Beweisproblematiken bei der Anerkennung einer Berufskrankheit anhand eines Falls einer Jahrzehnte zurückliegenden Asbest-Exposition

ALEXANDERPASZ

Eine Anerkennung als Berufskrankheit löst in der UV weitreichende Folgen für die Versicherten aus. Sie bewirkt einerseits eine, im Vergleich zur KV, bessere Heilbehandlung und kann andererseits eine finanzielle Abgeltung in Form einer Versehrtenrente zur Folge haben. Die Anerkennung kann jedoch grundsätzlich nur dann erfolgen, wenn die Erkrankung auf eine berufliche Tätigkeit zurückzuführen ist. Dies kann bei Krankheiten problematisch sein, die erst Jahrzehnte nach dem Kontakt ausbrechen, wie ein Fall aus der Praxis zeigt.

1..
Was ist eine Berufskrankheit im Sozialversicherungsrecht?

Im Zentrum der UV stehen gem § 174 ASVG die Versicherungsfälle des Arbeitsunfalls und der Be265rufskrankheit.* Bei beiden muss zum Eintritt des Versicherungsfalls ein Körperschaden bzw eine Erkrankung iS eines regelwidrigen Geistes- oder Körperzustandes entstanden sein.*

Bei einer Berufskrankheit handelt es sich – im Gegensatz zum Arbeitsunfall, der ein plötzliches, abgegrenztes Ereignis darstellt – um länger andauernde, berufsbedingte Schädigungen des Versicherten aufgrund von Einwirkungen gesundheitsschädlicher Stoffe oder physikalischer Einflüsse.*

Berufskrankheiten werden im Sozialversicherungsrecht im § 177 des ASVG geregelt. Diese Bestimmung verweist zur Frage des Schutzbereichs auf die Anlage 1 des ASVG, demnach die dort bezeichneten Krankheiten unter den dort angeführten Bedingungen als Berufskrankheiten gelten, wenn sie durch Ausübung der die Versicherung begründenden Beschäftigung in einem in Spalte 3 der Anlage bezeichneten Unternehmen verursacht worden sind. Bei dieser sogenannten Berufskrankheiten-Liste (BK-L) handelt es sich um eine taxative Aufzählung – es gilt das Enumerationsprinzip.*

Berufskrankheiten können in drei Arten von Erkrankungen unterschieden werden.* Einerseits werden in der Anlage 1 Krankheiten angeführt, die auf eine Beschäftigung ohne Einschränkung auf bestimmte Betriebe zurückzuführen ist. Dazu gehören bspw Erkrankungen durch Blei* oder – wie später in einem Fall eingegangen wird – bösartige Neubildungen des Rippenfells durch Asbest.* Weitere Unterscheidungen der Berufskrankheiten der BK-L können vorgenommen werden in Krankheiten, die medizinische oder rechtliche Voraussetzungen erfüllen müssen, wie zB Meniskusschäden bei Bergleuten nach mindestens dreijähriger regelmäßiger Tätigkeit unter Tag und bei anderen Personen nach mindestens dreijähriger regelmäßiger Tätigkeit in kniender oder hockender Stellung.* Als letzte Gruppe von Berufskrankheiten sind solche anzuführen, die durch Tätigkeit in einem in der Liste angeführten Unternehmen verursacht wurden – prominentestes Beispiel sind hierbei die Infektionskrankheiten, wie bspw die Erkrankung an COVID-19, die nur bei einer Erkrankung in einem sogenannten Registerbetrieb zur Anerkennung führen kann.*

Die Berufskrankheitenliste umfasste ursprünglich mit Einführung des ASVG im Jahre 1955 39 Erkrankungen, die in den letzten Jahrzehnten regelmäßig durch den Gesetzgeber erweitert wurde und derzeit 53 Positionen – zuletzt erweitert bzw angepasst im Jahre 2012 – anführt.*

Bei begründetem Verdacht des Vorliegens einer Berufskrankheit sind ua Ärzte gem § 363 Abs 2 ASVG verpflichtet, eine Meldung an den zuständigen Unfallversicherungsträger zu erstatten.

