Hat das deutsche Arbeitsrecht eine Zukunft?
Hat das deutsche Arbeitsrecht eine Zukunft?
Der rechtliche Status quo
Arbeitsvertragsrecht
Die AGB-Kontrolle
Antidiskriminierungsrecht
Anspruch auf Mindestlohn
Persönlichkeits- und Grundrechtsschutz am Arbeitsplatz
Arbeitsschutzrecht
Tarifvertragsrecht
Arbeitskampfrecht
Betriebsverfassung
Durchsetzungsinstanzen
Die Realität
Abhängige Arbeit ohne (vollen) Schutz
Vollzugsdefizite
Lässt sich Abhilfe schaffen?
Globalisierung als Herausforderung
Wettbewerbsdruck
Streik gegen Verlagerung?
Übergang der Arbeitsverhältnisse auf einen ausländischen Erwerber?
Entwertung der betrieblichen Mitbestimmung?
Verteidigung des Arbeitsrechts in einer globalen Welt
Digitalisierung als Herausforderung
Arbeitsrecht und veränderte Technik
Schafft die Digitalisierung eine neue Qualität?
Neue Konkretisierungsformen arbeitsrechtlicher Normen
Das Problem von Arbeitszeit und Arbeitsort
Datenschutz
Plattformökonomie
Umwelt- und Klimaschutz – ein Thema des Arbeitsrechts?
Die (scheinbare) Distanz
Die Einbeziehung in das BetrVG
Rechtspolitische Perspektiven
Wie könnte ein besseres Arbeitsrecht aussehen?
Die Fragestellung
Die Auswahl der politischen Entscheidungsträger
Rahmenbedingungen für den Gesetzgeber
Auf die eigene Kraft vertrauen ...?
Nachbemerkung
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Wer über die Zukunft reden will, muss sich zunächst ein realistisches Bild von der Gegenwart verschaffen. Diese lässt sich ihrerseits nur verstehen, wenn man sie als Resultat einer längeren historischen Entwicklung begreift.
Das deutsche Arbeitsvertragsrecht ist wie das gesamte Arbeitsrecht anders als zB in Frankreich nicht kodifiziert. Die wichtigsten Bestimmungen finden sich in den §§ 611 ff Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) und in den §§ 105 ff der Gewerbeordnung, doch gibt es zahlreiche Einzelgesetze zu bestimmten Materien wie Urlaub, Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, Mindestlohn und Kündigungsschutz. Die Bestimmung zahlreicher Rechte und Pflichten der AG wie der AN liegt in der Hand der Arbeitsgerichte, die ein engmaschiges Netz von richterrechtlichen Normen geknüpft haben. Es gibt kaum eine im Arbeitsleben auftauchende Frage, für die nicht in irgendeiner Entscheidung auch eine rechtliche Lösung zu finden wäre. Drei Gesetze sowie der durch die Rsp entwickelte Persönlichkeitsschutz haben in den vergangenen zwei Jahrzehnten neue und für die AN durchaus günstige Veränderungen erbracht.
Die Reform des BGB hat mit Wirkung vom 1.1.2002 die Grundsätze über die Kontrolle Allgemeiner Geschäftsbedingungen (AGB) auf das Arbeitsrecht erstreckt.* Sie betreffen nicht nur „Formulararbeitsbedingungen“, sondern auch das Zustandekommen und den Inhalt einzelner Arbeitsverträge: Die Rsp des Bundesarbeitsgerichts (BAG) betrachtet den AN als „Verbraucher“ iSd § 13 BGB,* sodass nach § 310 Abs 3 BGB praktisch alle Verträge der verschärften Kontrolle unterliegen. Lediglich dann, wenn der AN von sich aus eine Klausel in den Arbeitsvertrag eingebracht hat, herrscht volle Vertragsfreiheit bis hin zur Grenze des Verbots sittenwidriger oder gesetzwidriger Abmachungen. Inwieweit auch andere verbraucherrechtliche Normen, wie zB Informationspflichten, auf das Arbeitsverhältnis erstreckt werden, ist bisher nicht definitiv entschieden.*
Die veränderte Gesetzgebung hat zu einer umfangreichen Kasuistik geführt.* So sind beispielsweise Klauseln wegen fehlender Transparenz grundsätzlich unzulässig, die eine Abgeltung aller Überstunden durch einen Pauschbetrag vorsehen.* Wird eine Zusatzleistung des AG mit einem Widerrufsvorbehalt versehen, so muss dieser die Gründe benennen, die einen Widerruf rechtfertigen können.* Wird bei Auflösung des Arbeitsverhältnisses eine Abmachung unterschrieben, wonach beide Seiten auf weitere Ansprüche verzichten, so ist sie unwirksam, wenn der AN keine Kündigungsschutzklage mehr erheben darf, der AG ihm aber keine oder nur eine minimale Abfindung bezahlt.*
Hintergrund dieser Veränderungen ist die Umgestaltung des Zivilrechts in den Jahren der ersten sogenannten rot-grünen Bundesregierung. Das BGB folgt nicht mehr ausschließlich dem Leitbild eines autonomen Individuums, das durch frei ausgehandelte Verträge mit seiner Umwelt kommuniziert. Vielmehr kennt das heutige BGB ein zweites Leitbild in Form des Schutzes abhängiger, unterlegener Individuen. Dieser verwandelte („sozialliberale“) Kodex ist zur Bezugsgröße für ein zeitgemäßes Arbeitsvertragsrecht geworden.*
Das „Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz“ (AGG) vom 14.8.2006* verdankt seine Existenz den Antidiskriminierungsrichtlinien der EG, insb der Antirassismus-RL* und der sogenannten Rahmen-RL.* Die Umsetzung der Richtlinien erfolgte mit deutlicher Verspätung. Erst als der EuGH in zwei Verfahren feststellte, dass Deutschland seine Pflichten verletzt hatte,* schritt der Gesetzgeber zur Tat und erließ das AGG. Dieses bringt eine Reihe neuer Elemente in die deutsche Arbeitsrechtsordnung ein.* Die Diskriminierungsmerkmale werden erweitert; insb die Benachteiligung wegen Alters erlangte in der Folgezeit erhebliche Bedeutung. Wichtiger wurde auch das Verbot mittelbarer Diskriminierung, das speziell die Teilzeitkräfte schützt. Eine grundlegende Umgestaltung erfuhren die möglichen Sanktionen; neben den Ersatz des materiellen Schadens trat der Ersatz des immateriellen Schadens, der insb im Verhältnis zu Bewerbern von Bedeutung ist, die auch bei korrekter Auswahl keine Berücksichtigung gefunden hätten. Die Rsp hat das für sie neue Recht im Allgemeinen loyal umgesetzt. Die in § 2 Abs 4 AGG vom deutschen Gesetzgeber vorgenommene Ausgliederung der Kündigung, was evident unionsrechtswidrig ist, wurde in der Weise gegenstandslos gemacht, dass jede diskriminierende Kündigung gegen das Kündigungsschutzgesetz 67verstößt* und überdies nach § 15 AGG zum Schadensersatz verpflichtet.*
Das Mindestlohngesetz vom 11.8.2014* führte erstmals in Deutschland einen Mindestlohn ein, der zunächst € 8,50 pro Stunde betrug, aufgrund von Empfehlungen einer paritätischen Kommission langsam anstieg und der seit Oktober 2022 € 12,– beträgt. Er ist in vielfältiger Weise gegen vertragliche Einschränkungen abgesichert. Der zunächst erhebliche Widerstand der AG-Seite ist in der Zwischenzeit wenig fühlbar geworden.
Auch am Arbeitsplatz ist der Einzelne als Persönlichkeit zu achten und bleibt Grundrechtsträger. Darin liegt ein wesentlicher Unterschied beispielsweise zum Arbeitsrecht der USA, wo die Persönlichkeitssphäre fast beliebig zur Disposition der Arbeitsvertragsparteien und damit faktisch des AG steht.* Nach der Rsp des BAG trifft den AG die ungeschriebene Nebenpflicht aus dem Arbeitsvertrag, die Persönlichkeit des AN zu respektieren.* Dies läuft aber keineswegs auf einen grenzenlosen Schutz hinaus; vielmehr findet eine Abwägung mit den Grundrechten des AG statt, zu denen insb das aus der Berufsfreiheit des Art 12 Abs 1 Grundgesetz (GG) abgeleitete Recht auf unternehmerische Betätigung gehört. So hat zB der einzelne AN zwar das grundsätzliche Recht, selbst über seine äußere Erscheinung, wie Kleidung, Frisur, Schmuck usw, zu bestimmen, doch findet dies seine Grenze, wenn der AG aus nachvollziehbaren Gründen ein einheitliches Erscheinungsbild gegenüber Kunden oder in der Öffentlichkeit sicherstellen will.*
In gleicher Weise wie die Persönlichkeitssphäre ist auch die Ausübung von Grundrechten am Arbeitsplatz geschützt. Dies gilt für die durch Art 9 Abs 3 GG garantierte gewerkschaftliche Betätigung genauso wie für die Meinungsfreiheit. Das Tragen eines Kopftuchs durch eine Muslima ist Ausdruck der Religionsfreiheit* und kann deshalb nur unter spezifischen Bedingungen verboten werden.* Eine Gebetspause von wenigen Minuten ist unproblematisch, wenn keine betrieblichen Störungen entstehen.* Stellt die Arbeitsunterbrechung eine Störung dar, so hat das unternehmerische Interesse nicht automatisch den Vorrang; vielmehr ist nach einer Lösung zu suchen, die in einer Verschiebung des Gebets wie in einer Verschiebung der Arbeit liegen kann.*
Der dezidierte Schutz des Individuums findet seine Fortsetzung im Datenschutzrecht. Der deutsche Gesetzgeber hat von der Ermächtigung des Art 88 Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) Gebrauch gemacht und in § 26 Bundesdatenschutzgesetz (BDSG) eine Sondernorm für den AN-Datenschutz geschaffen. Der einzelne Beschäftigte kann grundsätzlich über das Schicksal seiner Daten frei verfügen („informationelles Selbstbestimmungsrecht“); dieses Recht kann nach § 26 Abs 1 BDSG nur eineingeschränkt werden, wenn es zur Begründung oder Durchführung des Arbeitsverhältnisses erforderlich ist. Dies hat zu einer reichhaltigen Rsp geführt; eine heimliche Überwachung ist beispielsweise nur dann zulässig, wenn der durch Tatsachen begründete Verdacht besteht, dass der AN eine Straftat oder eine schwere Pflichtverletzung begangen hat und keine milderen Mittel zur Verfügung stehen.*
Der Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz spielt in der Rsp wie in der wissenschaftlichen Diskussion eine sehr viel geringere Rolle als das Arbeitsvertragsrecht. Neben den allgemeinen gesetzlichen Vorschriften, die eine Minimierung von gesundheitlichen Risiken verlangen, gibt es branchenspezifische Vorschriften zur Verhütung von Unfällen, die von den Unfallversicherungsträgern erlassen werden. Die traditionelle deutsche Herangehensweise besteht in der Festlegung bestimmter Ziele oder Verbote. In den vergangenen Jahrzehnten ist durch das EG-Recht eine stärkere Betonung des Verfahrensaspekts hinzugekommen. So muss beispielsweise nach § 5 ArbeitsschutzG grundsätzlich für jeden Arbeitsplatz eine Gefährdungsbeurteilung erfolgen, die alle Risiken erfassen und die nötigen Arbeitsschutzmaßnahmen vorschlagen soll.
