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Familienbeihilfe für Kinder mit Wohnsitz in anderen Mitgliedstaaten

WALTER J.PFEIL (SALZBURG)
§ 8a FLAG; § 33 Abs 3 und 3a EStG; Art 4, 7, 67 VO (EG) 883/2004;
Art 7 Abs 2 VO (EU) 492/2011
EuGH 16.6.2022 C-328/20Kommission/Österreich
  1. Die Republik Österreich hat durch die Einführung eines Anpassungsmechanismus in Bezug auf die Familienbeihilfe und den Kinderabsetzbetrag für Erwerbstätige, deren Kinder ständig in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, gegen ihre Verpflichtungen aus den Art 4 und 67 der VO (EG) 883/2004 sowie aus Art 7 Abs 2 der VO (EU) 492/2011 verstoßen.

  2. Die Republik Österreich hat durch die Einführung eines Anpassungsmechanismus in Bezug auf den Familienbonus Plus, den Alleinverdienerabsetzbetrag, den Alleinerzieherabsetzbetrag und den Unterhaltsabsetzbetrag für Wander-AN, deren Kinder ständig in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, gegen ihre Verpflichtungen aus Art 7 Abs 2 der VO 492/2011 verstoßen.

Mit 1.1.2019 ist durch Änderungen im Familienlastenausgleichsgesetz (FLAG) und im Einkommensteuergesetz (EStG) ein Anpassungsmechanismus in Kraft getreten, der die Höhe der Familienbeihilfe bzw des Kinderabsetzbetrags für Erwerbstätige vom Preisniveau jenes Mitgliedstaats abhängig machte, in dem sich das betreffende Kind ständig aufhält. Diese „Indexierung“ wurde alsbald von der Europäischen Kommission problematisiert, weil sie gegen die Art 7 und 67 der (Koordinierungs-)VO 883/2004 sowie – als mittelbare Diskriminierung von AN aus anderen Mitgliedstaaten – gegen das in Art 4 der VO 883/2004 und Art 7 der VO 492/2011 verankerte Gleichbehandlungsgebot verstoße.

Von Seiten der österreichischen Bundesregierung wurde dagegen zum einen vorgebracht, dass die VO 883/2003 nicht verlange, dass die Höhe der für die in einem anderen Mitgliedstaat wohnenden Kinder gezahlten Leistungen jener entsprechen müsse, die für in Österreich wohnende Kinder gezahlt werde. Zum anderen liege keine mittelbare Diskriminierung vor, da es alle AN in gleicher Weise entlaste, wenn die Familienleistungen und die sozialen und steuerlichen Vergünstigungen dem Preisniveau jenes Staates angepasst würden, in dem das Kind wohnt. Im Übrigen ergäbe sich die sachliche Rechtfertigung auch durch das Ziel der Ausgewogenheit der Aufwendungen für das Sozialsystem sowie das Ziel der Berücksichtigung der steuerlichen Leistungsfähigkeit der Begünstigten.

Da die Kommission diese Antwort nicht für überzeugend hielt, hat sie eine Vertragsverletzungsklage erhoben, zu deren Unterstützung die Tschechische Republik, die Republik Kroatien, die Republik Polen, Rumänien, die Republik Slowenien, die Slowakische Republik und die EFTA-Überwachungsbehörde als Streithelfer zugelassen worden sind. Als Streithelfer zur Unterstützung der Republik Österreich sind das Königreich Dänemark und das Königreich Norwegen zugelassen worden.

[...]

29 Die Kommission stützt ihre Klage auf zwei Rügen. Die erste betrifft einen Verstoß gegen die Art 7 und 67 der VO 883/2004 und die zweite einen Verstoß gegen Art 4 der VO 883/2004 sowie gegen Art 7 Abs 2 der VO 492/2011.

Zur ersten Rüge: Verstoß gegen die Art 7 und 67 der VO 883/2004

[...]