2..
Vorteile der Anerkennung von Berufskrankheiten

Die Anerkennung einer Berufskrankheit kann zu umfassenden Vorteilen für die Versicherten führen. Zum einen ergibt sich durch die Bestimmung des § 189 ASVG ein besserer Sachleistungsanspruch, da die Heilbehandlung mit allen geeigneten Mitteln zu erfolgen hat, um den vor dem Eintritt des Versicherungsfalls gegebenen Gesundheitszustand der Versicherten wiederherzustellen. In der UV ist die höchstmögliche Versorgungsqualität der anzuwendende Maßstab – dies insb bei individuell anzupassenden Hilfsmitteln.* Im Gegensatz dazu ist der Sachleistungsanspruch in der KV gem § 133 Abs 2 ASVG mit dem Maß des Notwendigen beschränkt (Wirtschaftlichkeitsgebot).

Neben einem Sachleistungsanspruch können bei schwerwiegenderen Gesundheitsschädigungen auch Geldleistungen dem Versicherten zugesprochen werden. Die bedeutendste Geldleistung ist hierbei die Versehrtenrente. Sie hat den Zweck, den Versehrten für die Minderung der Erwerbsfähigkeit zu entschädigen, die trotz der vorgenommenen Unfallbehandlung und einer Rehabilitation verblieben ist.* Die Versehrtenrente kann als Dauerrente ein Leben lang ausbezahlt werden. Weitere Geldleistungen in der UV sind bspw die Integritätsabgeltung oder Hinterbliebenenrenten.*

3..
Beweisproblematik bei Verdacht einer Berufskrankheit
3.1..
Beweisführung im sozialgerichtlichen Verfahren

Im sozialgerichtlichen Verfahren sind – abgesehen von vereinzelten Sonderregelungen im Arbeits- und Sozialgerichtsgesetz (ASGG) – die für die Gerichtsbarkeit in bürgerlichen Rechtssachen 266geltenden Vorschriften (bspw die Zivilprozessordnung oder die Jurisdiktionsnorm) anzuwenden.* Dies gilt insb auch für das Beweisverfahren – es gilt die objektive Beweislast.* Trotz der in § 87 Abs 1 ASGG normierten Amtswegigkeit trägt auch in Sozialrechtssachen der Versicherte gemäß der sogenannten Rosenbergschen Formel die Beweislast für das Vorliegen aller tatsächlichen Voraussetzungen der ihr günstigen Rechtsnorm.

Die Beweislast für das Vorliegen einer unfallversicherten Berufskrankheit trifft somit den Versicherten, es erfolgt keine Beweislastumkehr.*

3.2..
Kausalität bei Berufskrankheiten

Es ist zunächst zu prüfen, ob die Erkrankung des Versicherten im Schutzbereich der Bestimmungen über die Berufskrankheiten liegt. Der Schutzbereich ergibt sich aus der BK-L und definiert sich als jene Ursachen iSv krankheitsauslösenden Ereignissen, die der Gesetzgeber zur Anerkennung in der BK-L vertypt hat. Es muss gemäß der sogenannten Einwirkungskausalität eine bestimmte Art von Einwirkungen schädigender Einflüsse bei Verrichtung der versicherten Tätigkeit bestehen.* Die Bezeichnung einer bestimmten Krankheit als Berufskrankheit bedeutet nur, dass sie rechtlich generell geeignet ist, eine Berufskrankheit zu sein, stellt jedoch noch keine Kausalitätsvermutung auf.*

In einem weiteren Schritt ist die medizinische Kausalität zu prüfen. Hierbei wird untersucht, ob die beruflich bedingte Exposition in einem solchen Ausmaß stattgefunden hat (Wesentlichkeit), dass sie zu Erkrankungen des Versicherten geführt hat (haftungsbegründende Kausalität). In Anlehnung an die schadenersatzrechtliche Adäquanztheorie im Zivilrecht werden nach stRsp des OGH weitergehende Anforderungen an den ursächlichen Zusammenhang gestellt als eine wesentliche Mitwirkung gefordert wird. Nicht jede Bedingung, die nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele, ist ursächlich, sondern nur diejenige, die im Verhältnis zu anderen nach der Auffassung des praktischen Lebens wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg an dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt hat (Theorie der „wesentlichen Bedingung“).* Dieser Schritt wird in sozialgerichtlichen Verfahren mittels medizinischer Sachverständigengutachten geprüft und stellt daher auch eine Tatfrage und keine Rechtsfrage dar.* Juristisch definiert wird hierbei nur der Maßstab der Wesentlichkeit.* Die medizinische Kausalität beruht auf medizinischen Erfahrungssätzen. Probleme ergeben sich – insb im Bereich des Versicherungsfalls des Arbeitsunfalls – in diesem Prüfungsschritt regelmäßig im Falle des Vorhandenseins von Vorschäden iSv Abnützungserscheinungen bzw Krankheitsanlagen, die beim Versicherten vor dem Unfallereignis oder der Einwirkung vorhanden waren. Ein Körperschaden ist der UV bspw nicht zuzurechnen, wenn dieser aufgrund der Anlage auch durch eine alltäglich vorkommende Belastung in etwa zur selben Zeit eingetreten wäre.*

