125Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld auch bei Entfall von Familienbeihilfe und Kinderabsetzbetrag als Ausgleichszahlung wegen höherer ausländischer Beihilfenleistung
Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld auch bei Entfall von Familienbeihilfe und Kinderabsetzbetrag als Ausgleichszahlung wegen höherer ausländischer Beihilfenleistung
In Fällen, in denen die ausländische Beihilfeleistung die österreichische Familienbeihilfe zuzüglich des Kinderabsetzbetrags übersteigt, sodass weder ein Differenzbetrag auf die Familienbeihilfe noch der Kinderabsetzbetrag tatsächlich ausgezahlt werden, wäre es unionsrechtswidrig, wenn der Anspruch auf österreichisches Kinderbetreuungsgeld (als Ausgleichszahlung) an der Voraussetzung der tatsächlichen Auszahlung der Familienbeihilfe scheitern würde, obwohl die Summe der ausländischen Familienleistungen die Summe der österreichischen Leistungen nicht erreicht.
Die Kl und ihre am 6.9.2018 geborene Tochter sind österreichische Staatsbürger. Die Kl war bis 31.12.2019 in der Schweiz berufstätig. Seit 8.1.2020 wohnt sie mit der Tochter in einem gemeinsamen Haushalt in Vorarlberg. Der Vater lebt von der Kl und der Tochter getrennt in der Schweiz. Er ist in der Schweiz unselbständig erwerbstätig und bezieht die Schweizer Kinderzulage.
Der Antrag der Kl auf Gewährung der Familienbeihilfe wurde von der zuständigen Behörde ab257gewiesen. Der Anspruch auf eine Ausgleichszahlung zur Familienbeihilfe besteht zwar, da aber die Kinderzulage in der Schweiz höher ist als die Familienbeihilfe in Österreich, betrage die Ausgleichszahlung null Euro. Entgegen der früheren Verwaltungspraxis wurde von den Finanzämtern in Österreich seit Jänner 2020 die Auszahlung des Kinderabsetzbetrags (§ 33 Abs 3 EStG) in jenen Fällen, in denen die im Ausland bezogene Familienleistung über jener in Österreich lag, eingestellt. Der Kl wurden im Zeitraum daher weder eine Ausgleichszahlung zur österreichischen Familienbeihilfe noch der österreichische Kinderabsetzbetrag ausgezahlt.
Mit dem angefochtenen Bescheid wies die bekl Österreichische Gesundheitskasse den Antrag der Kl auf Zuerkennung von pauschalem Kinderbetreuungsgeld mit der Begründung ab, dass nicht die Kl, sondern der Vater des Kindes die Schweizer Kinderzulage bezog.
Die Vorinstanzen gaben dem Klagebegehren der Kl statt. Das Berufungsgericht führte aus, dass Österreich auch dann zur Leistung von Kinderbetreuungsgeld – bei nachrangiger Zuständigkeit als Ausgleichszahlung – verpflichtet sei, wenn nur deshalb kein Anspruch auf österreichische Familienbeihilfe bestehe, weil für das Kind eine der österreichischen Transferzahlung vergleichbare ausländische Beihilfeleistung bezogen werde. Dies sei hier der Fall.
Eine Revision wurde zugelassen, weil keine höchstgerichtliche Rsp zur Frage vorliege, ob ein Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld bestehe, wenn die Summe der nach der VO (EG) 883/2004 zu koordinierenden ausländischen Familienleistungen die Summe der zu koordinierenden österreichischen Familienleistungen nicht erreiche und weil im vorliegenden Fall – anders als in dem der OGH-E vom 30.3.2021, 10 ObS 43/21b, zugrunde liegenden Sachverhalt – auch kein Kinderabsetzbetrag ausgezahlt worden sei.
Die Revision der Bekl war nicht berechtigt.
„1.1. Nach § 2 Abs 1 Z 1 KBGG hat ein Elternteil Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld, sofern für dieses Kind Anspruch auf Familienbeihilfe nach dem Familienlastenausgleichsgesetz 1967 (FLAG) besteht und Familienbeihilfe für dieses Kind tatsächlich bezogen wird.
1.2. Bei getrennt lebenden Eltern muss der antragstellende Elternteil, der mit dem Kind im gemeinsamen Haushalt lebt, die Anspruchsvoraussetzungen nach § 2 Abs 1 Z 1 KBGG in eigener Person erfüllen (§ 2 Abs 8 KBGG).
