2Zeiten der Kindererziehung in einem anderen Mitgliedstaat – eine Herausforderung für die Praxis
Zeiten der Kindererziehung in einem anderen Mitgliedstaat – eine Herausforderung für die Praxis
Art 44 der VO (EG) 987/2009, der die Anrechnung von Kindererziehungszeiten regelt, ist nicht abschließend; daneben sind auch noch die darüber hinausgehenden Verpflichtungen aus dem AEUV zu beachten.
Hat eine Person sowohl vor als auch nach der Kindererziehung im Ausland ausschließlich in Österreich gearbeitet, dann muss Österreich diese Zeiten anrechnen.
[...]
18 Die Kl des Ausgangsverfahrens, CC, ist eine im Jahr 1957 geborene österreichische Staatsbürgerin. 19 Nachdem die Kl des Ausgangsverfahrens bis zum 30.9.1986 eine selbständige Erwerbstätigkeit in Österreich ausgeübt und anschließend ein Studium im Vereinigten Königreich absolviert hatte, zog sie Anfang November 1987 nach Belgien, wo sie am 5.12.1987 und am 23.2.1990 zwei Kinder zur Welt brachte. Danach lebte sie vom 5. bis 31.12.1991 in Ungarn und vom 1.1. bis 8.2.1993 im Vereinigten Königreich.
20 Zwischen dem 5.12.1987 und dem 8.2.1993 widmete sich die Kl des Ausgangsverfahrens der Erziehung ihrer Kinder, ohne eine Beschäftigung auszuüben, ohne Versicherungszeiten zu erwerben und ohne Leistungen für die Erziehung ihrer Kinder zu beziehen.
21 Am 8.2.1993 kehrte sie nach Österreich zurück und übte dort eine selbständige Erwerbstätigkeit aus.
22 Von Februar 1993 bis Februar 1994 widmete sich die Kl des Ausgangsverfahrens 13 Monate lang der Erziehung ihrer Kinder in Österreich, unterlag jedoch der Pflichtversicherung und entrichtete Beiträge zum österreichischen Sozialversicherungssystem. Anschließend arbeitete sie in diesem Mitgliedstaat bis zu ihrem Eintritt in den Ruhestand und entrichtete Beiträge. [...]
25 Die Kl [...] erhob gegen [... den PVA- ...] Bescheid Klage beim Arbeits- und Sozialgericht Wien (Österreich) und machte geltend, da sie vor den Kindererziehungszeiten, die sie zwischen dem 5.12.1987 und dem 31.12.1991 in Belgien und Ungarn absolviert habe, in Österreich sozialversichert gewesen sei, seien diese Zeiten bei der Berechnung ihrer österreichischen Altersrente ebenfalls als Ersatzzeiten zu berücksichtigen. Andernfalls liege ein Verstoß gegen Art 21 AEUV in seiner Auslegung durch die Rsp des Gerichtshofs vor. [...]
34 Vor diesem Hintergrund hat der OGH beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist Art 44 Abs 2 der VO 987/2009 dahin auszulegen, dass er der Berücksichtigung von in anderen Mitgliedstaaten verbrachten Kindererziehungszeiten durch einen für die Gewährung einer Alterspension zuständigen Mitgliedstaat, nach dessen Rechtsvorschriften die Pensionswerberin mit Ausnahme dieser Kindererziehungszeiten ihr gesamtes Erwerbsleben hindurch eine Beschäftigung oder eine selbständige Erwerbstätigkeit ausgeübt hat, schon deshalb entgegensteht, weil diese Pensionswerberin zu dem Zeitpunkt, zu dem die Berücksichtigung der Kindererziehungszeit für das betreffende Kind nach den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats begann, weder eine Beschäftigung noch eine selbständige Erwerbstätigkeit ausgeübt hat?
Für den Fall der Verneinung der ersten Frage:
2. Ist Art 44 Abs 2 S 1 erster Halbsatz der VO 987/2009 dahin auszulegen, dass der gemäß Titel II der VO 883/2004 zuständige Mitgliedstaat Kindererziehungszeiten nach seinen Rechtsvorschriften generell nicht berücksichtigt, oder nur in einem konkreten Fall nicht berücksichtigt?
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Frage [...]
38 Die erste Frage ist [...] so zu verstehen, dass mit ihr im Wesentlichen geklärt werden soll, ob Art 44 Abs 2 der VO 987/2009 dahin auszulegen ist, dass, wenn die betreffende Person die in dieser Bestimmung aufgestellte Voraussetzung der Ausübung einer Beschäftigung oder selbständigen Erwerbstätigkeit für die Berücksichtigung von in anderen Mitgliedstaaten zurückgelegten Kindererziehungszeiten bei der Gewährung einer Altersrente 33 durch den zur Zahlung dieser Rente verpflichteten Mitgliedstaat nicht erfüllt, dieser Mitgliedstaat dennoch nach Art 21 AEUV verpflichtet ist, diese Zeiträume zu berücksichtigen.
39 Insoweit ist erstens zu prüfen, ob Art 44 der VO 987/2009 die Berücksichtigung von in verschiedenen Mitgliedstaaten zurückgelegten Kindererziehungszeiten abschließend regelt. Ist dies nämlich der Fall, können solche Zeiten nur nach dieser Bestimmung berücksichtigt werden, so dass Art 21 AEUV keine Anwendung findet. Sollte hingegen Art 44 der VO 987/2009 dahin auszulegen sein, dass es sich nicht um eine abschließende Regelung handelt, kann nicht von vornherein ausgeschlossen werden, dass die im Urteil vom 19.7.2012, Reichel-Albert (C-522/10, EU:C:2012:475), begründete Rsp, wonach ein Mitgliedstaat die von der betreffenden Person in einem anderen Mitgliedstaat zurückgelegten Kindererziehungszeiten nach Art 21 AEUV berücksichtigen muss, auf einen Fall wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden übertragbar ist, der im Gegensatz zu dem Sachverhalt, der zu diesem Urteil geführt hat, in den zeitlichen Anwendungsbereich der VO 987/2009 fällt, in dem die betroffene Person aber nicht die in Art 44 Abs 2 dieser Verordnung aufgestellte Voraussetzung der Ausübung einer Beschäftigung oder selbständigen Erwerbstätigkeit erfüllt. [...]