Die meisten Auseinandersetzungen ergeben sich im Zusammenhang mit dem Arbeitszeitrecht. Der deutsche Gesetzgeber hat 1994 durch den Erlass des ArbeitszeitG spezifische Schutzvorschriften für weibliche Beschäftigte wie das Nachtarbeitsverbot für Arbeiterinnen abgeschafft und den Versuch unternommen, die gesundheitlichen Belastungen für beide Geschlechter in Grenzen zu halten. In der Gegenwart steht die Rsp des EuGH im Vordergrund, die beispielsweise dazu führte, dass der Bereitschaftsdienst anders als zuvor als „Arbeit“ qualifiziert wird.*
Tarifverträge können nach deutschem Recht nur von Gewerkschaften abgeschlossen werden, die in der Lage sein müssen, Druck auf die Gegenseite auszuüben, und die über so viele Ressourcen 68 verfügen müssen, dass sie die Einhaltung der abgeschlossenen Tarife überwachen können. Neugründungen sind deshalb schwierig; die sogenannten Spartengewerkschaften der Klinikärzte, der Lokomotivführer, der Piloten, der Flugbegleiter und der Fluglotsen entwickelten sich in der Regel aus bereits bestehenden Berufsverbänden heraus.
Tarifverträge können mit einem AG-Verband oder einem einzelnen AG abgeschlossen werden. Sie wirken nur für und gegen die Mitglieder der tarifschließenden Organisationen. AN, die keiner Gewerkschaft angehören, werden üblicherweise aber „nach Tarif“ behandelt, weil in den Arbeitsverträgen auf den einschlägigen Tarifvertrag verwiesen wird. Dies setzt allerdings voraus, dass der AG dem Verband angehört; durch die Bezugnahme auf den Tarifvertrag wird verhindert, dass AN einer Gewerkschaft beitreten, um so in den Genuss der tariflichen Rechte zu kommen. AG, die selbst nicht tarifgebunden sind, verwenden normalerweise nur einzelne Teile der in der Branche bestehenden Tarifverträge als Modell für eine eigenständige Lohn- und Arbeitszeitstruktur.
Tarifverträge können nach § 5 Tarifvertragsgesetz (TVG) für allgemeinverbindlich erklärt werden; in diesem Fall sind sie für alle AG und AN der fraglichen Branche verbindlich. Die Allgemeinverbindlicherklärung hängt allerdings von zahlreichen inhaltlichen Voraussetzungen und einem gemeinsamen Antrag der tarifschließenden Parteien ab, so dass nur sehr selten von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht wird.
Arbeitskräfte, die von ihrem ausländischen AG nach Deutschland geschickt werden, um hier während eines bestimmten Zeitraums für ihn tätig zu sein, unterliegen dem AN-EntsendeG,* das insb die deutsche Mindestlohngesetzgebung, andere Mindestnormen und zum Teil auch Tarifverträge auf diese Gruppe von AN erstreckt.
Das Streikrecht steht in Deutschland nur den Gewerkschaften, nicht einem bloßen AN-Kollektiv zu. Es ist außerdem nach der Rsp des BAG auf tarifliche Ziele beschränkt. Innerhalb des so bestimmten Rahmens besteht die Freiheit, zwischen verschiedenen Mitteln des Arbeitskampfes zu wählen. So kann zur Unterstützung einer anderen in einer Tarifauseinandersetzung steckenden Gewerkschaft ein Solidaritätsstreik durchgeführt werden.* Zulässig ist nach der Rsp auch ein „Flashmob“, dh eine sich spontan vollziehende Versammlung von Menschen, die beispielsweise einen Supermarkt für zwei Stunden lahmlegen.*
Der von der gesamten Belegschaft gewählte BR übt seine Rechte während der Arbeitszeit aus. Auf der Grundlage des Betriebsverfassungsgesetzes (BetrVG) von 1972 besitzt er insb Mitbestimmungsrechte auf bestimmten Sachgebieten, wie Überstunden oder Entlohnungsmethoden. „Mitbestimmung“ bedeutet, dass eine ohne Zustimmung des BR vorgenommene Handlung des AG unwirksam ist und der BR überdies eine einstweilige Verfügung beim Arbeitsgericht erreichen kann, die dem AG eine Wiederholung seiner Handlung verbietet. Kommt keine freiwillige Abmachung zwischen BR und AG zustande, entscheidet eine paritätisch mit Vertretern beider Seiten und einem neutralen Vorsitzenden besetzte Einigungsstelle.
In den 50 Jahren seit 1972 haben sich nur relativ bescheidene gesetzliche Änderungen ergeben. Wichtiger war die Auslegung der Mitbestimmungsrechte durch die Rsp. So unterliegt nach § 87 Abs 1 Nr 6 BetrVG die Einführung und Anwendung von technischen Einrichtungen der Mitbestimmung, die dazu bestimmt sind, Verhalten und Leistung der AN zu überwachen. Dabei genügt es nach stRsp, dass die „technische Einrichtung“ (zB eine Software) zur Überwachung „geeignet“ ist; eine Überwachungsabsicht muss nicht vorliegen. Auch genügt es, wenn die durch Technik ermittelten Informationen nicht für sich allein, sondern nur zusammen mit anderen Informationen eine Aussage über Verhalten und Leistung ermöglichen.29) Eine Videokamera aufzustellen ist daher immer nur mit Zustimmung des BR möglich; dasselbe gilt, wenn der jeweilige Standort von Fahrzeugen mit Hilfe von GPS ermittelt werden kann.
Werden Ansprüche aus dem Arbeitsvertrag oder aufgrund anderer Rechtsgrundlagen nicht erfüllt, kann der AN Klage vor dem Arbeitsgericht erheben. Die Einhaltung des Arbeitsschutzrechts einschließlich des Arbeitszeitrechts soll von der sogenannten Gewerbeaufsicht sichergestellt werden, für den Schutz von AN-Daten ist die Aufsichtsbehörde für den Datenschutz und für die effektive Bezahlung des Mindestlohns die sogenannte Finanzkontrolle Schwarzarbeit zuständig.
Betrachtet man nur das gesetzliche und von der Rsp weiter entwickelte Recht, so ist der Eindruck ein sehr positiver: Das deutsche Arbeitsrecht kennt viele Schutzvorschriften und Freiheitsrechte. Etwas pointiert könnte man sagen: Dieses Rechtsgebiet ist ein ernsthafter Kandidat für den deutschen Pavillon auf der nächsten Weltausstellung. Doch der erste Eindruck täuscht.
Die Praxis des deutschen Arbeitslebens kennt zahlreiche Beschäftigte, für die die hier skizzierten 69 Vorschriften nicht oder nur ganz ausnahmsweise zur Geltung kommen. Fünf Gruppen lassen sich unterscheiden:
Befristet Beschäftigte befinden sich in einem Zustand gesteigerter Abhängigkeit: Wenn sie – wie in aller Regel – auf Dauer in dem betreffenden Unternehmen bleiben wollen, müssen sie sich besonders angepasst verhalten, um ihre besondere Nützlichkeit für den AG zu dokumentieren. Sie werden keine Bezahlung von Überstunden verlangen und auch nicht protestieren, wenn die Höchstgrenze der Arbeitszeit (zehn Stunden am Tag) überschritten wird. Sie werden sich keiner Gewerkschaft anschließen und auch nicht zum BR kandidieren, denn das könnte für sie das definitive „Aus“ bedeuten.
Teilzeitkräfte, die höchstens € 520,– im Monat verdienen, erhalten keinen existenzsichernden Lohn. Sie sind außerdem meist aus der SV ausgenommen, so dass sie selbst für KV und Rentenversicherung sorgen müssen. Wenn sie keine andere Einkommensquelle haben, müssen sie die staatliche Minimalsicherung („Hartz IV“) in Anspruch nehmen, was voraussetzt, dass sie über kein nennenswertes Vermögen mehr verfügen. Durch das geplante „Bürgergeld“ soll diese Situation deutlich verbessert werden.
Leih-AN verdienen in Deutschland im Durchschnitt etwa 30 % weniger als vergleichbare Stammbeschäftigte. Dies beruht auf Tarifverträgen, die von den DGB-Gewerkschaften abgeschlossen wurden. Leih-AN werden in den Einsatzbetrieben nicht als gleichwertig behandelt. Der Inhaber dieses Betriebs kann jederzeit ihre Abberufung verlangen, ohne sich dafür irgendwie rechtfertigen zu müssen. Hat ihr AG, dh der Verleiher, keine andere Einsatzmöglichkeit, werden sie gekündigt. Kommt es im Einsatzbetrieb zu einem Umsatzrückgang, so werden zuerst die Leih-AN zurückgeschickt, bevor ein Stamm-AN gekündigt wird. Sie stellen insoweit eine Art beschäftigungspolitischen „Puffer“ dar.
Eine ähnliche Funktion wie Leih-AN erfüllen Personen, die von ihrem AG auf der Grundlage eines Werkvertrags oder eines Dienstvertrags in den Betrieb geschickt werden. Sie sind noch weniger als die Leih-AN in die Belegschaft integriert. Ihrem AG gegenüber haben sie zwar die allgemeinen AN-Rechte, doch lassen sich diese normalerweise nicht durchsetzen. Auch sie dienen häufig als „Flexibilitätsreserve“.