42 Zunächst ist festzustellen, dass die Familienbeihilfe und der Kinderabsetzbetrag [...] Familienleistungen iS von Art 1 lit z VO 883/2004 sind und dass diese VO auf den Anpassungsmechanismus anwendbar ist, da sie für alle Rechtsvorschriften gilt, die Zweige der sozialen Sicherheit in Bezug auf Familienleistungen betreffen.

43 Daher müssen die Familienbeihilfe und der Kinderabsetzbetrag insb Art 7 VO 883/2004 entsprechen, wonach solche Leistungen, sofern in dieser VO nichts anderes bestimmt ist, „nicht aufgrund der Tatsache gekürzt, geändert, zum Ruhen gebracht, entzogen oder beschlagnahmt werden [dürfen], dass der Berechtigte oder seine Familienangehörigen in einem anderen als dem Mitgliedstaat wohnt bzw wohnen, in dem der zur Zahlung verpflichtete Träger seinen Sitz hat“.

44 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass Art 67 VO 883/2004 den Grundsatz festlegt, dass eine Person Anspruch auf Familienleistungen für Familienangehörige, die in einem anderen als dem für die Gewährung dieser Leistungen zuständigen Mitgliedstaat wohnen, so erheben kann, als würden sie in dem zuständigen Mitgliedstaat wohnen (Urteil vom 22.10.2015, Trapkowski, C-378/14, EU:C:2015:720, Rn 35).

45 Da Art 67 VO 883/2004 speziell in Bezug auf Familienleistungen die Vorgaben von Art 7 dieser VO übernimmt, führt ein Verstoß gegen Art 67 auch zu einem Verstoß gegen Art 7 dieser VO.

46 Des Weiteren hat der Gerichtshof wiederholt entschieden, dass mit den Art 7 und 67 VO 883/2004 verhindert werden soll, dass ein Mitgliedstaat die Gewährung oder die Höhe von Familienleistungen davon abhängig machen kann, dass die Familienangehörigen des Erwerbstätigen in dem die Leistungen erbringenden Mitgliedstaat wohnen (vgl ua Urteil vom 25.11.2021, Finanzamt Österreich [Familienleistungen für Entwicklungshelfer], C-372/20, EU:C:2021:962, Rn 76 und die dort angeführte Rsp).

47 Art 67 VO 883/2004 ist daher dahin auszulegen, dass die Familienleistungen, die ein Mitgliedstaat Erwerbstätigen gewährt, deren Familienangehörige 119 in diesem Mitgliedstaat wohnen, exakt jenen entsprechen müssen, die er Erwerbstätigen gewährt, deren Familienangehörige in einem anderen Mitgliedstaat wohnen. Entgegen dem Vorbringen der Republik Österreich rechtfertigen es die Kaufkraftunterschiede zwischen den Mitgliedstaaten im Hinblick auf diese Bestimmung nicht, dass ein Mitgliedstaat dieser zweiten Personengruppe Leistungen in anderer Höhe gewährt als der ersten Personengruppe.

48 Sicherlich ist der in Art 67 VO 883/2004 normierte Grundsatz der Gleichstellung insofern kein absoluter, als die Antikumulierungsvorschriften des Art 68 dieser VO Anwendung finden, wenn mehrere Ansprüche aufgrund unterschiedlicher Rechtsordnungen geschuldet werden (Urteil vom 18.9.2019, Moser, C-32/18, EU:C:2019:752, Rn 40 und die dort angeführte Rsp).

49 Der Gerichtshof hat konkret zu Art 68 Abs 2 VO 883/2004 entschieden, dass solche Antikumulierungsvorschriften dem Empfänger der von mehreren Mitgliedstaaten gezahlten Leistungen einen Gesamtbetrag an Leistungen garantieren sollen, der gleich dem Betrag der günstigsten Leistung ist, die ihm nach dem Recht nur eines dieser Staaten zusteht (Urteil vom 18.9.2019, Moser, C-32/18, EU:C:2019:752, Rn 42 und die dort angeführte Rsp).