41 Im vorliegenden Fall geht aus dem Wortlaut von Art 44 der VO 987/2009 nicht ausdrücklich hervor, ob diese Bestimmung die Berücksichtigung von in verschiedenen Mitgliedstaaten zurückgelegten Kindererziehungszeiten abschließend regelt. Es ist jedoch festzustellen, dass, wie die Kommission geltend gemacht hat, die in Abs 2 dieses Artikels vorgesehene Regelung, wonach auf die betreffende Person die Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats anwendbar sind, der gemäß Titel II der VO 883/2004 zuständig war, weil diese Person zu dem Zeitpunkt, zu dem die Berücksichtigung der Kindererziehungszeit nach diesen Rechtsvorschriften begann, in diesem Mitgliedstaat eine Beschäftigung oder eine selbständige Erwerbstätigkeit ausgeübt hat, eine Kodifizierung der Rsp des Gerichtshofs darstellt, die aus den Urteilen vom 23.11.2000, Elsen (C-135/99, EU:C:2000:647), und vom 7.2.2002, Kauer (C-28/00, EU:C:2002:82), hervorgegangen ist.
42 Auch wenn der Unionsgesetzgeber die in diesen Urteilen aufgestellten Prüfungskriterien eines „engen Zusammenhangs“ oder eines „hinreichenden Zusammenhangs“ zwischen den zurückgelegten Versicherungszeiten, die durch Ausübung einer Erwerbstätigkeit in dem Mitgliedstaat erworben wurden, in dem die betreffende Person eine Altersrente beantragt, und den Kindererziehungszeiten, die diese Person in einem anderen Mitgliedstaat zurückgelegt hat, nicht ausdrücklich übernommen hat, hätte die Anwendung der in Art 44 Abs 2 der VO 987/2009 aufgestellten Regel auf die betroffenen Personen in den Rechtssachen, in denen diese Urteile ergangen sind, dennoch zu der vom Gerichtshof in diesem Urteil gewählten Lösung geführt. Wie nämlich im Wesentlichen aus den Rn 25 bis 28 des Urteils vom 23.11.2000, Elsen [...], und den Rn 31 bis 33 des Urteils vom 7.2.2002, Kauer [...], hervorgeht, hat der Gerichtshof entschieden, dass ein solcher enger oder hinreichender Zusammenhang festgestellt werden konnte, weil diese Personen, die ausschließlich im zur Zahlung ihrer Altersrente verpflichteten Mitgliedstaat gearbeitet hatten, eine Erwerbstätigkeit im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats ausübten, als das Kind geboren wurde, und dass folglich die Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats für die Berücksichtigung der in einem anderen Mitgliedstaat zurückgelegten Kindererziehungszeiten bei der Gewährung einer solchen Rente anwendbar waren.
43 Im Übrigen konnten die Erkenntnisse aus dem Urteil vom 19.7.2012, Reichel-Albert[...], das zum Zeitpunkt des Inkrafttretens von Art 44 der VO 987/2009 noch nicht vom Gerichtshof verkündet worden war, beim Erlass dieser Verordnung nicht im Hinblick auf ihre etwaige Kodifizierung berücksichtigt werden.
44 Folglich ist Art 44 der VO 987/2009 in Anbetracht seines Wortlauts dahin auszulegen, dass er die Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten nicht abschließend regelt.
45 Diese Auslegung wird durch den Regelungszusammenhang dieser Bestimmung bestätigt.
46 Angesichts des Titels und des Kapitels der VO 987/2009, zu denen Art 44 dieser Verordnung gehört, nämlich Titel III („Besondere Vorschriften über die verschiedenen Arten von Leistungen“) und Kapitel IV, das die Bestimmungen zu „Leistungen bei Invalidität, Alters- und Hinterbliebenenrenten“ enthält, stellt diese Bestimmung nämlich eine Sondervorschrift für Rentenleistungen dar, die die Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten bei der Berechnung dieser Leistungen begünstigt. Zu diesem Zweck führt diese Bestimmung, wenn die Rechtsvorschriften des nach Titel II der VO 883/2004 zuständigen Mitgliedstaats diese Zeiten nicht berücksichtigen, eine lediglich subsidiäre Zuständigkeit eines Mitgliedstaats ein, der nach den allgemeinen Vorschriften nicht zuständig ist, sondern zu einem früheren Zeitpunkt deshalb zuständig war, weil die betreffende Person in diesem Mitgliedstaat zu dem Zeitpunkt, ab dem diese Zeiten nach dessen Rechtsvorschriften berücksichtigt werden können, eine Beschäftigung oder eine selbständige Erwerbstätigkeit ausübte.
47 Folglich enthält Art 44 der VO 987/2009 eine zusätzliche Regelung, die es ermöglicht, die Wahrscheinlichkeit der vollständigen Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten der betreffenden Personen zu erhöhen und somit eine Nichtanrechnung so weit wie möglich zu vermeiden. Diese Bestimmung kann daher nicht dahin ausgelegt werden, dass es sich um eine abschließende Regelung handelt. [...]
49 [... die VO 883/2004 strebt keine Harmonisierung an, allerdings müssen die Mitgliedstaaten bei der Ausübung ihrer nationalen Befugnisse das Unionsrecht beachten ...]
50 [... Wander-AN, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben, dürfen Vergünstigungen der sozialen Sicherheit nicht verlieren ...]
51 Daraus folgt, dass das Ziel, den Grundsatz der Freizügigkeit, wie er in Art 21 AEUV verankert ist, 34 zu wahren, auch im Rahmen der VO 883/2004 und 987/2009 gilt.
52 Es ist aber festzustellen, dass eine Auslegung, nach der Art 44 der VO 987/2009 die Berücksichtigung von in verschiedenen Mitgliedstaaten zurückgelegten Kindererziehungszeiten abschließend regelt, darauf hinausliefe, dass der rentenzahlungspflichtige Mitgliedstaat, in dem eine Person wie die Kl des Ausgangsverfahrens ausschließlich gearbeitet und Beiträge geleistet hat, und zwar sowohl vor als auch nach der Verlegung ihres Wohnsitzes in einen anderen Mitgliedstaat, in dem sie sich der Erziehung ihrer Kinder gewidmet hat, die Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten, die diese Person in diesem anderen Mitgliedstaat zurückgelegt hat, bei der Gewährung einer solchen Rente verweigern und diese folglich benachteiligen könnte, nur weil sie ihr Recht auf Freizügigkeit ausgeübt hat.
53 Eine solche Auslegung liefe daher den mit der VO 987/2009 verfolgten Zielen zuwider, insb was das Ziel betrifft, die Beachtung des Grundsatzes der Freizügigkeit zu gewährleisten, und könnte daher die praktische Wirksamkeit von Art 44 dieser Verordnung gefährden.