Selbständige ohne eigene AN („Soloselbständige“) sind häufig von ihrem Hauptauftraggeber wirtschaftlich abhängig und verfügen über keinen eigenen Marktzugang. Ihr Beschäftigungsverhältnis hat keinerlei Bestandsschutz; in der Regel kann ihnen die Grundlage ihrer Tätigkeit von einem auf den anderen Tag entzogen werden. Auch sind sie in der Regel nicht in das System der SV und der AlV einbezogen.
Diese verschiedenen Gruppen von Beschäftigten machen ungefähr ein Drittel aller unselbständig Arbeitenden aus.* Sie werden üblicherweise als „prekär Beschäftigte“ bezeichnet. Soweit es sich nicht um AN handelt, gilt für sie der Mindestlohn nicht. AGB-Kontrolle, Diskriminierungsschutz und Grundrechte am Arbeitsplatz spielen für sie faktisch keine Rolle, weil sie zu schwach (und zu uninformiert) sind, um sich auf diese Rechte zu berufen. In der sehr umfangreichen Rsp finden sich jedenfalls keine derartigen Fälle. Eine Mitgliedschaft in der Gewerkschaft oder eine Initiative zur Gründung eines BR würde die eigene betriebliche Existenz gefährden. Tarifverträge finden nur bei Leih-AN Anwendung, und dort haben sie keine Schutz-, sondern eine Marginalisierungsfunktion.
Können sich wenigstens die verbleibenden zwei Drittel auf den unter 1. skizzierten arbeitsrechtlichen Schutz berufen? Auch dies ist keineswegs generell gewährleistet.
Nur 51 % aller AN werden in Deutschland noch von einem Tarifvertrag geschützt.* Dabei sind diejenigen mitgerechnet, die nicht Gewerkschaftsmitglied sind, in deren Arbeitsvertrag aber auf einen Tarifvertrag verwiesen wird. Bei den Betriebsräten ist die Situation noch unbefriedigender: Nur in 9 % aller vom BetrVG erfassten Betriebe sind Betriebsräte gewählt worden. Da dies häufiger in größeren als in kleineren Betrieben geschieht, werden ungefähr 40 % aller unter das Gesetz fallenden AN von einem BR vertreten.* Demnach ist die Existenz von Betriebsräten ein Minderheitenphänomen geworden; im Jahre 1996 war noch gut die Hälfte der AN erfasst.*
Fehlende Tarifverträge und fehlende Betriebsräte rauben den Beschäftigten den kollektiven Schutz. Aber auch die in den letzten zwanzig Jahren so gut ausgebauten Individualrechte können nur schwer geltend gemacht werden.
Die Arbeitsgerichte werden außerhalb des öffentlichen Dienstes in der Regel erst eingeschaltet, wenn das Arbeitsverhältnis beendet ist. Eine Klage während eines bestehenden Arbeitsverhältnisses wird von vielen AG als Illoyalität angesehen, die zumindest die weitere Laufbahn im Betrieb erschwert, vielleicht sogar den Arbeitsplatz aufs Spiel setzt. Aus diesem Grunde sehen AN in aller Regel von einer gerichtlichen Geltendmachung ihrer Rechte ab. Die Ausnahmen – der AN steht kurz vor der 70 Rente, er hat beim AG bereits einen schlechten Ruf, er nimmt Repressalien in Kauf, weil er das Unternehmen sowieso verlassen will – fallen aufs Ganze gesehen nicht ins Gewicht.
Dazu kommt ein zweites Defizit der Einschaltung von Gerichten. Bis eine rechtskräftige Entscheidung vorliegt, können unschwer zwei Jahre vergehen. Während dieser Zeit kann der AG vollendete Tatsachen schaffen, zB den Arbeitsplatz neu besetzen oder die umstrittene Umorganisation vornehmen. Dies alles rückabzuwickeln, fällt sehr schwer; in der Praxis dominieren Abmachungen, aufgrund deren der AN gegen eine mehr oder weniger hohe Abfindung ausscheidet.
Wollte man für eine wirksame Durchsetzung des Arbeitsrechts sorgen, müsste man verstärkt staatliche Stellen einschalten, die mit ausreichenden Ressourcen ausgestattet sind. Sie müssten in der Lage sein, die Beachtung arbeitsrechtlicher Vorschriften durch sofort vollziehbaren Verwaltungsakt zu erzwingen und gegebenenfalls auch finanzielle Sanktionen zu verhängen. Diese müssen nicht immer nur dem Staat zugutekommen, sondern könnten etwa auch die Situation des AN verbessern, der Nachteile aufgrund der Rechtsverletzung erlitten hat, der zB sein Entgelt erst mit großer Verspätung erhalten hat oder der zu Unrecht gekündigt wurde.*
Prekäre Arbeits- und Beschäftigungsverhältnisse lassen sich nicht von heute auf morgen in stabile Arbeitsverhältnisse mit einem Lohn verwandeln, der eine angemessene Lebensführung ermöglicht. Hier sind bestenfalls einzelne Schritte möglich. Interesse verdient insoweit das Seearbeitsrecht. Das auf der Maritime Labour Convention beruhende Seearbeitsgesetz* behandelt alle auf einem Seeschiff tätigen Personen nach § 4 Abs 2 als Einheit, für die bestimmte inhaltliche Grundsätze gelten.* Dabei sind auch Leih- und Werkvertrags-AN einbezogen, die trotz ihres „außenstehenden“ Vertrags- AG denselben seearbeitsrechtlichen Regeln unterliegen. Soweit sie Ansprüche gegen ihren AG haben, haftet der Reeder wie ein selbstschuldnerischer Bürge.* Die Regelung hat den Vorzug, an einer bestimmten Form realer Zusammenarbeit anzuknüpfen, die meist für alle vergleichbare Probleme bringt. Bei einer solchen Herangehensweise fällt es nicht schwer, von der Unterschiedlichkeit der Beschäftigungsformen abzusehen und auch Soloselbständige einzubeziehen. Warum sollte sich eine solche Lösung nicht auf andere Bereiche übertragen lassen?
Der zweite Kritikpunkt, die mangelnde Umsetzung arbeitsrechtlicher Normen, ist anders gelagert. Das geltende Recht in 99 % aller Fälle auch wirklich durchzusetzen, stellt Wettbewerbsgleichheit zwischen den Unternehmen her: Die mit der Einhaltung des Rechts verbundenen Beschränkungen und die (bisweilen) entstehenden wirtschaftlichen Belastungen treffen nicht nur die korrekt Handelnden, sondern (fast) alle. Insoweit müssten die Widerstände geringer sein als bei der Anhebung prekär Beschäftigter auf das Niveau der übrigen Beschäftigten.
Die Handlungsmöglichkeiten vieler Unternehmen erfuhren einen grundlegenden Wandel, seit die Zölle weithin abgeschafft sind und alle Unternehmen die Freiheit haben, in anderen Ländern zu investieren und dort Tochtergesellschaften zu gründen. Dies macht sich auch im Arbeitsrecht bemerkbar.
Weltweite Märkte können dazu führen, dass in anderen Ländern Waren produziert werden, die trotz gleicher Qualität sehr viel billiger sind. Dies zwingt die inländischen Unternehmen zur Senkung der Stückkosten, was insb zu Lasten der AN geht. Es muss länger und/oder intensiver gearbeitet werden, wobei letzteres einfacher zu bewerkstelligen ist, weil die Arbeitsintensität schwer zu messen und rechtlich nicht ausreichend erfasst ist. Denkbar ist weiter, dass die Produktion im Inland eingestellt und im billigeren Ausland wieder eröffnet wird, um so den entstandenen Wettbewerbsnachteil wieder rückgängig zu machen. Die inländischen Arbeitsplätze gehen verloren.
Eine solche Produktionsverlagerung kann auch aus anderen Gründen erfolgen. Ob die Betroffenen sich dagegen mit rechtlich anerkannten Mitteln zur Wehr setzen können, ist nicht in vollem Umfang geklärt. Das BAG hat es dahinstehen lassen, ob man die Verlagerungsentscheidung als solche zum Gegenstand eines Tarifvertrags und eines Streiks machen kann.* Unbestritten zulässig ist dagegen eine Auseinandersetzung um die „Folgenbewältigung“, was ua eine Verlängerung der Kündigungsfristen, hohe Abfindungen und die Übernahme von Umschulungskosten erfasst, soweit diese nicht von der öffentlichen Hand übernommen werden.* Das BAG hat es ausdrücklich abgelehnt, die Tarifforderungen am Maßstab des Verhältnismäßigkeitsprinzips zu überprüfen.* Dies gelte auch dann, wenn die Forderungen in ihrer Summe so hoch seien, dass die geplante Verlagerung wirtschaftlich 71 sinnlos werde.* Im konkreten Fall wurde verlangt, die Kündigungsfristen auf ein Jahr zu verlängern und anschließend drei Jahre lang Entgeltfortzahlung samt Übernahme der Weiterbildungskosten zu gewähren.* Mittelbar kann so die Verlagerungsentscheidung als solche doch mit Hilfe eines Streiks in Frage gestellt werden.
Wenig Schutz bietet demgegenüber § 613a BGB, der die EG-Betriebsübergangs-RL in deutsches Recht umgesetzt hat. Zwar bleibt er anwendbar, wenn ein Betrieb in einen Drittstaat (im konkreten Fall in die Schweiz) verlagert wird, doch wird sich im Regelfall nach Art 8 Abs 2 Rom I-VO das auf das Arbeitsverhältnis anwendbare Recht ändern, weil der ständige Arbeitsort künftig in einem anderen Land liegt.* Außerdem besteht bei den Beschäftigten eine sehr geringe Neigung, ihren Lebensmittelpunkt in ein anderes Land zu verlegen. Auch fehlen oft die Voraussetzungen für einen Betriebsübergang, weil weder die Produktionsmittel noch die bisherige Organisation in das andere Land „mitgenommen“ werden.