2. Nach § 4 Abs 1 FLAG haben Personen, die Anspruch auf eine gleichartige ausländische Beihilfe haben, keinen Anspruch auf Familienbeihilfe. Diese Personen erhalten jedoch – sofern sie österreichische Staatsbürger sind – eine Ausgleichszahlung zur Familienbeihilfe, wenn die Höhe der gleichartigen ausländischen Beihilfe, auf die sie oder eine andere Person Anspruch haben, geringer ist als die Familienbeihilfe, die ihnen nach dem FLAG ansonsten zu gewähren wäre (§ 4 Abs 2 FLAG). Die Ausgleichszahlung wird in Höhe des Unterschiedsbetrags der gleichartigen ausländischen Beihilfe und der Familienbeihilfe geleistet und gilt als Familienbeihilfe iSd FLAG (§ 4 Abs 3 und 6 FLAG).
3.1. Nach § 33 Abs 3 Satz 1 EStG steht Steuerpflichtigen, denen aufgrund des FLAG 1976 Familienbeihilfe gewährt wird, im Weg der gemeinsamen Auszahlung mit der Familienbeihilfe ein Kinderabsetzbetrag von monatlich 58,40 EUR für jedes Kind zu.
3.2. Wie in der Entscheidung 10 ObS 115/20i (DRdA-infas 2021, 134 [Neundlinger]) ausführlich begründet wurde, qualifiziert der Gesetzgeber den an die Familienbeihilfe gebundenen und mit ihr ausgezahlten Kinderabsetzbetrag als eine der Familienbeihilfe funktionsgleiche Transferleistung. […]
4.1. Die Beurteilung einer Fallgestaltung, in der der Kinderabsetzbetrag nicht bezogen wurde, musste vom Obersten Gerichtshof bisher nicht entschieden werden (vgl 10 ObS 43/21b). […]
4.2.2. Den ersatzlosen Entfall der auf gleichartige ausländische Familienleistungen bezugnehmenden Regelung in § 2 Abs 1 Z 1 KBGG mit der Novelle BGBl I 2007/76 erklärte der Gesetzgeber damit, dass nach der in grenzüberschreitenden Sachverhalten anzuwendenden Verordnung (EWG) 1408/71 sowohl Familienbeihilfe als auch Kinderbetreuungsgeld Familienleistungen seien. Bei einer aufgrund der Verordnung nachrangigen Zuständigkeit Österreichs sei die Voraussetzung für einen Anspruch auf eine Ausgleichszahlung auch dann erfüllt, wenn im vorrangig zuständigen Staat Anspruch auf eine gleichartige ausländische Familienbeihilfe bestehe (dem Grunde nach also Anspruch auf österreichische Familienbeihilfe als Ausgleichszahlung im Sinn der VO bestehe) und diese tatsächlich bezogen werde (ErläutRV 229 BlgNR 23. GP 4).
Daraus ergibt sich die Absicht des Gesetzgebers, dass Österreich auch dann zur Leistung von Kinderbetreuungsgeld (bei nachrangiger Zuständigkeit als Ausgleichszahlung in Höhe des Differenzbetrags zwischen österreichischem Kinderbetreuungsgeld und ausländischer gleichartiger Familienleistung) verpflichtet sein soll, wenn nur deshalb kein Anspruch auf österreichische Familienbeihilfe besteht, weil für das Kind eine der österreichischen Transferzahlung vergleichbare ausländische Beihilfeleistung bezogen wird (10 ObS 115/20i).
[…]
4.3.1. Der Senat hat in der Entscheidung 10 ObS 115/20i auch bereits ausgesprochen, dass ein unions258rechtswidriges Ergebnis vorläge, wenn in Fällen, in denen die ausländische Beihilfeleistung die österreichische Familienbeihilfe (im dortigen Fall: ohne Berücksichtigung des Kinderabsetzbetrags) übersteigt, sodass ein Differenzbetrag auf die Familienbeihilfe in Österreich gemäß § 4 Abs 2 und 3 FLAG nicht tatsächlich ausgezahlt wird, der Anspruch auf österreichisches Kinderbetreuungsgeld (als Ausgleichszahlung) an der Voraussetzung der tatsächlichen Auszahlung der Familienbeihilfe scheitern würde, obwohl die Summe der nach der VO (EG) 883/2004 zu koordinierenden ausländischen Familienleistungen jene der österreichischen Leistungen nicht erreicht. Dem Gesetzgeber könne nicht unterstellt werden, ein derartiges unionsrechtswidriges Ergebnis zu verfolgen.