54 In diesem Zusammenhang genügt der Hinweis, dass nach der Rsp des Gerichtshofs bei verschiedenen möglichen Auslegungen einer Vorschrift des Unionsrechts derjenigen der Vorzug zu geben ist, die die praktische Wirksamkeit der Vorschrift zu wahren geeignet ist (Urteil vom 7.10.2010, Lassal, C-162/09, EU:C:2010:592, Rn 51).
55 Folglich ist Art 44 der VO 987/2009 in Anbetracht seines Wortlauts, des Zusammenhangs, in den er sich einfügt, und der Ziele, die mit der Regelung, zu der er gehört, verfolgt werden, dahin auszulegen, dass er die Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten, die ein und dieselbe Person in verschiedenen Mitgliedstaaten zurückgelegt hat, nicht abschließend regelt.
56 Zweitens ist zu prüfen, ob die Rsp, die auf das Urteil vom 19.7.2012, Reichel-Albert [...], zurückgeht, auf eine Situation wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende übertragen werden kann, in der die betreffende Person, obwohl die VO 987/2009 zeitlich anwendbar ist, nicht die Voraussetzung der Ausübung einer Beschäftigung oder selbständigen Erwerbstätigkeit nach Art 44 Abs 2 dieser Verordnung erfüllt, um die Berücksichtigung der von ihr in anderen Mitgliedstaaten zurückgelegten Kindererziehungszeiten bei der Gewährung einer Altersrente durch den rentenzahlungspflichtigen Mitgliedstaat zu erreichen. In der Rechtssache, in der dieses Urteil ergangen ist, hatte die betreffende Person zum Zeitpunkt der Geburt ihrer Kinder ihre Erwerbstätigkeit im rentenzahlungspflichtigen Mitgliedstaat aufgegeben und ihren Wohnsitz vo rüber gehend im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats begründet, in dem sie sich der Erziehung ihrer Kinder gewidmet und keine Beschäftigung oder selbständige Erwerbstätigkeit ausgeübt hatte. Diese Person war anschließend mit ihrer Familie in den ersten Mitgliedstaat zurückgekehrt und hatte dort wieder eine Erwerbstätigkeit aufgenommen.
57 Im Urteil vom 19.7.2012, Reichel-Albert[...], hat der Gerichtshof in den Rn 24 bis 29 zunächst festgestellt, dass die VO 987/2009 in einem solchen Fall in zeitlicher Hinsicht nicht anwendbar ist, und entschieden, dass unter diesen Umständen grundsätzlich die in der VO 1408/71 vorgesehenen Vorschriften anzuwenden sind.
58 Sodann hat der Gerichtshof in Rn 30 dieses Urteils festgestellt, dass die VO 1408/71 keine spezielle Regel enthält, die mit Art 44 der VO 987/2009 vergleichbar wäre, der die Berücksichtigung von in anderen Mitgliedstaaten zurückgelegten Kindererziehungszeiten regelt, und dass die Fragen des vorlegenden Gerichts dahin zu verstehen sind, dass mit ihnen Aufschluss darüber begehrt wird, ob Art 21 AEUV in einer Situation wie der in dieser Rechtssache in Rede stehenden dahin auszulegen ist, dass er die zuständige Einrichtung des rentenzahlungspflichtigen Mitgliedstaats dazu verpflichtet, bei der Gewährung einer Altersrente die von der betroffenen Person in einem anderen Mitgliedstaat zurückgelegten Kindererziehungszeiten zu berücksichtigen. In Rn 31 dieses Urteils hat der Gerichtshof festgestellt, dass für die Beantwortung dieser Frage zum einen zu prüfen ist, welcher Mitgliedstaat dafür zuständig ist, die von der betroffenen Person in einem anderen Mitgliedstaat der Erziehung ihrer Kinder gewidmeten Zeiten als eigentlichen Versicherungszeiten gleichgestellte Zeiten anzusehen oder anzuerkennen, und zum anderen, falls es sich um die Rechtsvorschriften des rentenzahlungspflichtigen Mitgliedstaats handeln sollte, ob die darin vorgesehenen Modalitäten der Anrechnung von Kindererziehungszeiten mit Art 21 AEUV vereinbar sind.
59 So hat der Gerichtshof zum einen in den Rn 35 und 36 des Urteils vom 19.7.2012, Reichel-Albert [...], festgestellt, dass, wenn eine Person ausschließlich in ein und demselben Mitgliedstaat gearbeitet und Beiträge gezahlt hat, und zwar sowohl vor als auch nach der Verlegung ihres Wohnsitzes in einen anderen Mitgliedstaat, in dem sie zu keiner Zeit gearbeitet oder Beiträge gezahlt hat, davon auszugehen ist, dass zwischen diesen Kindererziehungszeiten und den Versicherungszeiten, die aufgrund einer Berufstätigkeit im erstgenannten Mitgliedstaat zurückgelegt wurden, eine hinreichende Verbindung besteht, so dass für die Berücksichtigung und Anrechnung der von ihr zurückgelegten Kindererziehungszeiten bei der Gewährung einer Altersrente die Rechtsvorschriften dieses ersten Mitgliedstaats anwendbar sind.
60 Zum anderen hat der Gerichtshof zur Vereinbarkeit der in dieser Rechtssache anwendbaren Rechtsvorschriften mit Art 21 AEUV in den Rn 38 bis 40 dieses Urteils darauf hingewiesen, dass die Mitgliedstaaten zwar weiterhin für die Ausgestaltung ihrer Systeme der sozialen Sicherheit zuständig sind, dabei jedoch das Unionsrecht und insb die Bestimmungen des AEUV über die nach Art 21 AEUV gewährleistete Freizügigkeit beachten müssen. Außerdem hat der Gerichtshof festgestellt, dass in einem Fall wie dem in der Rechtssache, in der dieses Urteil ergangen ist, die nationalen Vorschriften zur Folge haben, dass die betroffene 35 Person, wenn sie während der Kindererziehungszeiten oder unmittelbar vor der Geburt ihrer Kinder keine Pflichtbeitragszeiten wegen einer ausgeübten Beschäftigung oder selbständigen Tätigkeit erworben hat, bei der Festsetzung ihrer Altersrente allein deshalb keinen Anspruch auf Berücksichtigung ihrer Kindererziehungszeiten besitzt, weil sie ihren Wohnsitz vorübergehend in einen anderen Mitgliedstaat verlegt hat, selbst wenn sie in diesem anderen Mitgliedstaat weder eine Beschäftigung noch eine selbständige Erwerbstätigkeit ausgeübt hat.