Hat ein deutsches Unternehmen ausländische Tochtergesellschaften, so werden die dort bestehenden betrieblichen Interessenvertretungen nicht in das deutsche System integriert; sie können deshalb keine Delegierten in den Konzern-BR entsenden. Als Grund wird das sogenannte Territorialitätsprinzip angeführt, wonach das BetrVG außerhalb der deutschen Grenzen keinerlei Rechtswirkungen entfaltet.* Dies bedeutet, dass die deutschen Interessenvertretungen auch dann zur Mitbestimmung berufen sind, wenn durch die fragliche Entscheidung vorwiegend ausländische Belegschaften desselben Unternehmens oder Konzerns betroffen sind. Daran wenigstens innerhalb der EU etwas zu ändern, ist vorläufig am EuGH gescheitert.*
Sehr viel mehr Kritik erfährt die umgekehrte Konstellation einer im Ausland befindlichen Konzernspitze. Soweit dort auf Konzernebene eine gesetzliche Interessenvertretung besteht, sind die deutschen Belegschaften und ihre Vertreter ebenfalls von jeder Einflussnahme ausgeschlossen. Dem Territorialitätsprinzip entsprechend bestehen zwar bei den deutschen Niederlassungen Betriebs- oder Gesamtbetriebsräte, doch werden deren Mitbestimmungsrechte faktisch stark entwertet, da sie nicht mit den realen Entscheidungsträgern verhandeln können. Zwar bleibt ihnen die Möglichkeit, im Fall eines Dissenses die Einigungsstelle anzurufen, doch ist dieses Verfahren nur für den Ausnahmefall gedacht. Den Betriebsräten fällt es deshalb ausgesprochen schwer, regelmäßig diesen Weg zu gehen und so in einer Situation permanenter Auseinandersetzung zu arbeiten. Außerdem besteht bei einem „Nein“ immer die Gefahr, dass die Zentrale den deutschen Standort abwertet, ihm beispielsweise keine neuen Aufgaben zuweist oder gar mit Schließung droht. Beherrscht eine ausländische KonzernKonzernspitze mehrere deutsche Unternehmen, so kann nach Auffassung des BAG nur dann ein Konzern-BR gebildet werden, wenn eine „Deutschlanddirektion“ existiert.* In anderen Fällen geht die Mitbestimmung auf Konzernebene ins Leere.*
Die Globalisierung der Märkte darf nicht zu „sozialem Dumping“, also zu einer Situation führen, in der das mit den geringsten Lohnkosten hergestellte Produkt alle Konkurrenten aus dem Feld schlägt. Im Prinzip steht die Gewerkschaftsbewegung hier vor demselben Problem wie in ihren Anfängen: Wie kann man den Wettbewerb zwischen den Arbeitskräften durch gemeinsames Handeln verhindern? Das geltende Recht bietet hierfür nur wenige Ansatzpunkte.
Innerhalb der EU kann bei Unternehmen, die mindestens 1.000 AN beschäftigen, von denen je 150 in zwei Mitgliedstaaten tätig sind, ein Europäischer BR (EBR) gebildet werden. Ihm steht ein Recht auf Unterrichtung und Anhörung zu, wenn durch eine unternehmerische Maßnahme Niederlassungen in mehr als einem Mitgliedstaat betroffen sind. Damit lässt sich die Durchführung von Maßnahmen unter bestimmten Umständen verzögern, jedoch niemals verhindern. Die Entscheidungsfreiheit der Konzernspitze bleibt unangetastet. Ob ein EBR einen Streik organisieren könnte, wird selten als Frage gestellt. In einigen ganz wenigen Fällen hat es grenzüberschreitende Aktionen gegeben, bei denen aber die Gewerkschaften maßgebend beteiligt waren; der EBR diente eher als Forum, auf dem Kontakte geknüpft werden konnten.*
Die Informationsrechte eines deutschen BR gegenüber dem AG erstrecken sich auch auf die Beziehungen zu ausländischen Konzernteilen. Es ist daher nur konsequent, dass er sich auch durch unmittelbaren Kontakt sachkundig machen kann. Er bewegt sich deshalb innerhalb seiner Kompetenzen, wenn er sich mit Interessenvertretern aus ausländischen Niederlassungen trifft oder mit ihnen telefoniert und gleichlautende Forderungen abspricht. Nach § 40 BetrVG hat ihm der AG die dafür notwendigen Mittel einschließlich der gegebenenfalls notwendigen Dolmetscher zur Verfügung zu stellen.* Auf diese Weise könnte 72 sich langsam ein Netz von Beziehungen aufbauen, die von wechselseitigem Vertrauen getragen sind. In der Praxis sind grenzüberschreitende Kontakte dieser Art aber bislang eine seltene Ausnahme.
Soziale Korrekturen des Weltmarkts könnte man von ILO-Übereinkommen und von Sozialklauseln in Handelsverträge erwarten. Beide Instrumente sind trotz einiger Versuche bislang in Deutschland nicht handlungsleitend geworden.*
„Andere Technik anderes Recht.“ Manche Beiträge zur Digitalisierung der Arbeitsprozesse lesen sich so, als wäre diese pseudomaterialistische Sichtweise eine pure Selbstverständlichkeit. Von „digitaler Arbeit“ oder moderner: Von „Arbeit 4.0“ ist die Rede. Die Mensch-Maschine-Beziehung werde eine völlig andere als heute sein, der Einzelne gerate zum Anhängsel riesiger, sich selbst steuernder Systeme.* Die Entwicklung dorthin sei eine disruptive, das Neue entstehe explosionsartig und nicht in einem allmählichen Prozess. AG würden in der neuen Welt sehr viel schneller entstehen und verschwinden als in der analogen.* Der Arbeitende kommuniziere mehr mit Maschinen als mit Menschen, der häufige Wechsel von Arbeitsplatz und Einsatzformen erschwere jede Form von Solidarisierung, insb die Bildung von Gewerkschaften und Betriebsräten.* Der Eindruck ist nicht von der Hand zu weisen, dass vom Arbeitsrecht kaum mehr etwas übrigbleibt.
Erste Zweifel an solchen Annahmen weckt ein Blick in die Geschichte. Das deutsche Arbeitsrecht des Jahres 2020 ist in seinen Grundstrukturen dem des Jahres 1920 sehr ähnlich:
Es gab und gibt Arbeitsverträge als besonderen Vertragstyp, der Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz ist im Grundsatz rechtlich abgesichert, es gab und gibt Betriebsräte, Tarifverträge und gelegentlich auch Arbeitskämpfe. Dies alles, obwohl die „Maschinen“, dh die Arbeitsgeräte in den Betrieben, heute völlig andere sind und im Arbeitsprozess auch sonst kaum ein Stein auf dem anderen geblieben ist: Die Unternehmen haben andere Organisationsformen, das Management verfährt nach anderen Leitlinien und „Theorien“, der ökonomische Entwicklungsstand ist ungleich höher und die nationale wie die internationale Konkurrenz ist nicht mit der vor hundert Jahren zu vergleichen.
Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass das Arbeitsrecht Charakteristika besitzt, die ihm ein hohes Maß an Anpassungsfähigkeit verschaffen.
Das Arbeitsrecht kennt zahlreiche Generalklauseln, die von der Rsp im Hinblick auf die jeweils gegebene Situation konkretisiert werden. Die Nebenpflichten im Arbeitsverhältnis und der „wichtige Grund“ für eine fristlose Kündigung mögen als Beispiele stehen, die man in fast allen Rechtsordnungen findet. Bisweilen schafft sich die Rsp sogar ihre eigene Generalklausel, so wenn etwa die deutschen Arbeitsgerichte auch bei der verhaltens- und der personenbedingten ordentlichen Kündigung eine umfassende Interessenabwägung verlangen, obwohl diese im Gesetzestext an keiner Stelle auch nur angedeutet ist.*
Das Arbeitsrecht kennt zum zweiten spezifische Normsetzungsprozesse, die noch sehr viel stärker als das gerichtliche Verfahren die jeweiligen konkreten Umstände berücksichtigen können. Die Tarifautonomie ist nicht nur ein Stück demokratischer Mitbestimmung der Beschäftigten über ihre Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen, sondern auch ein Mittel, um den Besonderheiten einzelner Branchen und Unternehmen Rechnung zu tragen. Die beschränkte Geltungsdauer bringt ein zusätzliches Element der Flexibilität. Schließlich sind auch Vorschriften des Arbeitsschutzes auf spezifische, sich wandelnde Gefahrensituationen bezogen; das Verfahren der Gefährdungsbeurteilung soll zB sicherstellen, dass diese rechtzeitig erkannt und die nötigen Schutzmaßnahmen ergriffen werden.
Das Arbeitsrecht hat zum dritten einen großen Vorrat an Rechtsinstituten ausgebildet, die nicht auf jene Phänomene beschränkt sind, für die sie entwickelt wurden. Eine frühe Reaktion auf die Aufspaltung der AG-Stellung war etwa das sogenannte mittelbare Arbeitsverhältnis. Traditionelles Beispiel ist der Hausmeister, der seine mitarbeitende Ehefrau als AN beschäftigt. Unter bestimmten Voraussetzungen kann diese AN arbeitsvertragliche Ansprüche auch gegen den AG ihres Ehemannes geltend machen, weil ihre Arbeitsleistung letztlich dem „Haupt-AG“ zugutekommt.* Diese Rechtsfigur lässt sich auf viele moderne Formen des Personaleinsatzes übertragen.*
Das Problem liegt somit nicht in der angeblichen „Rigidität“ des Arbeitsrechts insgesamt, die von seinen neoliberalen Kritikern gerne beschworen wird. Seine Normen lassen genügend Spielraum, um gleichermaßen die Fließbandarbeit wie die Dienstleistung einer Krankenschwester und die Tätigkeit eines Softwarespezialisten zu regulieren. Auch neue technische Entwicklungen können verarbeitet werden. Der massenhafte Einsatz von Computern am Arbeitsplatz – also die erste wichtige Erscheinungsform der Digitalisierung – hat nichts an den vorher praktizierten Rechtsgrundsätzen geändert, sieht man einmal von der verstärkten Bedeutung des 1977 erstmals gesetzlich geregelten Datenschutzes ab.
Ohne in Spekulationen über die digitale Arbeit der Zukunft zu verfallen, lassen sich schon heute 73drei Phänomene erkennen, die möglicherweise die Anpassungsfähigkeit des Arbeitsrechts überfordern.
