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Nicht-Berücksichtigung von Ersatzzeiten des Präsenzdienstes im Jahr 1978 für die Abschlagsfreiheit ist nicht unsachlich

MONIKAWEISSENSTEINER

Ermöglicht der Gesetzgeber einer Gruppe (jüngerer) Versicherter, die ein besonders langes Erwerbsleben hinter sich gebracht und entsprechend viel an Sozialversicherungsbeiträgen gezahlt haben […] unter bestimmten Voraussetzungen die Inanspruchnahme einer abschlagsfreien vorzeitigen Alterspension, so hält er sich im Rahmen der ihm zukommenden rechtspolitischen Gestaltungsfreiheit, wenn er lediglich Kindererziehungszeiten als Ersatzzeiten den Beitragsmonaten in diesem Zusammenhang gleichstellt.

SACHVERHALT

Der 1958 geborene Kl erwarb bis zum 1.7.2020 535 Beitragsmonate der Pflichtversicherung aus Erwerbstätigkeit nach dem ASVG und GSVG sowie 28 Ersatzmonate nach dem ASVG, davon acht Monate der Präsenzdienstleistung. Ihm wurde von der Bekl zum Stichtag 1.7.2020 eine vorzeitige Alterspension bei langer Versicherungsdauer in Höhe von € 2.972,50 gewährt.

VERFAHREN UND ENTSCHEIDUNG

Mit seiner Klage begehrt der Kl die Pension in gesetzlicher Höhe, mindestens € 3.334,92. Zur Vermeidung einer unsachlichen Ungleichbehandlung seien auch die Monate des Präsenzdienstes als Beitragsmonate iSd § 120 Abs 7 GSVG (Anm: für die Abschlagsfreiheit) zu berücksichtigen.

Das Erstgericht sprach dem Kl die abschlagsfreie vorzeitige Alterspension zu und sah in der Nicht-Berücksichtigung der Präsenzdienstzeiten eine planwidrige Lücke. Das Berufungsgericht stellte über Berufung der Bekl den Inhalt des angefochtenen Bescheids wieder her. Es liege schon deshalb kein Verstoß gegen den Gleichheitssatz vor, weil die Präsenzdienstzeiten ohnehin als qualifizierte Versicherungsmonate für die Erfüllung der Wartezeit berücksichtigt worden seien.

Die Revision sei zulässig, weil noch keine höchstgerichtliche Rsp vorliege.

ORIGINALZITATE AUS DER ENTSCHEIDUNG

„Die Revision ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig, sie ist jedoch nicht berechtigt.

[…] 1.1 […] Der hier relevante […] Abs 7 in § 120 GSVG trat am 1.1.2020 in Kraft (§ 376 Z 1 GSVG) und lautete: „(7) Hat die versicherte Person mindestens 540 Beitragsmonate auf Grund einer Erwerbstätigkeit erworben, so ist eine Verminderung der Leistung nach diesem Bundesgesetz sowie nach dem APG unzulässig; § 139 Abs. 4 dieses Bundesgesetzes sowie die §§ 5 Abs. 2 und 6 Abs. 1 APG sind nicht anzuwenden. Als Beitragsmonate auf Grund einer Erwerbstätigkeit gelten auch bis zu 60 Versicherungsmonate für Zeiten der Kindererziehung (§§ 3 Abs. 3 Z 4, 116a oder 116b 253dieses Bundesgesetzes oder §§ 8 Abs. 1 Z 2 lit. g, 227a oder 228a ASVG oder §§ 4a Abs. 1 Z 4, 107a oder 107b BSVG), wenn sie sich nicht mit Zeiten einer Pflichtversicherung auf Grund einer Erwerbstätigkeit decken.“ Eine inhaltsgleiche Regelung fand sich ua in § 236 Abs 4b ASVG, der mit dem Pensionsanpassungsgesetz 2020, BGBl I 2019/98 (PAG) eingeführt wurde und ebenfalls am 1.1.2020 in Kraft trat.

