durchgeführt werden kann. Man braucht eben kein off-shoring und auch kein body-shopping, sondern man verlagert die Arbeit nur, zumindest teilweise, in den digitalen Raum. Das hat komplexe Fragen des anwendbaren Rechts ebenso wie der Anwendung von Kollektivverträgen und Betriebsvereinbarungen zur Folge, da bei diesen Rechtsquellen grundsätzlich das Territorialitätsprinzip zur Anwendung kommt und sie nur in Ausnahmefällen in fremdes Territorium ausstrahlen.*
Mit der grenzüberschreitenden Dimension der Arbeit in einer zunehmend digitalisierten Welt ist neben dem Internationalen Privatrecht auch die Ebene der Europäischen Union angesprochen, die ja vordringlich auch die Schaffung eines digitalen Binnenmarktes zum Ziel hat. Jede Form der Regulierung des Arbeitsverhältnisses oder auch des kollektiven Auftretens Arbeitender zur Verbesserung ihrer Entgelt- und Arbeitsbedingungen führt somit auch zu einer Einschränkung der Freiheit, auf diesem unternehmerisch zu agieren und sich ein möglicherweise bestehendes regulatorisches Gefälle zwischen den Mitgliedstaaten zu Nutze zu machen. Dieses Zusammentreffen von AN-Rechten und Grundfreiheiten ist den meisten noch von den viel diskutierten EuGHRechtssachen Viking* und Laval* in Erinnerung. 110 In einem digitalen Binnenmarkt stellt sich diese Problematik in neuer und wohl auch verschärfter Form. Dazu kommen entsprechende Rechtsakte auf EU-Ebene, wie insb die projektierte Verordnung zur künstlichen Intelligenz,* die auch eine arbeitsrechtliche Dimension hat.*
Und zuletzt ist der Informationsraum, in dem nunmehr verstärkt gearbeitet wird, ein Datenraum, dh dass die Arbeitsorganisation dort datengetrieben in unterschiedlicher Form stattfindet und zur automatisierten Entscheidungsfindung häufig Algorithmen zum Einsatz kommen. Daraus verspricht man sich nicht nur Effizienzgewinne, sondern auch, dass diese Algorithmen objektiv entscheiden – das ist natürlich eine weitere Digitalisierungslegende, da gerade hier großes Potenzial zu Diskriminierung besteht.*
Sucht man nun nach Lösungen auf die hier aufgeworfenen Fragen der Digitalisierung, so bieten sich im Wesentlichen zwei Optionen, die einander freilich nicht ausschließen: Eine individuelle, die an der Eigenschaft der Arbeitenden als Personen iSd § 16 ABGB anknüpft, nämlich, dass diese angeborene Rechte haben und diese unabhängig des Status als AN zustehen. Der Schutz könnte somit daran anknüpfen, dass jemand persönlich arbeitet und dabei personenbezogene Daten iSd DSGVO generiert, die dann von den AG oder gar Dritten verarbeitet werden. Und tatsächlich lassen sich viele Probleme, die durch das Arbeiten im Informationsraum entstehen, durch das Datenschutzrecht befriedigend lösen. Hierbei darf aber nicht übersehen werden, dass sich AN aber strukturell in einer Situation des Machtungleichgewichts befinden, was für allfällige individuelle Zustimmungen bedeutsam ist und diese mitunter in einem anderen Licht erscheinen lässt.*
Die zweite Strategie, mit den mit dem Arbeitsverhältnis verbundenen Ungleichheiten umzugehen, ist die des kollektiven Verhandelns und der kollektiven Vertretung – sie ist genuin arbeitsrechtlich, wurde von den Arbeitenden selbst zur Verbesserung ihrer Situation entwickelt und steht dem Marktmodell eigentlich näher als eine direkte gesetzliche Regulierung. Die individuelle Unterlegenheit des/der Einzelnen wird durch das Kollektiv und das kollektive Auftreten ausgeglichen – und das hat zudem noch den Vorteil, dass so eine relativ niederschwellige, demokratisch legitimierte Mitgestaltung der Arbeitsbedingungen stattfinden kann. Alles gute Argumente dafür, sich dieser Institutionen gerade in Österreich zu bedienen, um den Herausforderungen der Digitalisierung zu begegnen und diese auch in Richtung schutzbedürftiger Selbständiger zu erweitern. Ich möchte an dieser Stelle nochmals betonen, dass diese beiden Lösungswege individuell und kollektiv einander nicht ausschließen, sondern es, wie so häufig, zur effektiven Zielerreichung auf eine austarierte Kombination der beiden ankommt.
Gerade heute ist der Essay von John Maynard Keynes aus 1930 mit dem Titel „Wirtschaftliche Möglichkeiten für unsere Enkelkinder“,* in dem er eine Vision für das Leben in 100 Jahren, somit 2030 und damit in neun Jahren, entwickelte, von besonderem Interesse.*Keynes geht davon aus, dass der Mensch wegen des technologischen Wandels und des damit bewirkten Wohlstandsgewinns nicht mehr wesentliche Teile des Tages dafür verwenden muss, um sein Überleben und Auskommen zu sichern. „Zum ersten Mal seit seiner Erschaffung wird der Mensch damit vor seine wirkliche, seine beständige Aufgabe gestellt sein – wie seine Freiheit von drückenden wirtschaftlichen Sorgen zu verwenden, wie seine Freizeit auszufüllen ist, die Wissenschaft und Zinseszins für ihn gewonnen haben, damit er weise, angenehm und gut leben kann.“
Und das wird nach der Vorstellung von Keynes gar nicht so leicht sein, da der Mensch seit Beginn auf Knappheit konditioniert ist und deren Überwindung sein Leben wesentlich ausfüllt. Es ist daher ein Wandel vor allem der Wertehaltung zu bewerkstelligen: „Ich sehe deshalb für uns die Freiheit, zu einigen der sichersten und zuverlässigsten Grundsätze der Religion und der althergebrachten Werte zurückzukehren – dass Geiz ein Laster ist, das Eintreiben von Wucherzinsen ein Vergehen, die Liebe zum Geld abscheulich, und dass diejenigen am wahrhaftigsten den Pfad der Tugend und der maßvollen Weisheit beschreiten, die am wenigsten über das Morgen nachdenken. Wir werden die Zwecke wieder höher werten als die Mittel und das Gute dem Nützlichen vorziehen. Wir werden diejenigen ehren, die uns lehren können, wie wir die Stunde und den Tag tugendhaft und gut vorbeiziehen lassen können, jene herrlichen Menschen, die fähig sind, sich unmittelbar an den Dingen zu erfreuen, die Lilien auf dem Feld, die sich nicht mühen und die nicht spinnen.“
Das bietet sehr viel Stoff zum Nachdenken – auch darüber, warum das eigentlich trotz allen Fortschritts und Wohlstandsgewinnes nicht eingetreten ist. 111