Viele AN erhalten Laptops, Tablet Computer oder Smartphones, die sie auch außerhalb der Arbeitszeit mit sich führen. Auf diese Weise sind sie jederzeit erreichbar. Doch das ist nicht der entscheidende Punkt: Mit Hilfe dieser Geräte können sie jederzeit mit der Arbeit beginnen, sofern sie nur Zugang zu den betrieblichen Systemen oder zum Internet haben. Arbeit ist nunmehr zu jedem beliebigen Zeitpunkt und von jedem beliebigen Ort aus möglich. Dies wirft Probleme der Arbeitszeiterfassung auf, die trotz der neuesten Rsp des EuGH* in Gefahr ist, wenig korrekt gehandhabt zu werden. Die dadurch entstehenden langen Arbeitszeiten führen zusammen mit der Fülle der zu verarbeitenden Informationen und dem „Nie Abschalten- Können“ zu mentalen Belastungen, denen nicht alle Beschäftigten gewachsen sind. Nicht nur das Arbeitszeitrecht, sondern auch der Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz sieht sich so erheblichen Herausforderungen ausgesetzt.
Je stärker die Arbeitsprozesse digitalisiert werden, umso mehr fallen personenbezogene Daten über die Beschäftigten an – und hier liegt der zweite Problembereich. Wer eine „Datenbrille“ trägt oder tragen muss, die ihm bestimmte Informationen einblendet, muss damit rechnen, dass jeder seiner Schritte bei der Arbeit festgehalten wird. Roboter und andere lernende Systeme sind vielfältig einsetzbar. „Sie bewachen und bauen Häuser, mähen Rasen, saugen und wischen Wohnungen, entschärfen Bomben, melken Kühe, kommissionieren Ware, operieren Hirne, geben Rechtsrat ... und steuern Autos“
– so eine Schilderung in der deutschen Literatur.* Meist wird dies in jüngster Zeit unter dem Stichwort der „Künstlichen Intelligenz“ abgehandelt.* Auch wenn man vieles davon als ungewisse Zukunftsvision betrachtet – der Kontakt zwischen Mensch und Roboter führt automatisch zur Erfassung zahlloser Daten. Erst recht gilt dies dann, wenn ein System „Weisungen“ erteilt, also zB eine Reparaturkolonne dorthin beordert, wo die dringendsten Aufgaben zu erledigen sind.* Auch Entscheidungen der Personalabteilung lassen sich automatisieren. Dazu kommt, dass AN aus dienstlichem Anlass immer häufiger mit dem Internet in Kontakt kommen und dabei Spuren hinterlassen, die nicht mehr definitiv zu beseitigen sind.
In zahlreichen Ländern werden diese aktuellen und künftigen Änderungen der „normalen“ Arbeitsprozesse viel weniger zum Thema gemacht als der dritte Problembereich, die sogenannte Plattformökonomie, die in zwei Erscheinungsformen auftritt. Zum einen geht es darum, dass mit Hilfe einer Plattform Dienstleistungen in der „realen Welt“ vermittelt werden. Bekanntestes Beispiel sind die Taxis der Firma Uber, doch hat auch die Überbringung von Speisen erheblich an Bedeutung gewonnen. Zum zweiten geht es um die sogenannte Crowdwork:
Eine Plattform schreibt bestimmte Tätigkeiten im Internet aus, um die sich jeder Internet-User, also irgendein Mitglied der „Crowd“, bewerben kann.
Meist handelt es sich um einfache Tätigkeiten wie das Korrigieren von Fehlern in einer Rohübersetzung oder um das Eingeben bestimmter manuell aufgezeichneter Daten in ein System. Daneben gibt es aber auch sogenannte Kreativwettbewerbe; eine Firma sucht ein neues Logo oder eine attraktive Abkürzung für ein Produkt. Schließlich gibt es komplexe Aufgaben, die nur von Experten oder durch eine Gruppe qualifizierter Arbeitskräfte bewältigt werden können. Insb in der ersten Variante, dh bei den einfachen Arbeiten, stellt sich das Problem, ob der einzelne Crowdworker überhaupt noch AN ist und damit vom Arbeitsrecht erfasst wird.
Die neuen technischen Möglichkeiten können dazu führen, dass weit länger als gesetzlich zulässig gearbeitet wird. Auch die Ruhezeiten von elf Stunden zwischen zwei Arbeitstagen werden oft nicht eingehalten, weil am Abend ein Anruf kommt und die Erledigung der „dringenden Aufgabe“ bis 23 Uhr dauert. Welcher AN wird in einem solchen Fall am nächsten Morgen erst um 10 Uhr im Büro erscheinen und sich auf die gesetzliche Regelung berufen? In der Literatur ist von der „Entgrenzung“ der Arbeit die Rede.
Die neueste Rsp des EuGH* könnte hier Abhilfe schaffen, da sie ein „objektives, verlässliches und zugängliches System“ der Arbeitszeiterfassung verlangt. Die Möglichkeit, die geleisteten Arbeitsstunden im Streitfall durch Vernehmung von Arbeitskollegen als Zeugen belegen zu können, genüge nicht. Das sei kein wirksames Beweismittel, „da die Arbeitnehmer möglicherweise zögern, gegen ihren Arbeitgeber auszusagen, weil sie befürchten, dass dieser Maßnahmen ergreift, durch die das Arbeitsverhältnis zu ihren Ungunsten beeinflusst werden könnte“.* Dies ist eine bemerkenswert realistische Aussage – bislang recht ungewöhnlich für das höchste Gericht der EU. Würde man die Vorgabe des EuGH wirklich ernst nehmen, so müss ten zahlreiche, bisher inoffiziell erbrachte Stunden bezahlt werden, was die „offiziell“ erbrachten Überstunden in etwa verdoppeln würde.* Manche Arbeiten 74 müssten zudem unterbleiben, weil sie sich jenseits der Grenze des Zulässigen bewegen. Betrachtet man die Machtverhältnisse in deutschen Betrieben, so erscheint es wenig realistisch, mit einer schnellen Umsetzung der EuGH-Rsp zu rechnen. Eine so große Verschiebung des Austauschverhältnisses Arbeitskraft gegen Entgelt ist in der Realität schwer vorstellbar. Dies gilt trotz der Tatsache, dass das BAG* den § 3 Abs 2 Nr 1 ArbSchG richtlinienkonform ausgelegt hat, so dass jeder AG im Rahmen seiner Aufgabe zur Organisierung des Arbeitsschutzes verpflichtet ist, ein den Anforderungen des EuGH entsprechendes Zeiterfassungssystem einzuführen. Die Gewerbeaufsicht verfügt nicht über die Ressourcen, um die Befolgung dieser Pflicht flächendeckend und konsequent zu kontrollieren, was einzelne Fortschritte natürlich in keiner Weise ausschließt.
Wo kann eine bessere Lösung liegen? Das eigentliche Problem besteht darin, dass der Einzelne zu viel Arbeit erledigen muss. Dem könnte und sollte man damit begegnen, dass der BR ein Mitbestimmungsrecht über das Arbeitspensum erhält, das der Einzelne zu bewältigen hat. Die Entscheidung, die heute vom Personalleiter oder von einem Fachvorgesetzten getroffen wird, sollte auf zwei Schultern verteilt werden. Das bedeutet zugleich, dass die Einschaltung des BR nicht nur zu Beginn der Tätigkeit erfolgen muss. Vielmehr sollte sie immer dann stattfinden, wenn es Änderungen gibt oder wenn sich herausstellt, dass das zugewiesene Pensum zu groß oder zu bescheiden ist. Soweit sich der Gesetzgeber nicht für ein solches neues Mitbestimmungsrecht entscheiden kann, könnte man an die Nutzung des gesetzlichen Beschwerderechts nach §§ 84, 85 BetrVG denken. Macht sich der BR die Beschwerde eines AN zu eigen und führen die Verhandlungen mit dem AG zu keinem Ergebnis, so entscheidet die Einigungsstelle. Ein anderer Weg, der besonders extrem gelagerte Fälle erfassen würde, besteht im Rückgriff auf das Arbeitsschutzrecht. Ergibt die Gefährdungsbeurteilung, dass die Arbeitslast eine Gefahr für die Gesundheit darstellt, so ist der AG zur Abhilfe verpflichtet, was eine Umverteilung der Arbeit, aber auch die Einstellung zusätzlicher Beschäftigter zur Folge haben kann.
Die Digitalisierung macht es möglich, dass viele Arbeiten von zu Hause erledigt werden können. Das „Homeoffice“ wurde in den letzten Jahren zu einem häufig geäußerten AN-Wunsch, doch wurde es wegen des Widerstands der AG-Seite nur selten realisiert. Durch die Corona-Pandemie hat sich dies geändert; knapp ein Drittel aller Beschäftigten hat den Arbeitsplatz vorübergehend nach Hause verlegt, weil die staatliche Gesetzgebung dies generell verlangte, soweit nicht zwingende betriebliche Gründe entgegenstanden. Mit dem Rückgang der Pandemie wurde aber die in Deutschland verbreitete „Präsenzkultur“ wieder die Regel. Allerdings gibt es Ausnahmen: Manche Unternehmen sehen die Möglichkeit, die Bürofläche zu verkleinern und auf diese Weise Kosten zu sparen, doch überwiegt die Vorstellung, nur wer anwesend sei und jederzeit angesprochen werden könne, sei ein produktiv Arbeitender.
Die Digitalisierung führt schon heute zu einer Vielzahl von Überwachungsmaßnahmen, die nur nach Maßgabe des Datenschutzrechts zulässig sind: Im Betrieb werden Videokameras angebracht, die zB Kundendiebstähle vermeiden sollen, aber auch zur Kontrolle der Beschäftigten eingesetzt werden können; mit Hilfe von GPS wird das Fahrverhalten von Außendienstmitarbeitern erfasst und ausgewertet; mit Hilfe von radio-frequency identification-(RFID-) Chips wird der Warenfluss innerhalb des Unternehmens nachverfolgt; E-Mails werden vom Vorgesetzten gelesen, ohne dass der Beschäftigte davon etwas erfährt; insb in Call-Centern werden Telefongespräche aufgezeichnet und im Hinblick darauf ausgewertet, inwieweit bestimmte Schlüsselwörter im Gespräch mit Anrufern benutzt wurden. Zu allen diesen und vielen weiteren Fragen gibt es Auseinandersetzungen über die Grenzen des rechtlich Zulässigen. Sie werden zunächst in der Wissenschaft geführt. Einzelne Beiträge nehmen dabei künftige Probleme vorweg – so im Falle der Nutzung von Wearables (Datenbrille, Smart Watch und vieles mehr)* und von Robotern und anderen lernenden Systemen.* Die datenschutzrechtliche Beurteilung führt meist zu akzeptablen Ergebnissen, die übermäßige Eingriffe in die Persönlichkeitssphäre vermeiden. Dazu kommt, dass dem BR in fast allen Fällen ein Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs 1 Nr 6 BetrVG zusteht. Zwei Bereiche sind allerdings derzeit noch nicht ausreichend bewältigt.