1.2 […] § 120 […] Abs 7 GSVG ist jedenfalls auf den Kläger gemäß § 383 Abs 4 GSVG weiterhin anwendbar. […]

1.4 Zu den Bestimmungen des § 236b Abs 4 ASVG und des § 120 […] Abs 7 GSVG hat der Oberste Gerichtshof bisher entschieden, dass es sich dabei um Regelungen über die Erfüllung der Wartezeit handelt, die die Wartezeitregelungen für die (Übergangs-)Bestimmungen über die vorzeitige Alterspension bei langer Versicherungsdauer ergänzen. Sie stellen überdies Vorschriften für die Berechnung einer vorzeitigen Alterspension bei langer Versicherungsdauer dar (10 ObS 140/21t Rz 22 mwH).

2.1 Ersatzzeiten sind bestimmte Zeiten, die, ohne dass für sie ein Beitrag entrichtet worden wäre, als leistungswirksam berücksichtigt werden. […]. Ersatzzeiten aus der Zeit nach dem 31.12.1955 und vor dem 1.1.2005 sind gemäß § 227 Abs 1 Z 7 und 8 ASVG (vgl § 116 Abs 1 Z 3 GSVG) Zeiten, in denen der Versicherte aufgrund des Wehrgesetzes 2001 Präsenz- oder Ausbildungsdienst oder aufgrund der Bestimmungen des Zivildienstgesetzes ordentlichen oder außerordentlichen Zivildienst bzw einen Auslandsdienst geleistet hat. […]

2.2 Schon nach dem klaren Wortlaut des § 120 […] Abs 7 GSVG sind die Ersatzzeiten des Präsenzdienstes des Klägers nicht von dieser Bestimmung erfasst (ebenso Marek, Ab Stichtag 1.1.2020 kein Abschlag bei Hacklerpensionen für Männer [aber nicht immer], ARD 6672/5/2019, 4 und Beispiel 2; dieselbe in Poperl/Trauner/Weißenböck, ASVG, Praxiskommentar [72. Lfg], § 236 ASVG Rz 32; offen lassend Beck, Pensionsanpassung, Pensionsbonus, abschlagfreie „Frühpension“ sowie Beitragsentlastung versus Sachlichkeitsgebot und Generationengerechtigkeit [Teil III], SozSi 2020, 123 [125] und FN 16; kritisch Weißensteiner, Aus für Abschlagsfreiheit – Neuer Frühstarterbonus kommt, DRdA-infas 2021, 61;Panhölzl in SV-Komm [291. Lfg] § 236 ASVG Rz 72).

2.3 Eine verfassungskonforme Auslegung dieser Bestimmung mit dem vom Revisionswerber gewünschten Ergebnis, dass danach auch die von ihm geleisteten Ersatzzeiten für Präsenzdienst als Beitragsmonate anzusehen sind, kommt nicht in Betracht. Auch die verfassungskonforme Auslegung muss ihre Grundlage im Gesetz haben. […]

3.1 Die Voraussetzungen für die vom Revisionswerber gewünschte Analogie – etwa zu § 298 Abs 12 GSVG – liegen nicht vor. Eine Analogie setzt eine Gesetzeslücke im Sinn einer planwidrigen Unvollständigkeit voraus (RS0098756 [T1]). […] Hat der Gesetzgeber für einen bestimmten Sachverhalt eine bestimmte Rechtsfolge bewusst nicht angeordnet, fehlt es an einer Gesetzeslücke und daher auch an der Möglichkeit ergänzender Rechtsfindung […].

3.2 Von einer planwidrigen Unvollständigkeit kann hier schon deshalb nicht ausgegangen werden, weil dem Gesetzgeber – wie die Berücksichtigung von Ersatzzeiten für Kindererziehung in § 120 […] Abs 7 GSVG und ihre ausdrückliche Erwähnung in den Gesetzesmaterialien zeigt – das Problem der Berücksichtigung von Ersatzzeiten bei der Schaffung dieser Bestimmung bewusst war. Die Berücksichtigung von Ersatzzeiten der Kindererziehung ist wiederum doppelt eingeschränkt, sodass auch infolge dieser detaillierten Regelung nicht von einem „Übersehen“ von – auch anderen – Ersatzzeiten ausgegangen werden kann: Nur bis zu 60 Versicherungsmonate für Zeiten der Kindererziehung können nach § 120 […] Abs 7 GSVG berücksichtigt werden, und dies nur dann, wenn sie sich nicht mit Zeiten einer Pflichtversicherung aufgrund Erwerbstätigkeit decken. Schließlich ist § 120 GSVG eine Wartezeitregel, die begrifflich von Versicherungsmonaten ausgeht, zu denen Ersatzzeiten gehören (§ 119 Z 1 GSVG). […].