4.3.2. Der Kinderabsetzbetrag gemäß § 33 Abs 3 EStG ist eine der Familienbeihilfe funktionsgleiche Transferleistung (10 ObS 115/20i). Daher ändert es nichts an den dargestellten Erwägungen, wenn die österreichischen Finanzämter seit Jänner 2020 die Schweizer Kinderzulage als eine nicht nur der österreichischen Familienbeihilfe, sondern auch dem Kinderabsetzbetrag gemäß § 33 Abs 3 EStG gleichartige Leistung (vgl RS0122907) beurteilen und auch in diesem Verhältnis die Antikumulierungsvorschrift des Art 68 Abs 2 VO (EG) 883/2004 anwenden oder bei Bestehen eines Anspruchs auf Ausgleichszahlung zur Familienbeihilfe in Höhe von (nur) Null schlechthin die Auszahlung des Kinderabsetzbetrags ablehnen.
Auch in Fällen, in denen die ausländische Beihilfeleistung die österreichische Familienbeihilfe zuzüglich des Kinderabsetzbetrags übersteigt, sodass weder ein Differenzbetrag auf die Familienbeihilfe gemäß § 4 Abs 2 und 3 FLAG noch der Kinderabsetzbetrag nach § 33 Abs 3 EStG tatsächlich ausgezahlt werden, wäre es daher unionsrechtswidrig, wenn der Anspruch auf österreichisches Kinderbetreuungsgeld (als Ausgleichszahlung) an der Voraussetzung der tatsächlichen Auszahlung der Familienbeihilfe scheitern würde, obwohl die Summe der nach der VO (EG) 883/2004 zu koordinierenden ausländischen Familienleistungen (hier: Schweizer Kinderzulage) jene der österreichischen Leistungen (hier: Familienbeihilfe, Kinderabsetzbetrag und Kinderbetreuungsgeld) nicht erreicht.
Die Anspruchsvoraussetzung des tatsächlichen Bezugs von Familienbeihilfe gemäß § 2 Abs 1 Z 1 KBGG ist daher im vorliegenden Fall erfüllt. […]
5.1. Die Beklagte steht auf dem Standpunkt, im vorliegenden Fall sei die Voraussetzung des § 2 Abs 8 iVm § 2 Abs 1 Z 1 KBGG […] nicht erfüllt, weil die Schweizer Kinderzulage dem Vater des Kindes ausgezahlt wurde und eine tatsächliche Auszahlung des Kinderabsetzbetrags an die Klägerin aufgrund der Höhe der Schweizer Kinderzulage nicht stattfand.
5.2. Dies trifft nicht zu. Bereits die Entscheidungen 10 ObS 115/21iund 10 ObS 43/21b betrafen getrennt lebende Elternpaare, bei denen jeweils die Väter eine der österreichischen Kinderbeihilfe vergleichbare ausländische Familienleistung […] bezogen und der (zu Recht bestehende) Anspruch der Mütter auf Ausgleichszahlung zur österreichischen Familienbeihilfe aufgrund der Höhe der ausländischen Familienleistungen mit Null zu bemessen war.
5.3. Von dieser Fallgestaltung unterscheidet sich der vorliegende Fall nur dadurch, dass die Finanzämter ihre Verwaltungspraxis seit Jänner 2020 dahin umstellten, dass sie in den Fällen, in denen die im Ausland bezogene Familienleistung über der (vergleichbaren) österreichischen Leistung liegt, den Kinderabsetzbetrag (§ 33 Abs 3 EStG) nicht mehr auszahlen. Ungeachtet dieser Änderung der Verwaltungspraxis ist im vorliegenden Fall – wie bereits ausgeführt – die Voraussetzung des tatsächlichen Bezugs der Familienbeihilfe iSd § 2 Abs 1 Z 1 KBGG erfüllt.
