Die Zukunft des Arbeitsrechts im Digitalen Binnenmarkt*
Die Zukunft des Arbeitsrechts im Digitalen Binnenmarkt*
Konflikt zwischen dem Binnenmarkt und der sozialen Dimension des EU-Rechts
Verfassungsranglicher Konflikt
Interner Konflikt
Fabrizierter Konflikt
Warum sind diese Konflikte wichtig?
Digitale Konflikte?
Fabrizierter Konflikt
Interne Konflikte
Verfassungsranglicher Konflikt
Conclusio
Das Spannungsverhältnis zwischen den sozialen und wirtschaftlichen Erfordernissen des EU-Rechts könnte nicht enger mit der Geschichte der europäischen Integration verwoben sein. In diesem Zusammenhang stellt sich aber die Frage, ob der Binnenmarkt das eigentliche Ziel der EU ist, oder nur das Mittel zu einem viel umfassenderen Zweck.*
Die Entwicklung der Verträge erzählt in dieser Hinsicht eine bemerkenswerte Geschichte: Im Gegensatz zur bloßen Vision wirtschaftlicher Integration und einem daraus folgenden (vergleichsweise) engen Fokus auf die Marktintegration im Vertrag von Rom wird in der nach Lissabon geänderten Fassung des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union ausdrücklich festgestellt, dass es in der Union kein Spannungsverhältnis zwischen dem Markt und dem Sozialen gibt, sondern Ersteres ein Mittel zur Förderung des Letzteren ist, wie auch Art 3 Abs 2 EUV deutlich macht:
„Die Union errichtet einen Binnenmarkt. Sie wirkt auf [...] eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt [...] hin.Sie bekämpft soziale Ausgrenzung und Diskriminierungen und fördert soziale Gerechtigkeit und sozialen Schutz, [und] die Gleichstellung von Frauen und Männern [...].“
Die entscheidende Definition in Art 26 Abs 2 AEUV unterstreicht wiederum, dass der Binnenmarkt nicht per se mit einer Deregulierung einhergehen muss – sein Schwerpunkt liegt vielmehr auf der Beseitigung grenzüberschreitender Handelshemmnisse:
„Der Binnenmarkt umfasst einen Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gemäß den Bestimmungen der Verträge gewährleistet ist.“*
In den Verträgen und im Sekundärrecht der Union wurden auf dieser Basis eine Reihe ausgeklügelter Mechanismen entwickelt, um das Gleichgewicht zwischen wirtschaftlichen Marktfreiheiten und 112 gegenläufigen Erwägungen zu gewährleisten, die von den Grundrechten bis hin zu umfassenderen nationalen Regelungspräferenzen reichen. Dasselbe gilt für das europäische Arbeitsrecht, sowohl in Bezug auf die Gesetzgebungskompetenzen* als auch auf die inhaltliche Gestaltung des Sekundärrechts.*
Und doch ist das Verhältnis zwischen dem Binnenmarkt und dem sozialen acquis der Union im Laufe ihrer Entwicklung immer wieder von Spannungen geprägt. In diesem Aufsatz soll deshalb genauer untersucht werden, wie sich diese Spannungen auf dem Weg des Binnenmarktes in das digitale Zeitalter auswirken könnten. Dabei werden verschiedene Konflikte evident, deren potenzielle Lösungen sorgfältig abgewogen werden müssen, um eine tragfähige Zukunft für ein digitales, soziales Europa zu gewährleisten.
Die nachstehende Abhandlung gliedert sich folgendermaßen: Abschnitt 1 enthält eine Taxonomie der bestehenden Konflikte zwischen Binnenmarktnormen und Sozialschutz, die von verfassungsrechtlichen über interne Spannungen bis hin zu fabrizierten Konflikten reichen. In Abschnitt 2 wird die weitergehende Bedeutung dieser Spannungen untersucht – insb in Hinblick auf Herausforderungen, denen sich die EU in einer Welt rasch fortschreitender technologischer Prozesse gegenübersieht. Abschnitt 3 kehrt zur ursprünglichen Konflikttaxonomie zurück und zeigt auf, wie sich digitale Äquivalente in den jüngsten legislativen Entwicklungen, einschließlich der vorgeschlagenen KI-VO, auswirken oder auswirken könnten. In einem abschließenden Abschnitt werden mögliche Lösungen und alternative Ansätze untersucht, die sicherstellen sollen, dass sozialer Fortschritt und die Entwicklung des Binnenmarktes, wie in Art 3 Abs 2 EUV vorgesehen, (weiterhin) Hand in Hand gehen.
