Jobst/Steiner (Hrsg)Erzähl mal ... – Lebensgeschichten. Arbeitswelt und Alltag in Kärnten seit 1945

2. Auflage, Verlag des ÖGB, Wien 2022, 248 Seiten, gebunden, € 19,90

ERNST BEZEMEK (WIEN)

In seinem paradigmatischen Beitrag „Zwischen Heimatkunde und Geschichtswerkstatt“ (Mulley, Zwischen Heimatkunde und Geschichtswerkstatt, in Jahrbuch für Landeskunde von Niederösterreich 1984/85 [1985] 206-228) plädierte Klaus Dieter Mulley, der langjährige Leiter des Instituts für Geschichte der AK und Gewerkschaften bei der Arbeiterkammer Wien, für eine von den „Legitimationszwängen“ der Republikgeschichte gelöste „Alltags- und Alltagskulturgeschichte“. Dieser Forderung, die er in seinem breiten wissenschaftlichen Oeuvre konsequent umsetzte, ist auch der vorliegende vom ÖGB-Kärnten in Zusammenarbeit mit dem Institut für Geschichte der Arbeiterbewegung Kärnten herausgegebenen Erzählband „Erzähl mal ... – Lebensgeschichten. Arbeitswelt und Alltag in Kärnten seit 1945“ verpflichtet. 15 Persönlichkeiten, darunter wesentliche Entscheidungsträger aus dem Kärntner ÖGB und der Arbeiterkammer schildern Erlebnisse und Begebenheiten ihres Lebens im Kontext der regionalen und gewerkschaftlichen Geschichte.

Nach einem Vorwort von AK-Präsident Günther Goach lenkt Hellwig Valentin („Die Gewerkschaftsbewegung in Kärnten – ein geschichtlicher Rückblick“) den Blick auf die Geschichte der Gewerkschaftsbewegung in Kärnten, wobei er über das Epochenjahr 1945 hinaus (Ende 1945 registrierte der ÖGB-Kärnten bereits 28.000 Mitglieder) seinen Blick auch auf die Anfänge gewerkschaftlicher Tätigkeit unter den Rahmenbedingungen der Monarchie lenkt und einen konzisen Überblick über die gewerkschaftliche Tätigkeit in Kärnten bietet, die der ÖGB stets als überparteilich, jedoch nicht als unpolitisch betrachtete. Ein Beitrag des Gewerkschaftsfunktionärs und späteren Dritten Landtagspräsidenten Hans Pawlik (1914-2012) („Wir machten Bildungsfragen zur Chefsache ...“) ist vorrangig der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit gewidmet. Als Zeitzeuge berichtet er über die Arbeitskämpfe der frühen 1950er-Jahre. Ein hochinteressantes Detail zur Gründungsgeschichte der Zweiten Republik behandelt der Beitrag Alois Ropperts (1933-2022) („... nicht auszudenken, wenn sie den Renner erschossen hätten“), der anlässlich eines Besuches von Vertretern der Kärntner Eisenbahngewerkschaft in Moskau von einem sowjetischen Offizier, vermutlich dem Adjutanten General Zheltovs, detaillierte Informationen über die von Stalin persönlich befohlene Einsetzung Karl Renners zum Staatskanzler der Provisorischen Regierung im April 1945 erhielt. Nach der Schilderung des sowjetischen Zeitzeugen befand sich Renner in Lebensgefahr, eine dem Stand der Forschung diametral entgegenstehende Einschätzung.