3.3 Der vom Revisionswerber gewünschten Analogie stehen auch die bereits vom Erstgericht zitierten Regelungen entgegen: Die Abschläge bei Inanspruchnahme einer vorzeitigen Alterspension regelt § 139 Abs 4 GSVG. […] Für Versicherte, die wie der Kläger nach dem 31.12.1953 geboren sind, gelangt jedoch § 306 Abs 10 GSVG zur Anwendung, der nur auf § 298 Abs 12 Satz 1 GSVG verweist. Grundsätzlich haben daher Versicherte, die die vorzeitige Alterspension bei langer Versicherungsdauer unter Anwendung des § 306 Abs 10 GSVG in Anspruch nehmen, mit Abschlägen zu rechnen. Genau solche Abschläge soll § 120 […] Abs 7 GSVG verhindern, worauf das Erstgericht hingewiesen hat. In § 298 Abs 12 Satz 1 GSVG sind Ersatzzeiten für die Ableistung des Präsenzdienstes ausdrücklich genannt und als Beitragsmonate nach dieser Bestimmung zu berücksichtigen. Auch aus diesem Grund kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Gesetzgeber Ersatzzeiten für Präsenz- oder Zivildienst in der zu diesem Regelungskomplex in enger Beziehung stehenden Bestimmung des § 120 […] Abs 7 GSVG „übersehen“ hätte.

4.1 Der Revisionswerber argumentiert, dass die Bestimmung gegen den verfassungsrechtlichen Gleichheitssatz verstoße, weil es sachlich nicht rechtfertigbar sei, dass Zeiten der Kindererziehung, nicht jedoch Zeiten des Präsenzdienstes als Beitragsmonate im Sinn des § 120 […] Abs 7 GSVG berücksichtigt werden. Sowohl weibliche Versicherte, die keinen Präsenz- oder Zivildienst leisten müssten, als auch männliche Versicherte, die keinen Präsenz- oder Zivildienst leisten müssen, 254würden gegenüber Versicherten in der Situation des Klägers unsachlich bevorzugt.

4.2 […] Sachlich begründbare – also nicht sachfremde – Differenzierungen vorzunehmen, ist dem Gesetzgeber durch das Gleichheitsgebot nicht verwehrt (VfSlg 13.026/1992 mwN uva; RS0054018 [T2]). Dem Gesetzgeber steht verfassungsrechtlich ein Gestaltungsspielraum insoweit zu, als er in seinen rechtspolitischen und wirtschaftspolitischen Zielsetzungen frei ist. Gerade im Sozialversicherungsrecht ist eine durchschnittliche Betrachtungsweise erforderlich, die auf den Regelfall abstellt und damit Härten in Einzelfällen nicht ausschließen kann (RS0053889 [T2]).

4.3 Ermöglicht der Gesetzgeber einer Gruppe (jüngerer) Versicherter, die ein besonders langes Erwerbsleben hinter sich gebracht und entsprechend viel an Sozialversicherungsbeiträgen gezahlt haben […] unter bestimmten Voraussetzungen die Inanspruchnahme einer abschlagsfreien vorzeitigen Alterspension, so hält er sich im Rahmen der ihm zukommenden rechtspolitischen Gestaltungsfreiheit, wenn er lediglich Kindererziehungszeiten als Ersatzzeiten den Beitragsmonaten in diesem Zusammenhang gleichstellt. Kindererziehungszeiten werden in der Regel (noch immer) von weiblichen Versicherten erworben, die aber schon wegen des erst ab 2024 steigenden Pensionsalters regelmäßig erst ab diesem Zeitpunkt die begünstigende Regelung des § 120 […] Abs 7 GSVG (45 Jahre einer Erwerbstätigkeit!) in Anspruch nehmen könnten, wäre sie noch in Kraft. § 120 […] Abs 7 GSVG kommt daher vor allem Männern zugute […]. Dass wiederum Männer, die keinen Präsenz- oder Zivildienst leisten mussten, allenfalls früher als ein Versicherter in der Situation des Klägers in den Genuss einer abschlagsfreien vorzeitigen Alterspension bei langer Versicherungsdauer gelangen können, ist lediglich dadurch bedingt, dass sie zu einem entsprechend früheren Zeitpunkt 540 Beitragsmonate erworben haben. Nicht jede subjektiv als ungerecht empfundene einfachgesetzliche Regelung verletzt den Gleichheitsgrundsatz (10 ObS 148/03t SSV-NF 17/68).