Die verschiedenen Dimensionen des Konflikts zwischen Marktintegration und konkurrierenden Regulierungszielen sind seit langem Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen zum EU-Recht.* Im Kontext des EU-Beschäftigungsrechts lassen sich drei Kategorien oder Modelle von Konflikten – verfassungsrangliche, interne sowie fabrizierte Konflikte – unterscheiden. In diesem Abschnitt wird jedes dieser Modelle kurz anhand eines viel beachteten Rechtsstreits illustriert. Diesbezüglich sei allerdings vorab angemerkt, dass die hier vorgenommene Kategorisierung keinesfalls indisputabel ist bzw das einzig denkbare Analysemodell darstellt. Sie bietet jedoch eine gute Basis für die Erörterung der entstehenden Konflikte in den nachfolgenden Abschnitten.
Konflikte in diesem Bereich können als „vertikale“ Szenarien betrachtet werden, in denen EU-Recht (der Binnenmarkt) mit nationalen (sozialen) Normen kollidiert. Die berühmteste (aber vermutlich auch berüchtigtste) E in dieser Hinsicht ist wohl die Rs Viking Line,* bei der der Gerichtshof mit einem Konflikt zwischen der Niederlassungsfreiheit nach Art 49 AEUV (vormals Art 43 EG) und dem nationalen Streikrecht konfrontiert war.
In der Rs Viking Line befand sich die gleichnamige finnische Fährgesellschaft in einem Streit mit der Finnischen Seeleutegewerkschaft (FSU). Dabei ging es um den Versuch der Gesellschaft, das Schiff „Rosella“ künftig unter estnischer (oder norwegischer) Flagge zu betreiben, um einen neuen Tarifvertrag für die Besatzung abschließen zu können. Auf Ersuchen der FSU gab die Internationale Transportarbeiter-Föderation (ITF) ein Rundschreiben heraus, in dem sie alle ihr angeschlossenen Gewerkschaften anwies, keine Verhandlungen mit Viking Line aufzunehmen, was deren Bemühungen um eine Senkung der Besatzungskosten zunichte machte. Nach dem Beitritt Estlands zur EU im Frühjahr 2004 reichte die Fährgesellschaft eine Reihe von Klagen bei den englischen Gerichten ein und behauptete, das (in London erlassene) ITF-Rundschreiben verletze ihre Rechte auf Freizügigkeit nach EU-Recht. In Beantwortung eines Vorabentscheidungsersuchens des englischen Court of Appeal wurde der EuGH daher gebeten, im Rahmen einer Reihe von Fragen darüber zu entscheiden, inwieweit kollektive Maßnahmen dem Unionsrecht unterliegen sollten.
Der EuGH hielt dabei Folgendes fest:
„Demnach ist zwar das Recht auf Durchführung einer kollektiven Maßnahme einschließlich des Streikrechts als Grundrecht anzuerkennen, das fester Bestandteil der allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ist, deren Beachtung der Gerichtshof sicherstellt, doch kann seine Ausübung bestimmten Beschränkungen unterworfen werden.“*„[Es folgt,] dass grundsätzlich eine kollektive Maßnahme, die von einer Gewerkschaft oder einem Gewerkschaftsverband gegen ein Unternehmen zu dem Zweck betrieben wird, dieses Unternehmen dazu zu veranlassen, einen Tarifvertrag abzuschließen, dessen Inhalt geeignet ist, das Unternehmen davon abzubringen, von der Niederlassungsfreiheit Gebrauch zu machen, dem Anwendungsbereich von Art 43 EG nicht entzogen ist.“*
Eine eingehende Prüfung möglicher Rechtfertigungsgründe ergab, dass die Grundrechte zwar grundsätzlich zur Aufhebung von Grundfreiheiten herangezogen werden können, die vorgeschlagene Maßnahme in dem vom vorlegenden Gericht angeführten Sachverhalt aber wahrscheinlich unver- 113 hältnismäßig war, da sie über das zum Schutz der Beschäftigungsrechte der derzeitigen Besatzung Erforderliche hinausging – nicht zuletzt deshalb, weil der FSU möglicherweise andere und weniger restriktive Mittel zur Verfügung gestanden hätten.*
Bei der zweiten Konflikt-Kategorie, den „internen“ Konflikten, handelt es sich um Fälle der Kollision von Binnenmarktvorschriften (im weitesten Sinne) mit anderen Normen des Unionsrechts, die durch innerstaatliches Recht umgesetzt werden. Die Entscheidung des Gerichtshofs in der Rs Alemo-Herron zeigt einen solchen Konflikt zwischen der Betriebsübergangs-RL (RL 2001/23/EG) und Art 16 GRC anschaulich auf.*
Mark Alemo-Herron und seine Kollegen waren Angestellte des Lewisham London Borough Council und arbeiteten auf der Grundlage von Arbeitsverträgen, die eine Reihe von Bedingungen (insb die Entlohnung betreffend) enthielten, welche extern vom National Joint Council for Local Government Services (NJC), einem nationalen Verhandlungsgremium für öffentliche AG und Gewerkschaften, festgelegt wurden. Die Freizeitabteilung des Rates wurde 2002 an ein privates Unternehmen, CCL Ltd, verkauft und 2004 auf Parkwood Leisure Ltd übertragen.