Beschäftigtendaten finden sich häufig im Internet. Dies kann vom AG veranlasst sein und der Präsentation des Unternehmens dienen, aber auch darauf beruhen, dass der Beschäftigte aus dienstlichen Gründen in sozialen Netzwerken aktiv ist. Verbreitet sind Bewertungsportale zB in Bezug auf Ärzte, Lehrer und Professoren – bei ihnen kann der Beschäftigte durch unsachliche und beleidigende Kritik in seinem Persönlichkeitsrecht verletzt werden. Kommt ein Gericht zu dem Ergebnis, dass eine bestimmte Aussage aus dem Netz entfernt werden muss, so stellt sich das Problem, wie dies gegenüber im Ausland ansässigen Verbreitern durchgesetzt werden kann. Dazu kommt, dass das Internet nichts vergisst. Man kann zwar den Betreiber einer Suchmaschine verpflichten, nicht mehr auf bestimmte unrichtige oder überholte Informationen hinzuweisen,* doch bleiben diese gleichwohl zB im Archiv eines Presseorgans weiter zugänglich. Den Gedanken, Websites oder einzelne Teile mit einem Verfallsdatum zu verweisen, bei dessen Überschreitung eine automatische Löschung erfolgt,* ist bisher nicht weiterverfolgt worden. 75
Die zweite Problematik rankt sich um den Begriff „Big Data“. Durch Erfassung und Auswertung einer außerordentlich großen Zahl von Daten wird ein Algorithmus erarbeitet, an dem sich dann Bewerber und Beschäftigte messen lassen müssen. So wird etwa davon berichtet, dass ein derartiges Programm ua die Empfehlung enthält, Personen, die fünf Jahre lang nicht befördert wurden und auch keine Gehaltserhöhung erhalten haben, aus dem Unternehmen zu entfernen, weil sie „ohne Entwicklungsperspektive“ seien.*69) Diese in den USA entwickelte Software lässt sich wegen ihrer Intransparenz schwer mit europäischem Datenschutzrecht vereinbaren. Außerdem bietet das Antidiskriminierungsrecht eine bislang wenig ausgelotete Korrekturmöglichkeit. Die Bindung des AG an die Diskriminierungsverbote des § 1 AGG verlangt, dass Umstände und Informationen, mit denen das System „gefüttert“ wird, unschwer zu ermitteln sein müssen, da sonst eine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung vorliegen könnte. Unterstellt, der Algorithmus gehe davon aus, dass Personen mit längerer Betriebszugehörigkeit beim früheren AG grundsätzlich die loyaleren Mitarbeiter seien, so werden Frauen und Zuwanderer benachteiligt, weil sie im Durchschnitt eine erheblich kürzere Dauer der Betriebszugehörigkeit aufweisen.*70) Ob solche diskriminierenden Regeln bei der Erarbeitung des Algorithmus eine Rolle spielten und in das verarbeitete „Material“ eingingen, ist für den einzelnen Bewerber oder AN in aller Regel nicht erkennbar. Die Möglichkeiten von Bewerbern und AN, sich gegen eine diskriminierende Behandlung zur Wehr zu setzen, werden dadurch faktisch ausgeschlossen. Fehlt die durch § 26 Abs 5 BDSG vorgeschriebene Transparenz, so stellt das ein Indiz für Diskriminierung nach § 22 AGG dar. Ebenso wird vom EuGH bei einem völlig intransparenten Lohnsystem verfahren.* Hier wie dort ist es Sache des AG, den Nachweis zu führen, dass das für den Aufbau und das „Training“ des Algorithmus verwendete Material keinen diskriminierenden Charakter hatte. Andernfalls wäre er gegenüber abgewiesenen Bewerbern zum Schadensersatz verpflichtet.
Wie viele Menschen in Deutschland Dienste erbringen, die von einer Plattform vermittelt werden, und wie viele als Crowdworker arbeiten, lässt sich auf der Grundlage der vorhandenen Studien nicht verlässlich bestimmen.* Die Zahl derjenigen, für die diese Form von Arbeit die Haupteinnahmequelle darstellt, dürfte sich auf weniger als 1 % der Erwerbspersonen belaufen. Dennoch ist man sich einig, dass die Arbeit für Plattformen zunimmt und dass sich diese Zunahme in Zukunft schneller als in der Gegenwart vollziehen kann.
Von zentraler Bedeutung ist die Frage, unter welchen Voraussetzungen solche Beschäftigte als AN angesehen werden können und damit dem Arbeitsrecht unterfallen. Das BAG* hat für eine bestimmte Konstellation ein Arbeitsverhältnis angenommen. Im konkreten Fall ging es darum, dass der Beschäftigte kontrollieren sollte, ob Werbeplakate in TankTankstellen und Einzelhandelsgeschäften auch wirklich ausgehängt wurden. Den einzelnen Auftrag konnte er ablehnen; soweit er ihn akzeptierte, hatte er gewisse zeitliche Spielräume. Je mehr er Aufträge erledigte, umso besser wurden die Angebote: Er konnte gegebenenfalls zeitsparende Touren zusammenstellen, die ihm mehr Entgelt brachten. Diese Anreize wurden vom BAG im Vergleich zum Ablehnungsrecht und dem zeitlichen Spielraum als gewichtiger angesehen, weshalb das Gericht ein Arbeitsverhältnis iSd § 611a BGB annahm.* Wie viele Plattformbeschäftigte auf diese Weise unter das Arbeitsrecht fallen, ist nicht sicher zu bestimmen, doch wird der Anteil beträchtlich sein.
Soweit kein Arbeitsverhältnis vorliegt, sind die Arbeitenden häufig als „Arbeitnehmerähnliche Personen“ zu qualifizieren, was nach deutschem Recht voraussetzt, dass sie zwar formal selbständig sind und ihre Arbeit nach eigenen Vorstellungen organisieren können, dass sie aber wirtschaftlich im Wesentlichen von einem Auftraggeber abhängig sind. Dies hat zur Folge, dass zahlreiche arbeitsrechtliche Vorschriften, wie zB das Arbeitsschutz-, das Urlaubs- und das Datenschutzrecht, anwendbar sind und auch Tarifverträge für diese Beschäftigtengruppe abgeschlossen werden können. Nicht einbezogen ist jedoch das Mindestlohngesetz, das Kündigungsschutzrecht und das Betriebsverfassungsrecht, also drei Materien, die im Alltag eines Beschäftigten von zentraler Bedeutung sind. Fehlt es an der wirtschaftlichen Abhängigkeit, so finden praktisch keine arbeitsrechtlichen Normen Anwendung.
Relativ wenig Aufmerksamkeit hat die Frage gefunden, welche Gerichte zuständig sind und welches Recht anwendbar ist, wenn die Plattform oder ein anderer Auftraggeber im Ausland angesiedelt ist. Handelt es sich um einen AN, sind die Dinge klar: Nach Art 21 Abs 2 der VO (EU) 1215/2012 kann er vor dem Gericht klagen, in dessen Bezirk er gewöhnlich seine Arbeit verrichtet. Der gewöhnliche Arbeitsort ist nach Art 8 Abs 2 Rom I-VO auch für das anwendbare Recht maßgebend. Diese Grundsätze sollten auch für arbeitnehmerähnliche Personen gelten,* doch ist insoweit keine Rsp ersichtlich. Bei Selbständigen wäre auch die Vereinbarung eines ausländischen Gerichtsstands und einer ausländischen Rechtsordnung möglich, was faktisch jeden effektiven Rechtsschutz unmöglich machen würde. 76
Wenn es um die Rettung des Klimas und die Bewahrung der Umwelt geht, stehen Gewerkschaften und Betriebsräte nach allgemeiner Wahrnehmung nicht in vorderster Front. Schaut man ein wenig näher hin, findet man jedoch Überraschendes. So liest man in einem Buch aus dem Jahr 1972:
„Die Zerstörung des ökologischen Gleichgewichts wird durch das bisher kaum in Frage gestellte Prinzip der Gewinnmaximierung gefördert. Die zusätzliche Verwendung von chemischen Mitteln in der Landwirtschaft macht sich zum Beispiel privatwirtschaftlich bezahlt, weil ein Teil der damit verbundenen Umweltkosten auf Dritte oder auf die Gesellschaft insgesamt abgewälzt werden. Die qualitative Beeinträchtigung von Umweltgütern lässt sich in der bisher üblichen Wirtschaftsrechnung nicht in Marktwerten oder Geldeinheiten ausdrücken.“
Und an anderer Stelle heißt es im selben Band:
„Die Menschheit muss lernen, mit den begrenzten Hilfsquellen des Raumschiffs Erde sorgsam und im Blick auf das wirtschaftliche Nord-Süd-Gefälle und die Bedürfnisse künftiger Generationen umzugehen. Dies erfordert Umweltplanung im Weltmaßstab.“
Die Zitate sind einem Buch entnommen, das unter dem Titel „Umwelt“ Referate wiedergibt, die auf der internationalen Arbeitstagung der IG Metall vom 11. bis 14.4.1972 in Oberhausen gehalten wurden.* Im selben Jahr erschien das Grundsatzwerk des Club of Rome über die Grenzen des Wachstums, das die weitere umweltpolitische Diskussion nachhaltig beeinflusste.*
Macht man einen Sprung von 13 Jahren und schaut in die WSI-Mitteilungen von 1985, so stößt man auf das Dezember-Heft mit dem Titel „Umweltschutz und Gewerkschaften“. Auch dort findet man Überlegungen auf der Höhe der Zeit: „Umweltschutz und qualitatives Wachstum“, „Umweltschutz und regionale Beschäftigungspolitik“ und „Mehr Markt im Umweltschutz? – Instrumente der Umweltpolitik und ihre Wirksamkeit“.