5. Ergebnis:

Bei der Beurteilung, ob ein Versicherter die vorzeitige Alterspension bei langer Versicherungsdauer zum Stichtag 1. Juli 2020 ohne Abschläge […] in Anspruch nehmen kann, sind Ersatzzeiten für Präsenzdienstleistung im Jahr 1978 nicht den Beitragszeiten aufgrund einer Erwerbstätigkeit gleichgestellt.“

ERLÄUTERUNG

Die (neuerliche) Abschlagsfreiheit bei Vorliegen von 45 Erwerbsjahren (540 Monaten der Pflichtversicherung auf Grund einer Erwerbstätigkeit) wurde mit einem Abänderungsantrag im NR beschlossen und ist am 1.1.2020 in Kraft getreten – dem hier verfahrensgegenständlichen § 120 Abs 7 GSVG entspricht § 236 Abs 4b ASVG. Die Regelung ist mit Ende des Jahres 2021 auch schon wieder außer Kraft getreten; auf Grund einer Übergangsbestimmung können Versicherte, die die Anspruchsvoraussetzungen bis 31.12.2021 erfüllt haben, auch später abschlagsfrei in Pension gehen (§§ 383 Abs 4 GSVG, 745 Abs 4 ASVG). Berücksichtigt für die Abschlagfreiheit wurden bis zu 60 Versicherungsmonate der Kindererziehung, nicht aber die vom Kl begehrten Präsenzdienstzeiten.

Die positive Entscheidung des Erstgerichts, das eine unsachliche Ungleichbehandlung sah, überrascht eher. Ebenso überraschend ist, dass offenbar in der Revision nicht angeregt wurde, einen Antrag beim VfGH zu stellen.

Zum Zeitpunkt der OGH-E am 22.2.2021 hatte allerdings bereits der VfGH gem Art 140 Abs 1b B-VG in mehreren gleichlautenden Entscheidungen die Behandlung von Parteianträgen zu genau dieser Frage mit dem Hinweis auf den weiten rechtspolitischen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers abgelehnt, weil sie keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hatten (zu § 120 Abs 7 GSVG VfGH 30.11.2021, G 369/2020; zu § 236 Abs 4b ASVG ua VfGH 30.11.2021, G 200/2021).

Der OGH hatte somit die Frage der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der Nicht-Berücksichtigung von Präsenzdienstzeiten selbst zu beurteilen.

Der OGH hält fest, dass Ersatzzeiten bestimmte Zeiten sind, die, weil der Versicherte aus verschiedenen vom Gesetzgeber anerkannten Gründen nicht in der Lage war, Beiträge zu entrichten, auch ohne Beitragsentrichtung, leistungswirksam berücksichtigt werden. Der klare Wortlaut des § 120 Abs 7 GSVG umfasse die Präsenzdienstzeiten nicht, es liege aber auch keine Lücke vor, die durch Analogie zu schließen wäre. Gerade die Berücksichtigung der Zeiten der Kindererziehung zeige, dass dem Gesetzgeber das Problem der Berücksichtigung von Ersatzzeiten bewusst war. § 298 Abs 12 Satz 1 GSVG, der die Anspruchsvoraussetzungen für die vorzeitige Alterspension regle, nennt die Präsenzdienstzeiten ausdrücklich. Es könne also nicht davon ausgegangen werden, dass der Gesetzgeber dies in § 120 Abs 7 GSVG „übersehen“ hätte. Weiters betont auch der OGH den weiten Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers. Kindererziehungszeiten werden vor allem von weiblichen Versicherten erworben, sie könnten aber erst ab 2024 – dem Beginn der Angleichung des Pensionsalters – eine abschlagsfreie vorzeitige Alterspension in Anspruch nehmen. Die Bestimmung kommt daher vor allem Männern zugute. Dass Männer, die keinen Präsenzdienst leisten mussten, vergleichsweise früher in den Genuss der Abschlagsfreiheit kommen, bewirkt ebenfalls keine Verfassungswidrigkeit der Bestimmung. 255