Nach dem Auslaufen des zum Zeitpunkt des Übergangs geltenden Tarifvertrags weigerte sich Parkwood, die Ergebnisse der nachfolgenden NJC-Verhandlungen anzuerkennen. In dem anschließenden Rechtsstreit wegen unzulässiger Lohnabzüge berief sich das Unternehmen auf die E des EuGH in der Rs Werhof/Freeway Traffic Systems,* um das innerstaatliche Recht zu bekämpfen, das sogenannten „dynamischen“ Klauseln volle Geltung verleiht. Darunter sind Klauseln zu verstehen, die extern ausgehandelte Bedingungen enthalten, welche erst nach einem relevanten TUPE-Übergang* vereinbart wurden, und nicht nur solche, die zum Zeitpunkt des Übergangs bereits in Kraft standen. Mit diesem Argument konfrontiert, stützte sich der Gerichtshof auf zwei Argumentationsstränge, die ihn dazu bewogen, sich letztlich der Ansicht des AG anzuschließen. Zum einen erfordere die Betriebsübergangsregelung einen Ausgleich zwischen AN- und AG-Interessen;* zum anderen sei dem Grundsatz der Vertragsfreiheit aufgrund von Art 16 GRC gebührendes Gewicht beizumessen: „Art 3 der Richtlinie 2001/23 ist jedoch auf jeden Fall im Einklang mit Art 16 der Charta zur unternehmerischen Freiheit auszulegen.“
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Art 3 Betriebsübergangs-RL sei daher dahingehend auszulegen, dass er die Durchsetzbarkeit dynamischer Eingliederungsklauseln gegenüber dem Erwerber ausschließt, wenn dieser nach der Übertragung nicht an den entsprechenden Verhandlungen teilnehmen konnte. Damit sei es einem Mitgliedstaat „verwehrt, vorzusehen, dass im Fall eines Unternehmensübergangs die Klauseln, die dynamisch auf nach dem Zeitpunkt des Übergangs ausgehandelte und abgeschlossene Kollektivverträge verweisen, gegenüber dem Erwerber durchsetzbar sind, wenn dieser nicht die Möglichkeit hat, an den Verhandlungen über diese nach dem Übergang geschlossenen Kollektivverträgen teilzunehmen“
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Die dritte und letzte Kategorie potenzieller Konflikte kann kurz abgehandelt werden und lässt sich anhand der angeblich bestehenden Konflikte zwischen dem deutschen Mitbestimmungsgesetz als (mittelbare) Diskriminierung (Art 18 AEUV) und Beschränkung der AN-Freizügigkeit (Art 45 Abs 1 AEUV), zB beim Ausscheiden aus Aufsichtsräten, illustrieren.* Dieses Problem stand im Mittelpunkt des Rechtsstreits in der Rs Erzberger.* Der Gerichtshof beendete den Konflikt jedoch mit einem klaren Hinweis auf die Grenzen seiner Zuständigkeit und den Anwendungsbereich des Unionsrechts:
„Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung die Vertragsbestimmungen über die Freizügigkeit nicht auf Situationen anwendbar sind, die keine Berührung mit irgendeinem der Sachverhalte aufweisen, auf die das Unionsrecht abstellt.“*
Im Ergebnis hindert das Unionsrecht
„[...] einen Mitgliedstaat nicht daran, im Bereich der kollektiven Vertretung und Verteidigung der Arbeitnehmerinteressen in den Leitungs- und Aufsichtsorganen einer Gesellschaft nationalen Rechts, der bislang nicht Gegenstand einer Harmonisierung oder auch nur einer Koordinierung auf Unionsebene war, vorzusehen, dass die von ihm erlassenen Vorschriften nur auf die Arbeitnehmer inländischer Betriebe Anwendung finden. Desgleichen steht es einem anderen Mitgliedstaat frei, bei der Anwendung seiner eigenen nationalen Vorschriften auf einen anderen Anknüpfungspunkt zurückzugreifen.“*
Eine absichtliche Herbeiführung eines Konflikts konnte somit dadurch verhindert werden, dass der Gerichtshof einen derartigen Versuch der Berufung auf EU-Recht mit dem Zweck, seit langem etablierte nationale Regulierungsentscheidungen umzustoßen, klar als solchen erkannt hat.