In beiden Quellen entdeckt man jedoch keine Überlegungen dazu, wie die traditionellen Handlungsmöglichkeiten von Gewerkschaften und Betriebsräten für umweltpolitische Ziele eingesetzt werden könnten: Die Praxis ist allenfalls Ausgangspunkt für Kritik, kein Feld für Handlungskonzepte. Untersucht werden lediglich die Arbeitsbedingungen in der Nuklearindustrie, wo öffentlich-rechtliche Sicherheitsanforderungen den Vorrang vor Mitbestimmungsrechten beanspruchen. Es dauerte bis zum Ende der 1980er-Jahre, ehe die betriebliche Ebene erreicht wurde. Dies betraf nicht nur die wissenschaftliche Diskussion.* In der chemischen Industrie wurden in diesem Zeitraum über 30 Betriebsvereinbarungen abgeschlossen, die umweltfreundliches Wirtschaften zum Gegenstand hatten.* Bis 1992 war ihre Zahl auf über 50 angestiegen; im Jahr 1999 erbrachte eine Auswertung insgesamt 63 einschlägige Gesamt- und Einzelbetriebsvereinbarungen.* Die Nachwirkungen der Katastrophe von Seveso und die Rheinverschmutzung dürften wichtige Auslöser gewesen sein.
Die BetrVG-Reform 2001 unternahm erstmals den Versuch, eine Brücke zwischen Umweltschutz und traditioneller Vertretung von AN-Interessen zu schlagen. Die in das Gesetz eingefügten Vorschriften waren zahlreich, haben in der Folgezeit aber eher ein Schattendasein geführt.
Der BR hat die Aufgabe, den betrieblichen Umweltschutz zu fördern; zugleich steht ihm das Recht zu, alle hierfür notwendigen Informationen vom AG zu erhalten. „Umweltpolitik“ ist auch ein zulässiges Diskussionsthema in der Betriebsversammlung. Der (vom BR gewählte) Wirtschaftsausschuss ist „rechtzeitig und umfassend“ vom AG zu informieren. Bei der Neugestaltung von Arbeitsplätzen und Arbeitsprozessen muss bei Bedarf auch der betriebliche Umweltschutz ein Thema sein.
Es ist nicht ersichtlich, dass von allen diesen „Diskursrechten“ in der jüngeren Vergangenheit in relevantem Umfang Gebrauch gemacht worden wäre. Auch sind keine Gerichtsentscheidungen bekannt geworden, die sich mit der Existenz und Auslegung einer freiwilligen BV zum Umweltschutz befasst hätten. Dass in gut zwanzig Jahren keinerlei Streitfälle aufgetaucht wären, gäbe es solche Abmachungen in größerer Zahl, erscheint eher unwahrscheinlich. Es liegt nahe, die Gründe für die Nichtausschöpfung der Rechte darin zu sehen, dass der Diskurs ein höchst einseitiger ist: Die ungeschmälerte Entscheidungsbefugnis verbleibt beim AG, der BR kann nur argumentieren und appellieren, aber keinerlei Kompromisse erzwingen. Dies wirkt entmutigend auch für solche Betriebsratsmitglieder, die den Umweltschutz in ihrer eigenen Praxis ernst nehmen wollen. Warum sich engagieren, wenn die besten Vorschläge unter den Teppich gekehrt werden können?
Dem BR steht es frei, seine auf andere Gegenstände bezogenen Mitbestimmungsrechte auch für umweltpolitische Zwecke zu nutzen. Die Verbesserungen, die der BR auf diesem Wege erreichen kann, sind allerdings von sehr beschränkter Tragweite. Die relativ größten Möglichkeiten bietet § 87 Abs 1 Nr 7 BetrVG: Zahlreiche Normen des Umweltschutzes schützen zugleich Leben und Gesundheit 77 der Beschäftigten; Umwelt- und Arbeitsschutz sind mit zwei sich schneidenden Kreisen vergleichbar. Am klarsten ist dies im Störfallrecht herausgearbeitet worden. Soweit die Störfall-VO Spielräume lässt, können diese im Wege der Mitbestimmung ausgefüllt werden. So sieht etwa ihr § 10 Abs 3 die Erstellung von internen Alarm- und Gefahrenabwehrplänen vor, die an die jeweiligen betrieblichen Verhältnisse angepasst sein müssen. Die in dem betroffenen Betriebsbereich beschäftigten AN sind vorher anzuhören – so die ausdrückliche Anordnung in § 10 Abs 3. Dies wäre sinnlos, gäbe es insoweit keine inhaltlichen Spielräume. Die Erschließung des „Gefahrenwissens“ der Beschäftigten ergänzt in höchst nützlicher Weise das Mitbestimmungsrecht des BR über den Gesundheitsschutz nach § 87 Abs 1 Nr 7 BetrVG.
Die Mitbestimmung über die Verwaltung von Sozialeinrichtungen nach § 87 Abs 1 Nr 8 BetrVG kann insb im Zusammenhang mit der Kantine praktische Bedeutung gewinnen. Das vegetarische und das vegane Essen werden in den Speiseplan aufgenommen, Plastikgeschirr und Plastikbesteck sind als „Wegwerfartikel“ tabu. Von § 87 Abs 1 Nr 10 BetrVG wird das Job-Ticket erfasst, wobei der finanzielle Gesamtaufwand allein vom AG bestimmt wird. Zielvereinbarungen, die sich in der Höhe der Vergütung niederschlagen und die deshalb unter § 87 Abs 1 Nr 10 oder 11 BetrVG fallen, können auch ökologische Ziele zum Gegenstand haben.
Das der Mitbestimmung nach § 87 Abs 1 Nr 12 BetrVG unterliegende „betriebliche Vorschlagswesen“ kann zahlreiche Maßnahmen zum Gegenstand haben, die dem Klima- und Umweltschutz dienen: geringerer Ressourcenverbrauch, weniger Abfall, geringere Emissionen durch Verbesserung der Filteranlagen – um nur einige wichtige Anwendungsfälle zu nennen. Die Mitbestimmung bezieht sich allerdings nur auf das Verfahren, nicht auf die Existenz und Höhe einer eventuellen Vergütung, die einzelne Beschäftigte oder Arbeitsgruppen für ihre innovativen Ideen erhalten können. Die Entscheidungskompetenz darüber, was geschehen soll, bleibt beim AG.
Könnte man Mitbestimmungsrechte über umweltrelevante Maßnahmen durch BV oder Tarifvertrag schaffen? Rechtlich bestehen hier keine Bedenken, da nach der Rsp des BAG auf diesem Wege zusätzliche Mitbestimmungsrechte geschaffen werden können.* Insoweit gibt es kaum Vorbilder, was damit zusammenhängt, dass ein solcher Tarifvertrag typischerweise nur durch Streikdrohung oder durch Streik durchgesetzt werden kann, für eine solche Aktion aber bei den allermeisten Beschäftigten die bewusstseinsmäßigen Voraussetzungen fehlen.* In Betracht könnte ein gesetzliches Mitbestimmungsrecht kommen, das ein Initiativrecht umfasst, umwelt- und klimafreundlichere Maßnahmen vorzuschlagen und notfalls mit Hilfe der Einigungsstelle durchzusetzen. Ein entsprechender Vorschlag findet sich in dem „Gesetzentwurf für ein modernes Betriebsverfassungsgesetz“, den der DGB im Frühjahr 2022 der Öffentlichkeit übergeben hat.*
Mitbestimmungsrechte stellen eine Einschränkung der unternehmerischen Freiheit dar, die nach der Rsp des Bundesverfassungsgerichts im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsprinzips gerechtfertigt ist. So kann etwa die Mitbestimmung über Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit nach § 87 Abs 1 Nr 2 BetrVG dazu führen, dass im Einzelhandel die Öffnungszeiten beschränkt werden, was vom BAG* und vom BVerfG* als verfassungsgemäß bestätigt wurde.
Die Erstreckung der Mitbestimmung auf den betrieblichen Umweltschutz bringt im Vergleich zu der vom BVerfG entschiedenen Konstellation eher weniger weitgehende Eingriffe mit sich. Dabei ist zunächst der allgemeine Rahmen in Erinnerung zu rufen: Nicht anders als bei der Arbeitszeit geht es nicht um ein Vetorecht, sondern um ein Verfahren, das den BR zum gleichberechtigten Partner macht und das im Konfliktfalle die Einigungsstelle entscheiden lässt. Diese hat ihrerseits ein gebundenes Mandat, weil sie nach § 76 Abs 5 Satz 3 BetrVG ihre Beschlüsse „unter angemessener Berücksichtigung der Belange des Betriebs und der betroffenen Arbeitnehmer“ nach billigem Ermessen treffen muss. Dies bedeutet zugleich, dass dem Unternehmen keine wirtschaftlich unzumutbaren Belastungen auferlegt werden dürfen. Im vorliegenden Zusammenhang kommt hinzu, dass es sich um ein auf einen bestimmten Zweck hin ausgerichtetes Mitbestimmungsrecht handelt: Eine AG-Entscheidung kann auch unter Wahrung des § 76 Abs 5 Satz 3 BetrVG nicht einfach durch eine abweichende Entscheidung der Einigungsstelle ersetzt werden. Vielmehr geht es allein darum, einen wenig wirksamen durch einen wirksameren Weg zu mehr Umwelt- und Klimaschutz zu ersetzen. Diese spezifische Zielsetzung findet eine ausdrückliche Legitimation durch Art 20a GG, wonach der Gesetzgeber den Auftrag hat, alle ihm sachgerecht erscheinenden Maßnahmen zu treffen, um die natürlichen Lebensgrundlagen zu erhalten und auch künftigen Generationen ein Leben in Freiheit und Würde zu ermöglichen.* Dazu kann auch ein Mitbestimmungsrecht gehören. 78
In den vorangegangenen Teilen wurde immer wieder darauf hingewiesen, wo die aktuellen Linien der Auseinandersetzung verlaufen. Die größten Defizite liegen in der „Ausgliederung“ der Randbelegschaften und in den fehlenden Mechanismen, um die arbeitsrechtlichen Normen auch in der Praxis wirksam werden zu lassen. Beides abzumildern oder aufzuheben, erfordert sehr große Anstrengungen, wobei der zweite Punkt die geringeren Schwierigkeiten bereiten sollte.* Die anschließend geschilderten Herausforderungen durch Globalisierung, Digitalisierung sowie Umwelt- und Klimakrise kommen hinzu und verschärfen die unter 2. genannten Probleme. Dennoch bleibt ein beträchtliches Maß an Schutz, was nicht zuletzt ein Vergleich mit der Situation in den USA deutlich macht.