5.4. Der Bescheid des zuständigen Finanzamts […] war an die Klägerin gerichtet und sprach über den von ihr gestellten Antrag ab. Es besteht daher kein Zweifel, dass ein solcher mit Null bemessener Anspruch auf Ausgleichszahlung nicht nur als tatsächlicher Bezug von Familienbeihilfe iSd § 2 Abs 1 Z 1 KBGG, sondern auch als tatsächlicher Bezug von Familienbeihilfe durch die Klägerin in eigener Person iSd § 2 Abs 8 KBGG zu qualifizieren ist.“
Die Bekl vertrat den Standpunkt, dass im vorliegenden Fall die Voraussetzung des § 2 Abs 8 iVm § 2 Abs 1 Z 1 KBGG – der Anspruch auf und der tatsächliche Bezug von Kinderbeihilfe durch den das Kinderbetreuungsgeld begehrenden Elternteil in eigener Person – nicht erfüllt sei, weil die Schweizer Kinderzulage dem Vater des Kindes ausgezahlt wurde und eine tatsächliche Auszahlung des Kinderabsetzbetrags an die Kl aufgrund der Höhe der Schweizer Kinderzulage nicht stattfand.
Unstrittig war, dass die Schweizer Kinderzulage und die österreichische Familienbeihilfe gleichartige, nach der VO (EG) 883/2004 zu koordinierende Familienleistungen sind und die Schweizer Kinderzulage die österreichische Familienbeihilfe übersteigt.
In der OGH-Judikatur wurde bereits ausgeführt, dass die Anspruchsvoraussetzung des tatsächlichen Bezugs von Familienbeihilfe in § 2 Abs 1 Z 1 KBGG auch dann erfüllt ist, wenn sich aufgrund einer höheren ausländischen Familienbeihilfeleistung die Ausgleichszahlung auf die österreichische Familienbeihilfe nach der Differenzrechnung des § 4 Abs 2 und 3 FLAG mit Null bemisst und tatsächlich nur der österreichische Kinderabsetzbetrag (§ 33 Abs 3 EStG) als mit der Familienbeihilfe funktionsgleicher Teil der Ausgleichszahlung ausgezahlt wird (OGH 13.10.2020, 10 ObS 115/20i; OGH 30.3.2021, 10 ObS 43/21b; 259 RS0133357). Bereits diese Entscheidungen betrafen getrennt lebende Elternpaare, bei denen jeweils die Väter eine der österreichischen Kinderbeihilfe vergleichbare ausländische Familienleistung (zu OGH10 ObS 43/21b wie im vorliegenden Fall die Schweizer Kinderzulage, zu OGH10 ObS 115/20i die liechtensteinische Kinderzulage) bezogen und der zu Recht bestehende Anspruch der Mütter auf Ausgleichszahlung zur österreichischen Familienbeihilfe aufgrund der Höhe der ausländischen Familienleistungen mit Null zu bemessen war. Eine Fallgestaltung, in der der Kinderabsetzbetrag nicht bezogen wurde, ergab sich nun mit dem vorliegenden Fall. Die für die Beurteilung maßgeblichen Erwägungen wurden jedoch bereits in der OGH-E 10 ObS 115/20i dargelegt.
Der OGH entschied, dass auch in Fällen, in denen die ausländische Beihilfeleistung die österreichische Familienbeihilfe zuzüglich des Kinderabsetzbetrags übersteigt, sodass weder ein Differenzbetrag auf die Familienbeihilfe gem § 4 Abs 2 und 3 FLAG noch der Kinderabsetzbetrag nach § 33 Abs 3 EStG tatsächlich ausgezahlt werden, unionsrechtswidrig wäre, wenn der Anspruch auf österreichisches Kinderbetreuungsgeld (als Ausgleichszahlung) an der Voraussetzung der tatsächlichen Auszahlung der Familienbeihilfe scheitern würde, obwohl die Summe der nach der VO (EG) 883/2004 zu koordinierenden ausländischen Familienleistungen (hier: Schweizer Kinderzulage) jene der österreichischen Leistungen (hier: Familienbeihilfe, Kinderabsetzbetrag und Kinderbetreuungsgeld) nicht erreicht.
Bereits die Vorinstanzen beurteilten den Anspruch der Kl auf pauschales Kinderbetreuungsgeld daher zutreffend als berechtigt.