Warum sind diese Konflikte aber so wichtig, wenn man über die Zukunft des (EU-)Arbeitsrechts nachdenkt? 114 Schließlich sind sie doch ein fester Bestandteil der Verfassungsordnung. Dennoch gibt es mindestens drei Gründe, warum diese Spannungen im Auge behalten werden müssen, wenn der Binnenmarkt beginnt, digitale Technologien zu regulieren. Zum einen zeigt sich ihre Relevanz in der politischen Herausforderung sicherzustellen, dass das Engagement der Union für den sozialen Fortschritt nicht nur eine bloße Floskel bleibt. Wie der ehemalige Kommissionspräsident Junckereinräumte, habe das Handeln der Union gelegentlich zu „Zweifeln am sozialen Fortschritt, am Nutzen des Wandels und an den Vorteilen des Zusammengehörens“ geführt. Infolgedessen müssten „wir wieder einen Prozess der Konvergenz in Gang bringen [...] in dessen Mittelpunkt Produktivität, die Schaffung von Arbeitsplätzen und soziale Gerechtigkeit stehen“.
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Zweitens muss sichergestellt werden, dass die Regulierungsentscheidungen der Mitgliedstaaten respektiert werden, wenn diese tief in umfassendere Regelungen eingebettet sind. Dies gilt insb für nationale Systeme der Arbeitsbeziehungen und der Arbeitsmarktorganisation. Wie der EuGH in der Rs Erzberger hervorhob, sind Mitbestimmungsregelungen und ihre praktische Anwendung lediglich „die Folge der legitimen Entscheidung der Bundesrepublik Deutschland, die Anwendung ihrer nationalen Vorschriften im Bereich der Mitbestimmung auf die bei einem inländischen Betrieb tätigen Arbeitnehmer zu beschränken“.* Demgegenüber steht der oben dargelegte Konflikt in der Rs Alemo-Herron, in der der englische Court of Appeal aufgrund des Konflikts zwischen verschiedenen EU-Normen mit einiger Überraschung zu dem Schluss kam, dass paradoxerweise „eine herkömmliche Anwendung der allgemeinen Grundsätze des [englischen] Vertragsrechts den Arbeitnehmern einen deutlich besseren Schutz bieten würde als eine Anwendung der EU-Grundrechtecharta“
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Drittens, und das ist der vielleicht wichtigste Punkt, können fehlgeleitete Konflikte zu einer radikalen Deregulierung führen, indem gut etablierte Regulierungsmechanismen des Unionsrechts vollständig zusammenbrechen, wenn nationale Maßnahmen nicht durch Maßnahmen auf Unionsebene ersetzt werden können. Wie das komplizierte Zusammenspiel der Art 34 und 114 AEUV zeigt, folgen auf eine negative Integration durch die gerichtliche Durchsetzung von Unionsnormen nicht selten positive Integrationsmaßnahmen, die vom Unionsgesetzgeber beschlossen werden.* Wo dies aus politischen Gründen nicht möglich ist, kann das Unionsrecht nationalen Maßnahmen zuvorkommen, ohne jedoch ein alternatives Regelwerk zu bieten. Dies wird am besten durch den „Tod“ des sogenannten „Monti II“-Vorschlags zur Vereinbarkeit von Freizügigkeitsrechten und Streikrecht veranschaulicht.*„Seine Unzulänglichkeiten waren damals zwar bekannt, aber er war das Beste, was man sich angesichts der gegebenen Umstände erhoffen konnte. Von ihm ging ein wichtiges politisches Signal aus, und er gab dem Gerichtshof einen wohlwollenden Anstoß zu einem (wenn auch subtilen) Kurswechsel.“
* Dies und andere „verborgene Schönheiten“ sind ob der festgestellten Spannungen verloren gegangen.
Es ist daher klar, dass wir mit Vorsicht vorgehen müssen, wenn wir ähnliche Konflikte und Spannungen im digitalen Binnenmarkt zu vermeiden oder abzuschwächen versuchen. Es kann nicht hoch genug eingeschätzt werden, wie wichtig es ist, dabei die richtige Balance zu finden: Angesichts der Allgegenwärtigkeit digitaler Technologien in potenziell jedem Bereich unseres Lebens haben Binnenmarktregeln, die bisher auf bestimmte Bereiche (wie zB die Freizügigkeit) beschränkt waren, nunmehr einen potenziell unbegrenzten Anwendungsbereich.