Auch die weiteren Beiträge verorten zeithistorische Markierungspunkte vor dem persönlichen Erfahrungshorizont der Autorinnen und Autoren: Johann Loritsch („... deshalb ist Maurer das Beste, das es gibt!“), gelernter Maurer und später ehemaliger Betriebsratsvorsitzender der Kärntner Traditionsbrauerei Schleppe, Jahrgang 1941, berichtet über seine von Konsens geprägte Tätigkeit in einem mittelständischen Unternehmen. Werner Pikalo, Jahrgang 1940 („... nach meiner Versetzung nach Kärnten ist mir sofort der Heimatdienst mit seiner Zeitung aufgefallen“), Vorsitzender-Stellvertreter des Betriebsausschusses der Kriminalbeamten, wirkte nach seiner Tätigkeit als Kriminalbeamter in Wien in der Sicherheitsdirektion in Klagenfurt und war dort vor allem mit Fragen des Rechtextremismus und des Rassismus befasst. Im Ruhestand vertritt er die sozialdemokratischen Freiheitskämpfer Kärntens im Bundesvorstand. Josef Quantschnig, Jahrgang 1939, AK-Präsident 1979-2002 („... es war für einen Betriebsrat ein unendliches Tätigkeitsfeld“), Betriebsratsvorsitzender im Philips-Werk Klagenfurt, war Realpolitiker. Sein Credo als AK-Präsident war es, einen Modus Vivendi mit Landeshauptmann Haider zu finden. „Wir erhalten (so viele) öffentliche Gelder durch seinen Einfluss, da kann ich ihn doch nicht in der Öffentlichkeit an den Pranger stellen, denn dann werden wir und die Kärntner Arbeitnehmer/Innen nichts mehr erhalten und dadurch Nachteile erleiden“ (S 96). Erika Lukensteiner, Jahrgang 1951 („... man muss sie ja versichern, sie brauchen ja eine Medizin!“), Leiterin der ÖGB-Landesfrauenorganisation in Kärnten, kam schon früh in Kontakt mit der Kärntner Arbeiterinnenbewegung, wo sie sich für die soziale und wirtschaftliche Besserstellung der Frauen engagierte. Sie wirkte später in der Chemiegewerkschaft, um sich vor allem nach dem EU-Beitritt Österreichs mit Frauenprojekten im Alpe-Adria-Raum zu engagieren. Ihre Vision lautete stets: Über ein verbessertes Bildungswesen soziale Standards korrigieren. Der politischen Elite Kärntens gehörte auch Adam Unterrieder, Jahrgang 1948, Erster Landtagspräsident, Landesrat und Klubobmann der SPÖ-Landtagsfraktion, Kärntner ÖGB-Chef („... jeder, der Sport betreibt, lernt auch Niederlagen zu verkraften!“) an. Seine Erinnerungen bieten einen sachlich fundierten und auch an Fakten der äußeren Geschichte reichen Überblick über seine politische Tätigkeit. Der Mitherausgeber, der gelernte Drucker Vinzenz Jobst, Jahrgang 1949 („... sie zeigten viele Details der sogenannten schwarzen Kunst“), Leitender Sekretär der Arbeiterkammer, Geschäftsführer des Instituts für die Geschichte der Kärntner Arbeiterbewegung, Autor zahlreicher Publikationen zur Sozial- und Regionalgeschichte Kärntens, zeigt am Beispiel der Großdruckerei Carinthia, in der bei Jobsts Eintritt 400 Personen beschäftigt waren, die vor allem durch die Automation bedingten zahlreichen Brüche und Umbrüche des Druckergewerbes in den 1970er- und 1980er-Jahren mit dem Abschied vom Bleisatz, die die AN-Vertretung vor große Aufgaben stellte. Alfred Wurzer, Jahrgang 1953, Obmann der Gebietskrankenkasse und schließlich Direktor der Gebietskrankenkasse Kärnten (1995-2010), Autor zahlreicher Studien zur Sozial- und Gesundheitspolitik, berichtet über seine Tätigkeit in der Gewerkschaftsjugend und betont die Notwendigkeit 166einer gelebten Sozialpartnerschaft trotz inhaltlicher Konflikte und stärkerer Auseinandersetzungen auf der Ebene der Kollektivverträge. Waltraud Rohrer, als Krankenhausmanagerin in einem Sozialberuf tätig, stellvertretende Betriebsratsvorsitzende am Landeskrankenhaus Villach, Landtagsabgeordnete, skizziert die Erfahrungen und die Herausforderungen einer engagierten Alleinerziehenden. Spannend und anregend lesen sich die Erinnerungen des kunstaffinen Arbeiterkammerpräsidenten Günther Goach, Jahrgang 1957, der seinen Weg vom Gürtler, Gold- und Silberschmied im hierarchisch geprägten Stift Seckau über die Siemens-Tochter Infineon – durch eine gezielte Förderpolitik konnte in Zusammenarbeit mit Bürgermeister Manzenreiter der Technologiepark Villach entwickelt werden – an die Spitze der Kärntner Arbeiterkammer beschreibt („Wir haben praktisch das Hirn des Computers hergestellt“). Die Vorsitzende der FCG-Frauenorganisation in Kärnten Isabella Zeiringer-Habich, Jahrgang 1963, Betriebsratsvorsitzende im Hilfswerk Klagenfurt, widmet sich in ihrem Beitrag („... mir ist wichtig, dass ich einen Computerkurs machen kann ...!“) dem Aufbau des Kärntner Hilfswerks, das unter ihrer Ägide auf 500 MitarbeiterInnen anwuchs. Dietmar Samnitz, Jahrgang 1950, Landessekretär des ÖGB-Kärnten und 2009 bis 2011 Obmann der Kärntner Gebietskrankenkasse, setzt sich als Enkel eines Februarkämpfers mit den traumatischen Ereignissen 1934 auseinander. In den frühen 1980er-Jahren traf der Strukturwandel und die mit diesem verbundene Krise der Papierindustrie das Bundesland Kärnten schwer, als im Zuge der branchenmäßig betriebenen Standortbereinigung der europäischen Papierindustrie die Werke in Magdalen und Rechberg geschlossen werden mussten. Seine Erinnerungen („Von unserem riesigen Transparent träume ich manchmal!“) schließen mit dem im Titel des Beitrags angesprochenen gewerkschaftlichen Protest gegen die Pensionspläne der schwarz-blauen Bundesregierung 2003. Der verdienstvolle Erinnerungsband endet mit den Beiträgen von Hermann Lippitsch („Jeder Lehrling wurde vom ersten Tag als wertvolle Persönlichkeit angesehen“) und Silvia Igumnov („Aus Steinen, die einem in den Weg gelegt werden, kann man Schönes bauen ...“). Hermann Lippitsch, Jahrgang 1960, Nationalrats- und Landtagsabgeordneter, nach dem Ausscheiden Adam Unterrieders Vorsitzender des Kärntner Gewerkschaftsbundes, entwirft mit dem Schwerpunkt seiner beruflichen Tätigkeit bei den Österreichischen Bundesbahnen ein anschauliches Bild der sozialen und politischen Rahmenbedingungen der Jahre 1970 bis 2017. Der Berufsweg von Silvia Igumnov, Jahrgang 1969, seit 2022 Landesvorsitzende im ÖGB-Kärnten, führte zur Arbeitsvereinigung der Sozialhilfe Kärnten (AVS), wo sie als Tagesmutter tätig war. Ihr Beitrag schließt mit einem Plädoyer für ein selbstbestimmtes Leben der Frauen: „Denn Frauen wollen heute nicht mehr entweder oder, sie wollen beides: Beruf und Familie und das sollte in Kärnten möglich werden!“

Ein ausgewählter Bildteil ergänzt den Sammelband, mit dem es Schriftleitung, Verlag und AutorInnen gelungen ist, Geschichte und Gegenwart der Kärntner AN-Vertretungen in einem anspruchsvollen Werk darzustellen.