61 Schließlich hat der Gerichtshof in den Rn 41 bis 45 dieses Urteils entschieden, dass eine solche Person in dem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, weniger günstig behandelt wird, als wenn sie von den Erleichterungen, die ihr der AEUV in Bezug auf die Freizügigkeit gewährt, nicht Gebrauch gemacht hätte. Eine nationale Regelung, die bestimmte Inländer allein deshalb benachteiligt, weil sie von ihrem Recht Gebrauch gemacht haben, sich in einem anderen Mitgliedstaat frei zu bewegen und aufzuhalten, führt folglich zu einer Ungleichbehandlung, die den Grundsätzen widerspricht, auf denen der Status eines Unionsbürgers bei der Ausübung seiner Freizügigkeit beruht. Der Gerichtshof hat daraus den Schluss gezogen, dass in einem solchen Fall zum einen der von den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats vorgesehene Ausschluss der Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten, die außerhalb des Hoheitsgebiets des zuständigen Mitgliedstaats zurückgelegt wurden, gegen Art 21 AEUV verstößt und zum anderen diese Unionsrechtsvorschrift die für die Gewährung der Altersrente zuständige Einrichtung dieses Mitgliedstaats verpflichtet, Kindererziehungszeiten der betreffenden Person in einem anderen Mitgliedstaat bei der Berechnung dieser Rente zu berücksichtigen.
62 Da, wie sich aus Rn 55 des vorliegenden Urteils ergibt, Art 44 der VO 987/2009 die Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten im Ausland nicht abschließend regelt und, wie sich aus Rn 51 des vorliegenden Urteils ergibt, das Ziel, den Grundsatz der Freizügigkeit, wie er in Art 21 AEUV verankert ist, zu wahren, auch im Rahmen der VO 883/2004 und 987/2009 gilt, sind die Erkenntnisse aus dem Urteil vom 19.7.2012, Reichel-Albert[...], auf einen Fall wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden übertragbar, in dem die VO 987/2009 in zeitlicher Hinsicht anwendbar ist, die betroffene Person aber nicht die Voraussetzung der Ausübung einer Beschäftigung oder selbständigen Erwerbstätigkeit nach Art 44 Abs 2 dieser Verordnung erfüllt, um die Berücksichtigung der von ihr in anderen Mitgliedstaaten zurückgelegten Kindererziehungszeiten bei der Gewährung einer Altersrente durch den rentenzahlungspflichtigen Mitgliedstaat zu erreichen.
63 Außerdem ist der Sachverhalt des Ausgangsverfahrens, wie sich aus den Rn 22 bis 25 des vorliegenden Urteils ergibt, mit dem in Rn 56 des vorliegenden Urteils dargestellten Sachverhalt in der Rechtssache, in der das Urteil vom 19.7.2012, Reichel-Albert[...], ergangen ist, vergleichbar, da zum einen im vorliegenden Fall die Kl des Ausgangsverfahrens ausschließlich im rentenzahlungspflichtigen Mitgliedstaat, nämlich Österreich, gearbeitet und Beiträge entrichtet hat, und zwar sowohl vor als auch nach ihrem Umzug nach Ungarn und anschließend Belgien, wo sie sich der Erziehung ihrer Kinder gewidmet hat, und sie zum anderen zum maßgeblichen Zeitpunkt für die Berücksichtigung ihrer Kindererziehungszeiten zur Gewährung einer Altersrente in Österreich keine Beschäftigung oder selbständige Erwerbstätigkeit in diesem Mitgliedstaat ausgeübt hat. So besteht wie beim Sachverhalt, der im Urteil vom 19.7.2012, Reichel-Albert[...], in Rede stand, eine hinreichende Verbindung zwischen den von der Kl des Ausgangsverfahrens im Ausland zurückgelegten Kindererziehungszeiten und den aufgrund der Ausübung einer Erwerbstätigkeit in Österreich erworbenen Versicherungszeiten. Folglich ist davon auszugehen, dass die Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats für die Berücksichtigung und Anrechnung dieser Zeiten im Hinblick auf die Gewährung einer Altersrente durch ihn anzuwenden sind.
64 Ferner steht fest, dass, wenn die Kl des Ausgangsverfahrens Österreich nicht verlassen hätte, ihre Kindererziehungszeiten bei der Berechnung ihrer österreichischen Altersrente berücksichtigt worden wären. Folglich besteht kein Zweifel daran, dass die Kl des Ausgangsverfahrens wie die betroffene Person in der Rechtssache, in der das Urteil vom 19.7.2012, Reichel-Albert[...], ergangen ist, nur deshalb benachteiligt ist, weil sie von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, was gegen Art 21 AEUV verstößt.
65 Daraus folgt, dass der rentenzahlungspflichtige Mitgliedstaat in einem Fall wie dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, in dem die betroffene Person ausschließlich in diesem Mitgliedstaat gearbeitet und Beiträge entrichtet hat, und zwar sowohl vor als auch nach der Verlegung ihres Wohnsitzes in andere Mitgliedstaaten, in denen sie Kindererziehungszeiten zurückgelegt hat, nach der auf das Urteil vom 19.7.2012, Reichel-Albert[...], zurückgehenden Rsp dazu verpflichtet ist, diese Zeiten gem Art 1 AEUV für die Gewährung einer Altersrente zu berücksichtigen.
66 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art 44 Abs 2 der VO 987/2009 dahin auszulegen ist, dass, wenn die betreffende Person die in dieser Bestimmung aufgestellte Voraussetzung der Ausübung einer Beschäftigung oder selbständigen Erwerbstätigkeit für die Berücksichtigung von in anderen Mitgliedstaaten zurückgelegten Kindererziehungszeiten bei der Gewährung einer Altersrente durch den zur Zahlung dieser Rente verpflichteten Mitgliedstaat nicht erfüllt, dieser Mitgliedstaat nach Art 21 AEUV verpflichtet ist, diese Zeiträume zu berücksichtigen, sofern diese Person ausschließlich in diesem Mitgliedstaat gearbeitet und Beiträge entrichtet hat, und zwar sowohl vor als auch nach der Verlegung ihres Wohnsitzes in einen anderen Mitgliedstaat, in dem sie diese Zeiten zurückgelegt hat.