Abschließend ist auch ein Kausalzusammenhang zwischen der Erkrankung des Versicherten und der Minderung der Erwerbsfähigkeit, insb für die Frage, in welchem Ausmaß eine Geldleistung gebührt, zu untersuchen.

3.3..
Beweiserleichterung im sozialgerichtlichen Verfahren

Die größte Schwierigkeit liegt im Beweisen der Kausalität zwischen der beruflichen Tätigkeit und der Erkrankung – der Beweis der Erkrankung führt in der Praxis zu keinen Problemen.

Der Versicherte ist in der Pflicht zu beweisen, dass das Leiden mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ursächlich auf die betrieblichen Einwirkungen zurückzuführen ist. Aufgrund der häufig auftretenden Beweisschwierigkeiten – insb bei länger zurückliegenden Ursachen – kam es durch die Rsp zur Entwicklung des sogenannten modifizierten Anscheinsbeweises.* Diese Entwicklung ergab sich insb durch den in Sozialrechtssachen zugrundeliegenden Grundsatz der sozialen Rechtsanwendung. Der modifizierte Anscheinsbeweis hat – wie schon der Anscheinsbeweis per se – keine gesetzliche Grundlage, es handelt sich hierbei um richterliche Rechtsfortbildung.*

Der Anscheinsbeweis definiert sich dahingehend, dass bestimmte Geschehensabläufe typisch sind und es daher wahrscheinlich ist, dass auch im konkreten Fall ein derartiger gewöhnlicher Ablauf und nicht ein atypischer gegeben ist.* Steht ein typischer Geschehensablauf fest, der nach der Lebenserfahrung auf einen bestimmten Kausalzusammenhang hinweist, gelten diese Tatbestandsvoraussetzungen auch im Einzelfall auf Grund ersten Anscheins (prima facie) als erwiesen. Die Entkräftung des Anscheinsbeweises geschieht durch den Beweis, dass der typische formelhafte Geschehensablauf im konkreten Fall nicht zwingend ist, sondern, dass die 267ernste Möglichkeit eines anderen Geschehensablaufes besteht.* Der in Sozialrechtssachen – jedoch nur für den Versicherten – vorherrschende modifizierte Anscheinsbeweis führt jedoch dazu, dass der Versicherungsträger nicht nur den Beweis der ernsten Möglichkeit eines anderen Geschehensablaufs, sondern die konkrete, zumindest gleich hohe Wahrscheinlichkeit zur Entkräftung benötigt.*

4..
Fall aus der Praxis

Ein jüngst durch die Kammer für Arbeiter und Angestellte für Wien (AK Wien) vor Gericht vertretener Fall betraf einen ehemaligen AN (in weiterer Folge Kl genannt), der zwischen den 1960er- und 1990er-Jahren bei einem öffentlich-rechtlichen DG mit dem Verlegen von Telefonleitungen beschäftigt war.* Zur Tätigkeit gehörten ua Vorarbeiten, wie Kanalverlegungen als Baumaßnahmen durchzuführen, damit die Telefonleitungen verlegt werden konnten. Die Schächte, in denen die Kabel verlegt wurden, waren regelmäßig aus Brandschutzgründen mit Asbest ausgelegt.