Die Europäische Kommission hat angesichts der fortschreitenden technologischen Entwicklung die Notwendigkeit, bestehende Maßnahmen anzupassen und neue Maßnahmen einzuführen, längst erkannt. Dies gilt insb (aber nicht nur) für den Bereich der Künstlichen Intelligenz (KI), in dem die EU bestrebt ist, „bei der Entwicklung und Nutzung von KI zum Wohle aller eine Vorreiterrolle zu übernehmen“
.* Eine Reihe politischer Dokumente, darunter vor allem das Weißbuch 2020 über KI, beinhalten eine Reihe von Zielen, die an die bisher ermittelten Spannungen erinnern – sie reichen von der Förderung der Innovation und der Gewährleistung der Wettbewerbsfähigkeit des Binnenmarktes bis hin zum Schutz der Bürger vor Schäden, die die Digitalisierung verursachen könnte.*
Maßnahmen auf Unionsebene sind zweifelsohne erforderlich; fraglich erscheint jedoch, ob sie in der Lage sein werden, diese breit gefächerten Ziele zu erreichen. Bejahen lässt sich diese Frage wohl nur, wenn wir Lehren aus früheren Kontroversen ziehen, um so altbekannte Fallstricke zu vermeiden. Auf die oben vorgenommene Kategorisierung potenzieller Konflikte zurückgreifend, finden sich in diesem Abschnitt drei konkrete Beispiele dafür, wie sich ähnliche Spannungen im Kontext des EU-Rechts auswirken könnten.
Ein Beispiel für einen bewusst herbeigeführten Konflikt ist die Entscheidung in der Rs Elite Taxi, in welcher versucht wurde, die RL 98/34/EG*115 gegen die innerstaatliche Regulierung von Taxidiensten in Spanien durchzusetzen.*
Auf den ersten Blick ist die Frage, mit der sich das Gericht befasste, recht technisch und für das Arbeitsrecht wenig relevant: Ist Uber, die selbsternannte „Mitfahrplattform“, ein „Dienst der Informationsgesellschaft“ iSd EU-RL über den elektronischen Geschäftsverkehr? Der Rechtsstreit ging auf eine Reihe von Klagen zurück, die von Elite Taxi, einer Lobbyorganisation der Taxifahrer in Barcelona, gegen UberPOP, einen Billigtransportdienst, der ohne die nach lokalem Recht erforderlichen Lizenzen und Genehmigungen arbeitete, eingereicht wurden.*
Der Generalanwalt stellte zwar eine „gewisse Verwirrung“ in Bezug auf die detaillierten Forderungen fest, der Kern des Arguments lässt sich jedoch relativ leicht zusammenfassen: Sei der gesamte Betrieb von Uber als „Dienst der Informationsgesellschaft“ iSd RL 2000/31/EG einzustufen, würden die Regulierungsbefugnisse der einzelnen Mitgliedstaaten stark eingeschränkt: Vorbehaltlich enger Ausnahmen könnten schließlich nationale Gesetze „die Freiheit, Dienste der Informationsgesellschaft anzubieten, nicht einschränken“.
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Die Folgen einer solchen Feststellung wären weitreichend gewesen – und es überrascht vielleicht nicht, dass der Gerichtshof (nach einer detaillierten Analyse von Generalanwalt Szpunar) die Falle erkannte und ihr geschickt auswich. Der Gerichtshof erkannte zwar an, dass Uber die Technologie auf neuartige und interessante Weise einsetzt, aber eben nicht in einem Ausmaß, das als grundlegend von seinen Beförderungsdiensten abgekoppelt angesehen werden könnte:
„Dieser Vermittlungsdienst ist somit als integraler Bestandteil einer Gesamtdienstleistung, die hauptsächlich aus einer Verkehrsdienstleistung besteht, anzusehen und daher nicht als ‚Dienst der Informationsgesellschaft‘ im Sinne von Art 1 Nr 2 der Richtlinie 98/34, auf den Art 2 Buchst. a der Richtlinie 2000/31 verweist, sondern als ‚Verkehrsdienstleistung‘ im Sinne von Art 2 Abs 2 Buchst. d der Richtlinie 2006/123 einzustufen.“*
Folglich fiel die fragliche Situation nicht in den Geltungsbereich des EU-Rechts, sodass sowohl in Spanien als auch in den übrigen Mitgliedstaaten die nationalen Rechtsvorschriften unberührt blieben.