50 Bei der Prüfung der Behandlung der von der VO 883/2004 erfassten AN kommt es daher auf den wirtschaftlichen Wert dieser Leistungen nicht im Hinblick auf die Kaufkraft und das Preisniveau am Wohnort der betreffenden Personen, sondern im Hinblick auf die Höhe der geschuldeten Leistungen an.

51 In Anbetracht der in Art 67 VO 883/2004 normierten Fiktion, wonach eine Person für Familienangehörige, die in einem anderen als dem für die Gewährung von Familienleistungen zuständigen Mitgliedstaat wohnen, Anspruch auf diese Leis tungen hat, als ob die Familienangehörigen in diesem Mitgliedstaat wohnen würden, und unter Berücksichtigung des Umstandes, dass Wander-AN die sozialpolitischen Maßnahmen des Aufnahme-Mitgliedstaats unter den gleichen Bedingungen zugutekommen müssen wie inländischen AN, da sie mit den Steuern und Sozialabgaben, die sie in diesem Staat aufgrund der dort von ihnen ausgeübten unselbständigen Erwerbstätigkeit entrichten, zur Finanzierung dieser Maßnahmen beitragen (vgl in diesem Sinne Urteil vom 10.7.2019, Aubriet, C-410/18, EU:C:2019:582, Rn 33 und die dort angeführte Rsp), dürfen die Mitgliedstaaten gemäß dieser VO die Familienleistungen nicht nach Maßgabe des Wohnstaats der Kinder des Begünstigten anpassen.

52 Genau dies ist hier der Fall. Nur die Empfänger von Familienleistungen, deren Kinder nicht in Österreich wohnen, unterliegen nämlich dem Mechanismus zur Anpassung der Höhe dieser Leistungen an das Preisniveau und die Kaufkraft am Wohnort ihrer Kinder. Ein solcher Mechanismus gilt nicht für Familienleistungen, die für Kinder gewährt werden, die in verschiedenen Regionen Österreichs wohnen, obwohl zwischen diesen Regionen Preisniveauunterschiede bestehen, die mit denen vergleichbar sind, die zwischen der Republik Österreich und anderen Mitgliedstaaten bestehen können.

53 Darüber hinaus ist darauf hinzuweisen, dass [...] nicht feststeht, dass die Höhe der von der Republik Österreich gewährten Familienleistungen je nach den tatsächlichen Lebenshaltungskosten oder den tatsächlichen Ausgaben für den Unterhalt der Kinder variiert, da diese Beträge pauschal nach Maßgabe der Zahl und gegebenenfalls des Alters der Kinder oder einer Behinderung der Kinder gewährt werden.

54 Folglich kann nicht damit argumentiert werden, dass der Gerichtshof in seinem Urteil vom 18.9.2019, Moser (C-32/18, EU:C:2019:752, Rn 53 und 54), festgestellt hat, dass das mit den nationalen Rechtsvorschriften verfolgte Ziel entscheidend ist und dass ein Mitgliedstaat die tatsächlichen Einkommensverhältnisse im Beschäftigungsstaat berücksichtigen kann. In der Rs [...] ging es nämlich um ein Kinderbetreuungsgeld, das in seiner einkommensabhängigen Variante eine Ersatzleistung für das vorherige Erwerbseinkommen darstellte und keine Familienleistung betraf, die keinen Zusammenhang mit den tatsächlichen Kosten aufwies und deren Höhe unabhängig von einer im Ermessen liegenden individuellen Prüfung der persönlichen Bedürftigkeit der Begünstigten aufgrund eines gesetzlich umschriebenen Tatbestands bemessen wurde (vgl in diesem Sinne Urteil vom 2.4.2020, Caisse pour l‘avenir des enfants, C-802/18, EU:C:2020:269, Rn 36).