Zur zweiten Frage
67 Da sich diese Frage nur für den Fall stellen würde, dass der Gerichtshof zu der Auffassung 36 gelangt wäre, dass Art 44 Abs 2 der VO 987/2009 auf einen Fall wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden anwendbar ist und im vorliegenden Fall die Voraussetzungen für die Anwendung dieser Bestimmung nicht erfüllt sind, ist sie nicht zu beantworten.
Die Anrechnung von Kindererziehungszeiten in einem anderen Mitgliedstaat hat den EuGH immer wieder beschäftigt (hinsichtlich der Entwicklung bis 2017 siehe Spiegel, Grenzen der Berücksichtigung ausländischer Kindererziehungszeiten, DRdA 2017, 36). Auslöser waren jene Staaten, in denen Kindererziehungszeiten einen verhältnismäßig hohen Wert in der nationalen Pensionsberechnung haben, nämlich Österreich und Deutschland. Für eine Einordnung des nunmehrigen Urteils ist eine Zusammenfassung der Sachverhalte in den vorangehenden Entscheidungen interessant:
Frau Elsen (EuGHC-135/99, ECLI:EU:C:2000:647) verlegte im Mai 1981 ihren Wohnsitz von Deutschland nach Frankreich, ihr Sohn wurde 1984 geboren. Bis März 1985 war sie (ab der Wohnsitzverlegung als Grenzgängerin) in Deutschland beschäftigt.
Frau Kauer (EuGHC-28/00, ECLI:EU:C:2002:82; Friedrich, Berücksichtigung der Erziehungszeiten in einem anderen Mitgliedstaat und die VO, ASoK 2002, 117 = ZESAR 2003, 327 [Windisch-Graetz]) arbeitete von Juli 1960 bis August 1964 in Österreich, bekam drei Kinder in den Jahren 1966, 1967 und 1969, übersiedelte im April 1970 nach Belgien, wo sie nicht arbeitete und sie nahm ihre Erwerbstätigkeit erst wieder ab September 1975 nach ihrer Rückkehr nach Österreich auf.
Frau Reichel-Albert (EuGHC-522/10, ECLI:EU:C:2012:475, ZESAR 2012, 483 [Bokeloh]) übte bis Juni 1980 in Deutschland eine Erwerbstätigkeit aus mit anschließendem Bezug von deutschem Arbeitslosengeld bis Oktober 1980. Von Juli 1980 bis Juni 1986 wohnte sie in Belgien, wo die Kinder 1981 und 1984 geboren wurden, sie aber nicht arbeitete. Ab Jänner 1984 entrichtete sie freiwillig Beiträge zur deutschen Rentenversicherung. Frau CC (EuGHC-576/20, Pensionsversicherungs anstalt [Kindererziehungszeiten], ECLI:EU:C:2022:527) übte bis September 1986 in Österreich eine selbständige Erwerbstätigkeit aus, anschließend absolvierte sie ein Studium im Vereinigten Königreich, zog Anfang November 1987 nach Belgien weiter, wo sie im Dezember 1987 und Februar 1990 zwei Kinder zur Welt brachte. Anschließend lebte sie von Mai bis Dezember 1992 in Ungarn (im Urteil ist dieser Zeitraum falsch angegeben – siehe die Schlussanträge von GA Emiliouin der Rs Pensionsversicherungsanstalt [Kindererziehungszeiten], ECLI:EU:C:2022:75, Rz 17) und anschließend erneut im Vereinigten Königreich. Im Februar 1993 kehrte sie nach Österreich zurück und begann wieder, eine selbständige Erwerbstätigkeit auszuüben. Im Ausland war sie nicht erwerbstätig.
Gemeinsam ist allen vier Fällen, dass Kindererziehungszeiten in einem anderen als dem in Anspruch genommenen Mitgliedstaat zurückgelegt wurden und dass die Erwerbskarriere sich nur auf den in Anspruch genommenen Mitgliedstaat beschränkte (also keine Erwerbstätigkeit in jenen anderen Mitgliedstaaten, in denen die Kindererziehung tatsächlich wahrgenommen wurde). Die Sachverhalte unterscheiden sich dadurch, dass die Kinder zT vor und zT nach der Übersiedlung in den anderen Mitgliedstaat geboren wurden und auch durch die maßgebende Rechtslage: Während die ersten drei Fälle noch unter die VO (EWG) 1408/71 (vom 14.6.1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf AN und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, ABl L 149 vom 5.7.1971, 2) fielen, war auf Frau CC bereits die VO (EG) 883/2004 (vom 29.4.2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, ABl L 166 vom 30.4.2004, 1) anzuwenden.
Zunächst ist somit auf die rechtliche Situation nach der VO (EWG) 1408/71 einzugehen. Nach dieser war keine generelle, ausdrücklich für Kindererziehungszeiten anwendbare Regelung vorgesehen; allerdings hatte Deutschland eine unilaterale Sonderregelung im Anh VI dieser VO (Anh VI E. Deutschland Z 19: „Als Versicherungszeit wegen Kindererziehung nach den deutschen Rechtsvorschriften gilt auch die Zeit, in der die Erziehung eines Kindes durch den betroffenen AN in einem anderen Mitgliedstaat erfolgt, soweit dieser AN nach § 6 Abs 1 MutterschaftsG nicht beschäftigt werden darf oder Erziehungsurlaub gem § 15 BErzGG nimmt und er nicht eine geringfügige Beschäftigung gem § 8 SGB IV ausgeübt hat.“
) bzw hatte Österreich eine vergleichbare, die deutsche Regelung als Muster nehmende Sonderregelung im nationalen Gesetz (§ 227a Abs 3 letzter Satz ASVG idF BGBl 1994/20: „Der Erziehung des Kindes im Inland steht eine solche in einem Mitgliedstaat des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) gleich, wenn für dieses Kind Anspruch auf eine Geldleistung aus dem Versicherungsfall der Mutterschaft nach diesem oder einem anderen BG bzw auf Betriebshilfe nach dem BHG besteht bzw bestanden hat und die Zeit der Kindererziehung nach dem Inkrafttreten dieses Abkommens liegt.“
). Erkennbare Absicht hinter diesen nationalen Regelungen war, nur in jenen Fällen eine Zuständigkeit zur Anrechnung ausländischer Kindererziehungszeiten vorzusehen, in denen die in Betracht kommende Person unmittelbar vor dem Beginn dieser Zeiten eine Erwerbstätigkeit in dem betroffenen Staat ausgeübt hat.