Nicht alle Spannungen führen zwangsläufig zu Rechtsstreitigkeiten: Stattdessen können sie auch problematische Anreize für diejenigen schaffen, die durch die verschiedenen Maßnahmen geschützt werden sollen. Dies lässt sich am Beispiel der Spannung zwischen der RL (EU) 2019/1152 über transparente und vorhersehbare Arbeitsbedingungen und der VO (EU) 2019/1150 zur Förderung von Fairness und Transparenz für gewerbliche Nutzer von Online-Vermittlungsdiensten verdeutlichen. Während das erste Instrument die Beziehungen zwischen AN und ihren AG regelt, zielt das zweite auf unabhängige Unternehmen ab, die für ihren wirtschaftlichen Erfolg auf größere Plattformen angewiesen sind. Dabei gibt es aber erhebliche inhaltliche Überschneidungen (auf verschiedenen Schutzniveaus) zwischen den Maßnahmen.
Die RL über transparente Arbeitsbedingungen schreibt zB vor, dass der AN über „das einzuhaltende Verfahren [...] einschließlich der formalen Anforderungen und der Kündigungsfristen bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses“ informiert werden muss.* Sie führt auch einen Schutz gegen rachsüchtige Entlassungen „und deren Äquivalent“ ein, wobei der Begriff „rachsüchtig“ auch die Verweigerung künftiger Arbeitseinsätze umfasst.*
Im Rahmen der Platform-to-Business-(P2B-)Regelung müssen Plattformen dagegen „die Gründe für Entscheidungen über die Aussetzung oder Beendigung oder jede andere Art von Beschränkung der Bereitstellung ihres Online-Vermittlungsdienstes darlegen“. Außerdem haben sie (mit bestimmten Ausnahmen, zB bei Verstößen gegen die Geschäftsbedingungen) eine „Begründung“ für die Zugangsbeschränkung oder -aussetzung vorzulegen, wobei für Kündigungsentscheidungen eine Frist von mindestens 30 Tagen einzuhalten ist.* Die P2B-VO sorgt darüber hinaus für Vorhersehbarkeit in dem für Plattformbeschäftigte entscheidenden Punkt ihrer Einstufung, die häufig über den Zugang zu den besten oder bestbezahlten Arbeitsplätzen entscheidet* und mit der Einführung des algorithmischen Managements an Arbeitsplätzen im gesamten Wirtschaftsspektrum zunehmend zu einem wichtigen Faktor bei der Bewertung der Leistung und Beschäftigungsaussichten von AN im Allgemeinen werden wird. Art 5 Abs 1 P2B-VO schreibt in dieser Hinsicht vor, dass die Plattformen die wichtigsten Parameter, die für die Einstufung ausschlaggebend sind, und die Gründe für die relative Bedeutung dieser wichtigsten Parameter im Vergleich zu anderen Parametern darlegen. Die bereitgestellten Informationen müssen „ausreichen, um [...] ein angemessenes Verständnis“ dafür zu ermöglichen, wie der Einstufungsmechanismus die verschiedenen Merkmale berücksichtigt.*
Bei näherer Betrachtung stellt sich also heraus, dass das letztgenannte Instrument etwa hinsichtlich der Vorhersehbarkeit und Begründung von Vertragsänderung/-kündigung* einen großzügigeren Schutz bieten und (eigentliche) AN möglicherweise dazu verleiten könnte, ihren Status falsch einzustufen, um in den Genuss ebendieses besseren 116 Schutzes zu kommen. Diese Vorgangsweise würde aber letztlich die laufenden Bemühungen um eine kohärente Anwendung des Arbeitsrechts auf neu entstehende Arbeitsverhältnisse zunichte machen.