Könnte man sich eine Zukunft vorstellen, die viele der Krankheiten vermeidet, unter denen das Arbeitsrecht in der Gegenwart leidet? Ein schönes Gemälde zu malen, reicht nicht aus. Man muss sich Gedanken über die Rahmenbedingungen machen, die bei einem solchen Weg des Fortschritts zu beachten wären. Ich konzentriere mich dabei im Wesentlichen auf den parlamentarischen Prozess, weil sich Reformvorstellungen in Deutschland typischerweise an den Gesetzgeber richten. Dabei scheinen mir zwei Probleme besonders bedeutsam zu sein.
Das eine ist die Auswahl der Entscheidungsträger. Gewählt wird, wer eine gute Fähigkeit zur Selbstdarstellung hat. Das ist keine schlechte Eigenschaft, aber sie sagt wenig darüber aus, ob die fragliche Person auch inhaltlich über gute Ideen verfügt, ob sie weiß, wie unsere Gesellschaft funktioniert, was man erreichen und was man nicht erreichen kann. Die Argumente in Talkshows lassen sich von guten (und teuren) Werbeberatern lernen, und auch die Fähigkeit, andere möglichst nicht ausreden zu lassen, wird einem Kandidaten beigebracht (oder er verfügt von Natur aus über diese Eigenschaft). Werden solche Menschen gewählt und kommen sie in Regierungsämter, so hängt alles davon ab, ob und durch wen sie sich beraten lassen. Das ist oft ein subjektives Problem, denn der Lebenserfolg scheint doch zu zeigen, dass man letztlich fast alles weiß und richtig beurteilen kann. Warum soll man einen Rat von Leuten annehmen, die es sehr viel weniger weit gebracht haben? Dazu kommt dann der aus der Wirtschaft bekannte Effekt: Die Umgebung traut sich nicht mehr, grundlegende Dinge in Frage zu stellen, weil dies der eigenen Karriere einen Knick verpassen könnte.
Der zweite Punkt ist aber sehr viel wichtiger. Die politischen Entscheidungsträger handeln nicht in einem Raum der vollen Freiheit. Sie sind eingebunden in ihre Parteien und deren grundsätzliche Ausrichtung; hier auszuscheren ist schwer möglich. Es droht zumindest eine schlechte Presse als „Abweichler“, die Kolleginnen und Kollegen gehen mehr oder weniger auf Distanz, mittelfristig ist die Wiederwahl gefährdet. Doch wie steht es damit, wenn eine ganze Organisation aus dem Ruder laufen würde? Unterstellen wir, eine Partei würde ernsthaft in der Unternehmensmitbestimmung das Zweitstimmrecht des Vorsitzenden und die Vertretung der leitenden Angestellten im Aufsichtsrat abschaffen wollen, um so echte Parität zwischen Arbeit und Kapital herzustellen. Oder sie würde – aus meiner Sicht vorzuziehen – bestimmte Unternehmerentscheidungen davon abhängig machen, dass sich im Aufsichtsrat eine Zwei-Drittel- oder eine Drei-Viertel-Mehrheit für sie ausspricht. Was würde in einem solchen Fall geschehen?
Wenn der Vorschlag von einer kleinen Oppositionspartei käme, würde man ihn schlicht nicht zur Kenntnis nehmen, man kann auch sagen: totschweigen. Wenn es eine Regierungspartei sagen würde, wären die Dinge komplizierter. Vertreter von Großunternehmen würden vermutlich zunächst Gespräche mit wichtigen Repräsentanten der Partei führen, um herauszubekommen, ob das denn wirklich ernst gemeint sei. Wäre dies so, würde man zunächst einmal jede Form von Parteispenden stoppen. Die überregionale Presse würde zahlreiche Kommentare veröffentlichen, dass eine solche Struktur die deutschen Unternehmen entscheidungsunfähig mache; im Wettbewerb hätten sie keine Chance mehr. Plötzlich würde sich die Aufmerksamkeit auf alle realen oder scheinbaren VW-Skandale konzentrieren, denn dort wird ja eine solche Mitbestimmung praktiziert. Die amerikanischen Rating-Agenturen würden Presseerklärungen abgeben, dass das gute Rating der Bundesrepublik unter solchen Umständen bei der nächsten Überprüfung keinen Bestand mehr hätte.* Und es würden sich Journalisten finden, die sich für alle Einzelheiten aus dem Leben der führenden Vertreter dieser Partei interessieren: Die teilweise abgeschriebene Dissertation wäre da ein dankbares Thema, die Tätigkeit als Finanz- oder Wirtschaftsminister in einem Bundesland vielleicht ein noch viel besseres. Man würde „Leichen im Keller“ finden, notfalls auch erfinden, um so die Akzeptanz der Person bei der Bevölkerung zu reduzieren, vielleicht sogar zu zerstören.
Wie wird die Partei in dieser Situation reagieren? Gegenüber einem solchen Trommelfeuer wird sie kaum Widerstand leisten können. Sollen wir alle 79unsere guten anderen Projekte nur wegen dieser einen Sache aufs Spiel setzen? Man würde den Sprechern der Großunternehmen informell zusagen, das Gesetzgebungsprojekt nicht weiter zu verfolgen. Es formal fallen zu lassen, käme bei den eigenen Unterstützern nicht gut an – also ließe man es lieber im Sande verlaufen.
Was würde geschehen, wenn ein solches „Einknicken“ entgegen aller Erfahrung nicht passieren würde? Wenn die milderen Mittel nicht funktionieren, würden die Herrschenden die stärkeren einsetzen. In der Ära Willy Brandt gab es zB Stimmen aus dem Unternehmerlager, die damit drohten, keine Lehrlinge mehr auszubilden, und andere verwiesen darauf, man könne ja auch im Ausland investieren, wo man diesen „Mitbestimmungskram“ nicht befürchten müsse.
Wir leben nicht in einer „liberalen“ Demokratie, wo nur das bessere Argument zählt. Wir leben in einer Gesellschaft, in der es Machtverhältnisse gibt. Bundeskanzlerin Merkel hat dies einmal mit der Formel von der „marktkonformen“ Demokratie umschrieben. Das ist zwar nicht die Demokratie des Grundgesetzes, ganz und gar nicht, aber es ist die reale Demokratie der Bundesrepublik in der Gegenwart. Wenn man Vorschläge macht, die so tun, als würden wir in einer Demokratie des herrschaftsfreien Dialogs leben, dann kann dies sinnvoll sein, um den Widerspruch zwischen dem Grundgesetz und der Realität aufzudecken. Wenn man es allerdings tut, weil man denkt, man könne die eigenen Vorschläge tatsächlich durchsetzen, weil doch alles so schön eingerichtet sei in unserer Gesellschaft, dann ist das wie ein Wunschzettel an den Weihnachtsmann. Es vertieft dann Illusionen über die wirklichen Handlungsmöglichkeiten.
Was bleibt, ist der Rückgriff auf die eigene Kraft der Gewerkschaften. Sie brauchen „einen massiven Aufbruch für (praktische) Mitbestimmung bis hin zur Herausbildung größerer betrieblicher Konfliktfähigkeit und Durchsetzungskraft“ – so die Zweite Vorsitzende der IG Metall.* Dieselbe Mobilisierung, die bei Tarifrunden stattfinde, müsse auch bei Auseinandersetzungen um die Mitbestimmung möglich sein. Dazu müssen weitere Kräfte kommen, die sich für die Mitbestimmung und ein besseres Arbeitsrecht einsetzen: Journalisten, Künstler, politisch engagierte Rechtsanwälte. Und es mag auch die eine oder andere Partei geben, deren Führung in das Parteiprogramm schaut, wo die Mitbestimmung in der Regel eine sehr positive Erwähnung findet.* Kluge Leute sollten Fälle bekannt machen, in denen die Mitbestimmung Schlimmes verhütete oder umgekehrt die fehlende Mitbestimmung zu Lasten der Betroffenen ging. Dabei sind konkrete Beispiele immer überzeugender als statistische Aussagen, wonach beispielsweise mitbestimmte Betriebe produktiver als nicht mitbestimmte seien. Würden wir denn die Mitbestimmung aufgeben, wenn sich das Gegenteil als richtig herausstellen sollte? Durch Zusammenwirken aller Kräfte, die eine bessere Stellung der abhängig Beschäftigten unterstützen, müsste eine gesamtgesellschaftliche Situation geschaffen werden, die der des Jahres 1971 vergleichbar ist: Für die Mehrheit im Parlament müsste eine Reform des Arbeitsrechts und eine Ausweitung der Mitbestimmung das beste Mittel sein, um die eigene Wiederwahl zu sichern.
Die Reaktionen des Westens auf Russlands Ukraine- Krieg tragen das Potential in sich, die bisherige Basis der Arbeitsbeziehungen zu erschüttern. Dauerhaft hohe Energiepreise belasten nicht nur das AN-Budget, sondern führen auch zu Produktionsverlagerungen in Länder wie die USA, die über sehr viel günstigere Rahmenbedingungen verfügen. Dies kann zu einem erheblichen Stück Deindustrialisierung führen, zumal kleinere Unternehmen nicht zu einer Verlagerung in der Lage sind und deshalb ihr Geschäft aufgeben müssen. Wegen des durch jahrzehntelange Sparpolitik geschwächten Bildungssystems ist Deutschland nicht in der Lage, einen schnellen Ausgleich durch Innovationen auf anderen Gebieten zu schaffen.
Die Gefahr ist nicht von der Hand zu weisen, dass durch Abbau arbeitsrechtlicher Schutznormen der entstandene Wettbewerbsnachteil gemindert werden soll. Für die abhängig Beschäftigten, ihre Organisationen und ihre Unterstützer wird es (wieder einmal) darum gehen, nicht zu neuen Ufern aufzubrechen, sondern für die Erhaltung des Bestehenden zu kämpfen. 80