Der EuGH entschied allerdings in den Rs Elsen und Kauer, dass dieser Ansatz zu restriktiv sei, da er die betreffenden Personen von der Ausübung ihrer Freizügigkeitsrechte abhalten könne. Wenn daher eine Person ausschließlich in ihrem Heimatstaat 37 gearbeitet habe, dann müsse dieser Mitgliedstaat auch die in einem anderen Mitgliedstaat zurückgelegten Kindererziehungszeiten honorieren, um nicht einen Verstoß gegen ua (nunmehr) Art 21 AEUV (Freizügigkeit der Unionsbürger:innen) zu begehen (EuGH Rs Elsen Rz 34 und 35 bzw EuGH Rs Kauer Rz 44), da zwischen diesen Zeiten und der Berufstätigkeit eine enge (EuGH Rs Elsen Rz 26) bzw hinreichende (EuGH Rs Kauer Rz 32) Verbindung hergestellt werden kann (wobei hinsichtlich der Rs Kauer mE zu beachten ist, dass die maßgebenden Zeiten lange vor dem EU-Beitritt Österreichs lagen und man sich daher die Frage nach der Freizügigkeits-Relevanz der Nicht-Anrechnung dieser Zeiten stellen kann). Allerdings bedeuten diese beiden Entscheidungen nicht, dass ein Mitgliedstaat immer und unter allen Umständen ausländische Kindererziehungszeiten anrechnen muss. So hatte der OGH ohne die geringsten Zweifel eine Anrechnung ausgeschlossen, wenn eine Person erstmals nach abgeschlossener Kindererziehung nach Österreich kam und hier zu arbeiten begann, da bei einem solchen Sachverhalt – auch bei extensivster Auslegung – eben keine Beschränkung der Freizügigkeit angenommen werden kann (OGH10 ObS 55/05v DRdA 2007, 296 [Egger]).
Die Rs Elsen und Kauerwaren der Anlass, um im Rahmen der Reform der VO (EWG) 1408/71 eine europarechtliche Regelung für die Anrechnung von Kindererziehungszeiten zu schaffen. Allerdings fand das nicht bereits in den materiellen Regelungen der VO (EG) 883/2004, sondern erst in den Durchführungsbestimmungen der VO (EG) 987/2009 (vom 16.9.2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der VO [EG] 883/2004 über die Koordinierung der sozialen Sicherheit, ABl L 284 vom 30.10.2009, 1) statt.
Für das Verständnis der weiteren Diskussionen ist dabei nicht unerheblich, welchen Text die Kommission zunächst vorgeschlagen hatte:
„Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten Vorbehaltlich der Zuständigkeit des Mitgliedstaates gemäß Titel II der Verordnung (EG) Nr 883/2004 muss der Träger des Mitgliedstaates, in dem der Rentenbezieher in den 12 Monaten nach Geburt eines Kindes am längsten gewohnt hat, die in einem anderen Mitgliedstaat zurückgelegten Kindererziehungszeiten berücksichtigen, sofern auf die betreffende Person nicht aufgrund der Ausübung einer Beschäftigung oder selbstständigen Tätigkeit die Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaates anwendbar werden.“
(Art 44 der VO [EG] 987/2009 idF KOM[2006]16 endg, wobei sich die genaue Bedeutung dieses Vorschlags mE nicht eindeutig erschließt.)
Als Ergebnis der Arbeiten zwischen Rat, Europäischem Parlament und Kommission an diesem Vorschlag liegt schlussendlich die nunmehr geltende Fassung des Art 44 der VO (EG) 987/2009 vor:
„Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten[...](2) Wird nach den Rechtsvorschriften des gemäß Titel II der Grundverordnung zuständigen Mitgliedstaats keine Kindererziehungszeit berücksichtigt, so bleibt der Träger des Mitgliedstaats, dessen Rechtsvorschriften nach Titel II der Grundverordnung auf die betreffende Person anwendbar waren, weil diese Person zu dem Zeitpunkt, zu dem die Berücksichtigung der Kindererziehungszeit für das betreffende Kind nach diesen Rechtsvorschriften begann, eine Beschäftigung oder eine selbständige Erwerbstätigkeit ausgeübt hat, zuständig für die Berücksichtigung dieser Zeit als Kindererziehungszeit nach seinen eigenen Rechtsvorschriften, so als hätte diese Kindererziehung in seinem eigenen Hoheitsgebiet stattgefunden.“
Diese Neuregelung, mit der erstmals auf unionsrechtlicher Ebene eine einheitliche Regelung für die grenzüberschreitende Anrechnung von Kindererziehungszeiten durch den für den jeweiligen Zeitraum nicht zuständigen Mitgliedstaat (nicht vernachlässigt darf aber werden, dass der EuGH in den Rs Elsen, Kauerund schließlich auch Reichel-Albert die Rechtsvorschriften des jeweils belangten Mitgliedstaates auch als konkret auf den Zeitraum der Kindererziehungszeiten anwendbar angesehen hatte) geschaffen wurde, beantwortet natürlich noch nicht alle Fragen. Da der EuGH in den Rs Elsen und Kauer die Pflicht zur Anrechnung unmittelbar aus dem AEUV abgeleitet hat, könnte man sich fragen, ob die Regelung des Art 44 der VO (EG) 987/2009 abschließend ist oder ob daneben noch Fälle denkbar sind, in denen der AEUV unmittelbar zur Anrechnung verpflichtet.
Diese Frage stellte sich erstmals aufgrund der Ausführungen des vorlegenden Sozialgerichts Würzburg in der Rs Reichel-Albert. Allerdings musste der EuGH diese Frage nicht beantworten, da er den zeitlichen Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004 und 987/2009 noch nicht gegeben sah und den Fall daher aus dem Blickwinkel der VO (EWG) 1408/71 entschied. Erneut sah der EuGH wegen der ausschließlichen Erwerbstätigkeit in Deutschland eine hinreichende Verbindung gegeben, die zur Anrechnung der Kindererziehungszeiten verpflichtet (EuGH Rs Reichel-Albert Rz 35). Anders und viel detaillierter waren die Schlussanträge von GA Jääskinen in der Rs Reichel-Albert, ECLI:EU:C:2012:114, der selbst bei Anwendbarkeit der VO (EG) 883/2004 nur die Anrechnung im Rahmen des Art 44 der VO (EG) 987/2009 prüfen würde und Art 21 AEUV im Wege des Art 5 der VO (EG) 883/2004 nur bei Zuständigkeit des betreffenden Mitgliedstaates zum Tragen bringen möchte (insb Rz 76).