Wie in Abschnitt 1 dargelegt, ergeben sich die bedeutendsten Folgen aus den Spannungen auf verfassungsrechtlicher Ebene, wenn Maßnahmen der Union nationalen Regulierungsbemühungen vollständig vorgreifen, ohne selbst materiellen Schutz zu bieten. In den kommenden Jahren wird dies zu einem besonders dringenden Problem im EU-Recht werden. Eine derartige Problemstellung findet sich in dem kürzlich durch die Kommission vorgelegten Vorschlag zur unionsrechtlichen Festlegung harmonisierter Vorschriften für KI (KI-VO).*
Der dieser Maßnahme zugrunde liegende Ansatz erscheint zunächst vielversprechend. Vor allem wird der Einsatz von KI-Systemen in den „Bereichen Beschäftigung, Personalmanagement und Zugang zur Selbstständigkeit“ ausdrücklich als Hochrisikokontext anerkannt. Dies inkludiert
KI-Systeme, die bestimmungsgemäß für die Einstellung oder Auswahl natürlicher Personen verwendet werden sollen, insbesondere für die Bekanntmachung freier Stellen, das Sichten oder Filtern von Bewerbungen und das Bewerten von Bewerbern in Vorstellungsgesprächen oder Tests;
KI-Systeme, die bestimmungsgemäß für Entscheidungen über Beförderungen und über Kündigungen von Arbeitsvertragsverhältnissen, für die Aufgabenzuweisung sowie für die Überwachung und Bewertung der Leistung und des Verhaltens von Personen in solchen Beschäftigungsverhältnissen verwendet werden sollen.*
Auf den ersten Blick zieht die Einstufung als Hochrisiko-KI-System eine Reihe wichtiger Anforderungen für derartige KI-Einsätze nach sich,* darunter etwa Risikomanagement (Art 8), Daten-Governance (Art 10), Aufzeichnungspflichten (Art 12), Menschliche Aufsicht (Art 14) sowie Vorgaben zu Genauigkeit, Robustheit und Cybersicherheit (Art 15).
Ob diese Verpflichtungen tatsächlich einen ausreichenden Schutz gegen den problematischen Einsatz von KI am Arbeitsplatz bieten können, erscheint jedoch fraglich.* Eine genauere Lektüre der Bestimmungen des Gesetzesvorschlags spricht wohl eher gegen eine solche Annahme. Dies vor allem deshalb, weil das Gesetz zwar „Konformitätsbewertungen“ vorschreibt, bevor automatisierte Entscheidungsfindungssysteme eingesetzt werden können, es sich dabei allerdings um reine Selbstbewertungen handelt, bei denen die Softwareanbieter selbst die eigene Übereinstimmung mit dem Gesetz oder externen Produktstandards bescheinigen können.* Eng damit verbunden sind im Vorschlag angelegte Probleme im Zusammenhang mit der Transparenz und dem Zugang zu Informationen: Zwar wird „eine angemessene Art und ein angemessenes Maß an Transparenz gewährleistet“
(Art 13), doch werden den AN und ihren Vertretern keinerlei Rechte eingeräumt – der Geltungsbereich dieses Transparenzgebots ist nämlich auf die „Nutzer“ von KI-Systemen, dh die AG, beschränkt.
Insgesamt verspricht das Gesetz also wenig für den AN-Schutz auf Unionsebene und stellt gleichzeitig eine ernsthafte Gefahr für das nationale Arbeitsrecht dar. Denn die mit Art 114 AEUV gewählte Rechtsgrundlage der VO wird häufig zur Maximalharmonisierung, dh der Festlegung von Standards, von denen die Mitgliedstaaten nicht abweichen dürfen, herangezogen.* Wie Erwägungsgrund 1 des Verordnungsvorschlags erläutert, ist der Zweck der VO,
„[...] das Funktionieren des Binnenmarkts zu verbessern, indem ein einheitlicher Rechtsrahmen insbesondere für die Entwicklung, Vermarktung und Verwendung künstlicher Intelligenz im Einklang mit den Werten der Union festgelegt wird. Diese Verordnung beruht auf einer Reihe von zwingenden Gründen des Allgemeininteresses, wie einem hohen Schutz der Gesundheit, der Sicherheit und der Grundrechte, und gewährleistet den grenzüberschreitenden freien Verkehr KI-gestützter Waren und Dienstleistungen, wodurch verhindert wird, dass die Mitgliedstaaten die Entwicklung, Vermarktung und Verwendung von KI-Systemen beschränken, sofern dies nicht ausdrücklich durch diese Verordnung erlaubt wird.“
Die Kombination aus maximaler Harmonisierung mit Vorschriften, die nicht nur die Produktentwicklung und -vermarktung, sondern auch den Einsatz von KI-Systemen betreffen, verleiht dem Gesetz einen potenziell sehr großen präventiven Anwendungsbereich.* Die Auswirkungen dieses Konflikts auf verfassungsrechtlicher Ebene können kaum überschätzt werden. Innerstaatliche Regelungen, von der Mitbestimmung bei der Einführung algorithmischer Managementsysteme in Deutschland und Österreich* bis hin zum kürzlich erlassenen spanischen Gesetz zur algorithmischen Transparenz in der Gig-Economy,* würden direkt in den Geltungsbereich der Maximalharmonisierungsregelung des Gesetzesvorschlags fallen, der damit komplexe nationale Regelungen durch eine zahnlose Selbstzertifizierung auf europäischer Ebene ersetzen würde.