Asbest ist eine natürlich vorkommende mineralische Faser verschiedener Silikate, die sich durch günstige bautechnische Eigenschaften auszeichnet. Sie ist nicht entflammbar und weitgehend beständig gegen Hitze, Korrosion, Chemikalien und Verrottung. Aufgrund dieser Eigenschaften und des niedrigen Preises wurde Asbest über Jahrzehnte hinweg im Bausektor als Brandschutz und Isoliermaterial eingesetzt. Die onkogene Potenz von Asbest war zwar schon seit längerem wissenschaftlich erwiesen – erst 1990 kam es jedoch zu einem Verbot der Verwendung von Asbest in Österreich.*

Der Kl erkrankte aufgrund der Asbest-Exposition im Jahr 2020 – zumindest über drei Jahrzehnte nach seiner beruflichen Tätigkeit – an einem Pleuramesotheliom, einem bösartigen Tumor des Rippenfells. Nach medizinischer Behandlung in einem Krankenhaus erging eine Berufskrankheitenmeldung an den zuständigen Unfallversicherungsträger. Dieser lehnte eine Anerkennung als Berufskrankheit aus Beweisgründen ab. Einerseits konnte der ehemalige DG eine Asbest-Exposition nicht bestätigen, sodass kein überwiegender Zusammenhang der Erkrankung mit der seinerzeitigen beruflichen Tätigkeit hergestellt werden konnte. Darüber hinaus war für den Versicherungsträger auch die medizinische Kausalität mit der Begründung nicht gegeben, dass ein allfällig gelegentlicher Kontakt mit asbesthaltigen Materialien nicht ausreichen würde, um eine Erkrankung einige Jahrzehnte nach dem Kontakt zu begründen.

Im darauffolgenden Gerichtsverfahren gelang jedoch der Beweis für das Vorliegen eines Kausalzusammenhangs zwischen der Tätigkeit des Kl und seiner Erkrankung. Einerseits konnte der Kl glaubwürdig seine damalige Tätigkeit erläutern, sodass das Gericht einen regelmäßigen Kontakt mit Asbest erfolgreich feststellen konnte. Ein zusätzlicher Zeuge konnte die Aussagen des Kl bestätigen. Das pulmologische Gutachten konnte in einem letzten Schritt die oben angeführten Kausalitätsanforderungen – insb hinsichtlich der medizinischen Kausalität – erfüllen, indem der medizinische Gutachter die Wesentlichkeit der Asbest-Exposition, die in weiterer Folge zur Entwicklung eines Pleuramesotheliom führte, darlegte. Hilfreich war in dem Verfahren auch, dass der Gutachter als Arbeitsmediziner für den ehemaligen DG gearbeitet hatte, sodass seine Aussagen auch für die Feststellungen des Ausmaßes der beruflichen Expositionen zweckdienlich waren.

Schlussendlich gelang dem Kl der Beweis eines sehr hohen Wahrscheinlichkeitsgrades für das Vorliegen eines Kausalzusammenhanges zwischen seiner Tätigkeit und der Erkrankung. Im Gegenzug konnte der Versicherungsträger im Hinblick auf den oben erläuterten modifizierten Anscheinsbeweis nicht beweisen, dass im konkreten Fall mit zumindest gleich hoher Wahrscheinlich die ernste Möglichkeit eines anderen Geschehensablaufs bestanden hat. Es war daher das Vorliegen der Berufskrankheit nach Anlage 1 zum ASVG als Berufskrankheit Nr 27b – bösartige Neubildungen des Rippenfells, des Herzbeutels und des Bauchfells durch Asbest – zu bejahen.

Aufgrund der schwerwiegenden Gesundheitsschädigungen des KL, bestand auch Anspruch auf Versehrtenrente, die dem KL auch rückwirkend auszubezahlen war. Die zugesprochene Versehrtenrente wird der Kl solange beziehen können, solange es zu keiner wesentlichen Änderung iSe Herabsinkens der Minderung der Erwerbsfähigkeit kommt.

5..
Conclusio

Die Anerkennung einer Berufskrankheit kann – wie der angeführte Fall aus der Praxis veranschaulicht – zu umfassenden finanziellen Konsequenzen für den Versicherten führen. Desto wichtiger ist es, dass die meldepflichtigen Stellen ihrer Pflicht der Meldung eines Verdachtes einer Berufskrankheit auch nachkommen. Der Fall veranschaulicht zudem, welche Beweisschwierigkeiten sich naturgemäß ergeben können, wenn eine Berufskrankheit erst Jahrzehnte später eintritt. Der Beweisführung förderlich ist hierbei insb der durch die Rsp entwickelte modifizierte Anscheinsbeweis, der wohl in vielen Fällen den Versicherten erst zu einer Gewährung von Leistungen aus der UV verhilft. 268