Der erste Fall unter der VO (EG) 883/2004 war daher jener in der Rs Pensionsversicherungsanstalt [Kindererziehungszeiten]. Der vorlegende OGH stellt dabei ausdrücklich die Frage nach dem Verhältnis zwischen Art 44 der VO (EG) 987/2009 und Art 21 AEUV (OGH10 ObS 109/20g, Rz 26 ff 3DRdA-infas 2021, 7 = ARD 6726/13/2020), wobei er aber 38 verschweigt, dass er in der Vergangenheit schon die Anrechnung von Kindererziehungszeiten unter Heranziehung ausschließlich von Art 44 abgelehnt hatte, ohne eine nähere Prüfung unter Art 21 AEUV durchzuführen (OGH10 ObS 101/15yDRdA-infas 2016, 292 [Pletzenauer] = ARD 6517/10/2016 = ZAS 2018, 24 [Eichinger], wobei der OGH den wesentlichen Unterschied zur Rs Reichel-Albertdarin sah, dass in diesem Fall vor der Übersiedlung und Kindererziehung in einem anderen Mitgliedstaat in Österreich nur ein Studium, aber keine Erwerbstätigkeit ausgeübt wurde).
Aus der Sicht einer an der Ausarbeitung des Art 44 unmittelbar beteiligten Person hätte mE die Antwort des EuGH ein klares „Nein“ auf die Frage, ob neben dieser Regelung auch noch Art 21 AEUV einschlägig sein könnte, sein müssen. Wie nämlich sowohl der Textvorschlag der Kommission als auch die dann als Ergebnis des Gesetzgebungsprozesses auf europäischer Ebene vorliegende Fassung deutlich machen sollte, war eine abschließende Regelung beabsichtigt, die eben auch die Lehren aus den Rs Elsen und Kauer ziehen sollte und die „hinreichende Verbindung“ kodifiziert (so auch insb GA Emiliou in seinen Schlussanträgen in der Rs Pensionsversicherungsanstalt Rz 60 ff; aber auch schon GA Jääskinen in seinen Schlussanträgen in der Rs Reichel-Albert Rz 3). Der EuGH entschied sich aber zu einer anderen Antwort und betonte, dass weiterhin Art 21 AEUV zu beachten ist und auch in Fällen, in denen Art 44 ganz eindeutig nicht zur Anrechnung von Kindererziehungszeiten verpflichten würde, eine solche Verpflichtung aus dem Primärrecht abzuleiten ist, wenn eben eine hinreichende Verbindung zu einem Mitgliedstaat besteht, da sowohl vor als auch nach der Kindererziehungszeit im Ausland ausschließlich in dem betreffenden Mitgliedstaat eine Erwerbstätigkeit ausgeübt wurde (EuGH Rs Pensionsversicherungsanstalt Rz 63).
Die E des EuGH bedeutet für die Mitgliedstaaten ein rechtliches, administratives und möglicherweise auch politisches Dilemma. Zunächst einmal ist nicht klar, wann von einer „hinreichenden Verbindung“ auszugehen ist und wann die Verbindung so „dünn“ ist, dass keine Verpflichtung zur Anrechnung ausländischer Kindererziehungszeiten mehr gegeben ist. Der EuGH stellte bisher darauf ab, dass sowohl vor als auch nach der Kindererziehungszeit im Ausland eine Erwerbstätigkeit ausschließlich in dem betreffenden Mitgliedstaat ausgeübt wurde. Kommt es aber auch darauf an, wie lange diese Erwerbstätigkeit ausgeübt wurde? Würde zB auch ein kurzes Ferialpraktikum vor der Übersiedlung ins Ausland ausreichen? Warum liegt eine Verbindung nicht auch dann vor, wenn in Österreich vor der Übersiedlung „nur“ ein Studium vorliegt? – womit aber natürlich die E des OGH in 10 ObS 101/15y bedenklich wäre. Ist es unbedingt erforderlich, dass nach der ausländischen Kindererziehungszeit eine Rückübersiedlung nach Österreich erfolgt und muss dann auch wieder eine Erwerbstätigkeit in Österreich ausgeübt werden? Wie lange müsste eine Erwerbstätigkeit im Ausland ausgeübt werden, damit die hinreichende Verbindung zu Österreich unterbrochen wäre? Reicht eine ganz kurze ausländische Erwerbstätigkeit aus? Müsste diese vor der Kindererziehungszeit liegen oder würde auch eine Erwerbstätigkeit nach der ausländischen Kindererziehungszeit für die Unterbrechung ausreichen? Was gilt in Fällen, in denen auch der Mitgliedstaat, in dem die Kindererziehungszeit zurückgelegt wurde, dafür eine Leistung gewährt, diese aber geringer ist als die mögliche Auswirkung einer Kindererziehungszeit in Österreich? Für den EuGH scheint diese letzte Frage irrelevant zu sein und er geht mE davon aus, dass ein Mitgliedstaat, in dem keine Erwerbstätigkeit ausgeübt wird, ohnehin keine Kindererziehungszeiten anrechnet. Das ist aber so nicht zutreffend, da insb Art 6 der VO (EG) 883/2004 ausdrücklich eine Zusammenrechnung der Versicherungszeiten auch für den „Zugang“ zu einer Versicherung vorsieht und daher im umgekehrten Fall Österreich, sofern wir für eine konkrete Zeit (zB nur aufgrund des Wohnortes in Österreich) nach Titel II der VO (EG) 883/2004 zuständig sind, Kindererziehungszeiten anrechnen würden (siehe zu dieser Frage generell auch Anhang XI Österreich Nr 3 der VO [EG] 883/2004).
Solche Fragen würde der EuGH sicherlich von Fall zu Fall entscheiden, was aber keine Lösung für die Praxis sein kann. Die Begründung „hinreichende Verbindung“ in einem Bescheid über die Anrechnung oder Ablehnung einer Kindererziehungszeit mag in Staaten mit einer starken „Case-law-Tradition“ passen, würde mE aber dem österreichischen Verständnis des Legalitätsprinzips widersprechen. Es ist daher davon auszugehen, dass in der Praxis über den Art 44 der VO (EG) 987/2009 hinausgehend Kindererziehungszeiten nur dann angerechnet werden, wenn vor der Übersiedlung in einen anderen Mitgliedstaat, in dem dann die Kindererziehung wahrgenommen wurde, in Österreich eine Erwerbstätigkeit ausgeübt wurde und im Ausland keine Erwerbstätigkeit nachgewiesen wird, wobei aber weitere künftige Urteile nationaler Gerichte bzw des EuGH auch noch andere Situationen erfassen könnten, in denen ebenfalls eine hinreichende Verbindung gesehen wird.