Abschließend ist festzuhalten, dass keine der vorstehenden Ausführungen als Argument gegen gesetzgeberische Maßnahmen auf Unionsebene zur Regulierung des digitalen Binnenmarktes im 117 Allgemeinen und der KI im Besonderen verstanden werden sollte. Angesichts der globalen Entwicklung digitaler Technologien sind Initiativen der Union in diesem Bereich sehr zu begrüßen. Gleichzeitig ist dabei jedoch äußerste Sorgfalt geboten, um ein Gleichgewicht zwischen konkurrierenden Zielen zu gewährleisten – sowohl bei der Gestaltung von Maßnahmen als auch bei der Vermeidung unbeabsichtigter Konsequenzen.
Die festgestellten Konflikte könnten durch verschiedene Zugänge entschärft werden, die aber natürlich jeweils ihre eigenen Vor- und Nachteile haben. Einzelne Rechte könnten zB vollständig vom Beschäftigungsstatus abgekoppelt werden, wie Art 22 Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) zeigt.* Die derzeit in Amsterdam anhängigen Verfahren gegen die Gig-Economy-Plattformen Uber und Ola wegen Verstoßes gegen diese Bestimmung könnten so ohne die oft schwierig zu beurteilende Vorfrage des Beschäftigungsstatus geführt werden.* Gleichzeitig ist jedoch unklar, inwieweit dieser Ansatz auf andere Bereiche des Arbeitsrechts ausgeweitet werden kann.*
Ein anderer Ansatz könnte in der Schaffung ausdrücklicher Ausnahmeregelungen für einen höheren materiellen Schutz im Bereich des Arbeitsrechts liegen. Dies ist eine häufig angewandte Strategie im Zusammenhang mit dem sozialen acquis, wonach Richtlinien den Mitgliedstaaten in der Regel erlauben, „für die Arbeitnehmer günstigere Rechts- oder Verwaltungsvorschriften anzuwenden oder zu erlassen oder für die AN günstigere Kollektivverträge und andere zwischen den Sozialpartnern abgeschlossene Vereinbarungen, die für die Arbeitnehmer günstiger sind, zu fördern oder zuzulassen“
.* Art 29 Abs 2 des vorgeschlagenen KI-Gesetzes ist ein Versuch einer ähnlichen Öffnung; unklar bleibt jedoch, ob er angesichts der allgemeinen Logik der Maximalharmonisierung letztlich erfolgreich sein würde. Wie der Gerichtshof in der Rs Alemo-Herron zur Gold-Plating-Klausel in der Betriebsübergangs-RL bemerkte, ist „Art 3 der Richtlinie 2001/23 in Verbindung mit Art 8 dieser Richtlinie [...] aber nicht dahin auszulegen, dass er die Mitgliedstaaten zum Erlass von Maßnahmen ermächtigt, die zwar für die Arbeitnehmer günstiger sind, aber den Wesensgehalt des Rechts des Erwerbers auf unternehmerische Freiheit beeinträchtigen können“.*
Das vielleicht vielversprechendste Mittel wäre aber wahrscheinlich der Verzicht auf eine übergreifende und allumfassende Regelung schlechthin zugunsten einer kontextspezifischen Anpassung, die etwa durch die Einbeziehung von Vertretern der Sozialpartner in die Normsetzung oder Konformitätsbewertung realisiert werden könnte. Wie Spiros Simitis schließlich vor mehr als zwei Jahrzehnten feststellte, „ist der Zusammenhang zwischen den Grundrechten des Einzelnen und den Vorschriften, die die Verarbeitung seiner Daten einschränken, selten so offensichtlich und die negative Wirkung von Omnibus-Bestimmungen selten so offensichtlich wie im Fall der Arbeitnehmerdaten“.
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Die Entwicklung von Ausgleichsmechanismen zwischen konkurrierenden Zielen ist eine Herausforderung, vor der wir bei der Regulierung des digitalen Binnenmarktes nicht zurückschrecken dürfen. Ein erfolgreiches regulatorisches Eingreifen ist der Schlüssel, um sicherzustellen, dass Innovation und sozialer Schutz nicht in Konflikt geraten: Faire Wettbewerbsbedingungen sind der ultimative Garant sowohl für den sozialen Schutz als auch für einen innovativen digitalen Binnenmarkt. 118