Damit sind aber noch nicht alle Probleme, die sich aus der E des EuGH ergeben, angesprochen worden. Zu beachten ist nämlich, dass der EuGH ausdrücklich auf Art 21 AEUV Bezug nimmt. Diese Bestimmung des Primärrechts gilt aber nicht für alle Personengruppen, auf die die VO (EG) 883/2004 Anwendung findet. So gibt es zB für Drittstaatsangehörige, wiewohl auch für diese die VO (EG) 883/2004 gilt (aufgrund der VO [EU] 1231/2010 vom 24.11.2010 zur Anwendung der VO [EG] 883/2004 und der VO [EG] 987/2009 auf Drittstaatsangehörige, die aus 39 schließlich aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit nicht bereits unter diese Verordnungen fallen, ABl L 344 vom 29.12.2010, 1), keine dem Art 21 AEUV vergleichbare Regelung. Daher sind zB in einer Situation, wie sie der Rs Pensionsversicherungsanstalt [Kindererziehungszeiten] zu Grunde lag, keine Kindererziehungszeiten anzurechnen, wenn es sich um eine Person mit der Staatsangehörigkeit eines Drittstaates handelt. Ebenso enthält das EWR-Abkommen oder das Freizügigkeitsabkommen zwischen der EU und der Schweiz keine dem Art 21 AEUV vergleichbare Regelung, sodass weder eine über Art 44 der VO (EG) 987/2009 hinausgehende Verpflichtung zur Anrechnung von Kindererziehungszeiten für liechtensteinische, norwegische, isländische oder schweizerische Staatsangehörige besteht, aber darüber hinaus auch keine solche Verpflichtung für Kindererziehungszeiten in diesen Staaten gegeben ist, selbst wenn es sich um Unionsbürger:innen handelt. Ganz eindeutig ist dieser restriktive Ansatz aber nicht, da der EuGH zB in der Rs C-897/19PPU, Ruska Federacija, ECLI:EU:C:2020:262, einen verhältnismäßig weitgehenden Schutz der Staatsangehörigen der EWR-Staaten angenommen hat, abgeleitet jedoch davon, dass die betreffende Person von einer der vom EWR-Abkommen erfassten Grundfreiheiten Gebrauch gemacht hat (wie zB als Tourist von der Dienstleistungsfreiheit), was bei einer Übersiedlung einer nicht erwerbstätigen Person nicht der Fall wäre. Auch das Urteil des EFTA-Gerichtshofes in Rs E-28/15, 26.7.2016, Yankuba Jabbi, könnte für eine generelle Geltung aller vom EuGH zu Art 21 AEUV entwickelten Rechte herangezogen werden. Allerdings ist es mE noch verfrüht, einen solchen generellen Schluss zu ziehen, da auch der in diesem Erk behandelte Sachverhalt doch anders war und eine Beziehung zur RL 2004/38/EG bestand, die vom EWR-Abkommen erfasst ist. Jedenfalls hat das Urteil in der Rs Pensionsversicherungsanstalt [Kindererziehungszeiten] keine Wirkung im Verhältnis zum Vereinigten Königreich, sofern ein Anlassfall nicht mehr unter das Austrittsabkommen, sondern unter das Handels- und Zusammenarbeitsabkommen fällt.
Abschließend ist noch darauf hinzuweisen, dass auch im Vergleich zu anderen Leistungen der sozialen Sicherheit das Urteil in der Rs Pensionsversicherungsanstalt [Kindererziehungszeiten] kein erkennbares System, das der Praxis helfen könnte, erkennen lässt. Als Beispiel ist die Gewährung von Rehabilitationsgeld in grenzüberschreitenden Fällen zu erwähnen. Hatte der OGH zunächst noch – sehr ähnlich wie nunmehr bei den Kindererziehungszeiten – angenommen, dass selbst bei nicht mehr gegebener Zuständigkeit Österreichs für Leistungen bei Krankheit diese Leistung zu gewähren ist, weil sonst ein Verstoß gegen die Grundfreiheiten des AEUV vorliegen könnte (insb OGH10 ObS 133/15d, Karl, Exportpflicht des Rehabilitationsgeldes, DRdA 2017, 42 = ASoK 2017, 160 = ARD 655/13/2017 [Sabara]), wobei eine Nahebeziehung (wohl vergleichbare mit der „hinreichenden Verbindung“) durch die in Österreich zurückgelegten Versicherungszeiten gesehen wurde, so entschied der EuGH in der Rs C-135/19, Pensionsversicherungsanstalt [Rehabilitationsleistung], ECLI:EU:C:2020:177, dass nur die Regelungen der VO (EG) 883/2004 betreffend die Leistungen bei Krankheit anzuwenden sind und bei danach nicht mehr gegebener Zuständigkeit Österreichs eben keine Leistung gewährt werden muss. Das führt zur mE skurrilen Situation, dass aus der Sicht des EuGH Zeiten der Kindererziehung (ohne dass dafür Beiträge der betroffenen Personen in Österreich geleistet wurden) ein schutzwürdigeres Gut sind als „echte“ Zeiten einer Erwerbstätigkeit in Österreich, die einen Anspruch auf sich daraus ergebende Leistungen bei Krankheit (eben das Rehabilitationsgeld) auslösen könnten.
Zusammenfassend betrachtet hat der EuGH mit der E in der Rs Pensionsversicherungsanstalt [Kindererziehungszeiten] für die Praxis, aber wohl auch die akademische Welt, wieder einmal eine Reihe von Rätseln aufgegeben und damit nicht zur Rechtssicherheit in den Mitgliedstaaten beigetragen. Nicht erkennbar ist, wann ausschließlich die VO (EG) 883/2004 anzuwenden ist oder darüber hinausgehend auch durch das Primärrecht Ansprüche ausgelöst werden können. Sofern das Primärrecht zu beachten ist, ergibt sich als nächste Frage, wann noch eine hinreichende Verbindung zu einem Mitgliedstaat besteht und wann dieses Band bereits durchtrennt ist. Da die nationale Administration diese Frage nur sehr schwer beantworten kann, ist mit weiteren gerichtlichen Entscheidungen in dieser Frage zu rechnen. 40