55 Außerdem trifft es zwar zu, dass der Gerichtshof – wie die Republik Österreich geltend gemacht hat – in seinem Urteil vom 27.9.1988, Lenoir (313/86, EU:C:1988:452), anerkannt hat, dass Leistungen, die zur Deckung gewisser durch den Beginn des Schuljahres der Kinder veranlasster Kosten bestimmt sind, eng an das soziale Umfeld und damit auch an den Wohnort der Betroffenen gebunden sind, so dass dieser Wohnort berücksichtigt werden kann, doch hat der Gerichtshof in Rn 16 dieses Urteils entschieden, dass regelmäßige Geldleistungen, wenn sie „ausschließlich nach Maßgabe der Zahl und gegebenenfalls des Alters der Familienangehörigen“ gewährt werden, „unabhängig vom Wohnort des Empfängers und seiner Familie zahlbar“ bleiben. Die Republik Österreich kann sich daher nicht auf dieses Urteil berufen.

56 Was schließlich die Relevanz des von der Republik Österreich angeführten Urteils vom 15.1.1986, Pinna (41/84, EU:C:1986:1), anbelangt, genügt der Hinweis, dass [...] der dieser Rechtssache zugrunde liegende Rechtsstreit einen Unterschied hinsichtlich des Betrags oder der Höhe der Leistungen je nachdem, in welchem Staat die betreffenden Familienangehörigen wohnten, zum Gegenstand hatte, was zur Folge hatte, dass die erworbenen Rechte des Wander-AN geschmälert wurden und damit das Ziel, die Freizügigkeit der AN in der Union zu gewährleisten, missachtet wurde. Der Gerichtshof hat festgestellt, dass im Hinblick auf die Grundfreiheit der AN-Freizügigkeit mit Unionsrechtsvorschriften keine Unterschiede eingeführt werden dürfen, die zu denen hinzutreten, die sich bereits aus der mangelnden Harmonisierung der nationalen Rechtsvorschriften im Bereich der sozialen Sicherheit ergeben. Diese Beurteilung gilt erst 120 recht für eine nationale Bestimmung, die von dem vom Unionsgesetzgeber aufgestellten und in Art 67 VO 883/2004 normierten Grundsatz der Gleichstellung abweicht.

57 Zur Vereinbarkeit des Indexierungsmechanismus, der in der neuen Regelung für das Vereinigte Königreich innerhalb der Europäischen Union vorgesehen war, mit dem Unionsrecht ist auf zwei Gesichtspunkte hinzuweisen. Zum einen ist diese Regelung nie in Kraft getreten, weshalb die Kommission auch keinen Vorschlag zur Änderung der VO 883/2004 vorgelegt hat, der es den Mitgliedstaaten erlaubt hätte, die Sozialleistungen für Kinder, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen als der AN, zu indexieren. Zum anderen wäre eine solche Änderung – wenn sie vom Unionsgesetzgeber angenommen worden wäre – wie das Urteil vom 15.1.1986, Pinna (41/84, EU:C:1986:1), zeigt, jedenfalls im Hinblick auf Art 45 AEUV ungültig gewesen.

58 Nach alledem ist die erste Rüge, mit der ein Verstoß gegen die Verpflichtungen aus Art 67 VO 883/2004 geltend gemacht wird, begründet.

Zur zweiten Rüge: Verstoß gegen Art 4 der VO 883/2004 und Art 7 Abs 2 der VO 492/2011

[...]

93 Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass Art 3 Abs 1 der VO 1408/71, der im Wesentlichen denselben Wortlaut wie Art 4 VO 492/2011 hatte, entsprechend Art 39 EG (jetzt Art 45 AEUV) zugunsten der Personen, für die die VO galt, die Gleichbehandlung im Bereich der sozialen Sicherheit ohne Unterscheidung nach der Staatsangehörigkeit dadurch sicherstellen sollte, dass er alle Diskriminierungen beseitigt, die sich insoweit aus den nationalen Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten ergeben (Urteil vom 22.6.2011, Landtová, C-399/09, EU:C:2011:415, Rn 42).

94 Der in Art 45 AEUV verankerte Gleichbehandlungsgrundsatz wird auch in Art 7 Abs 2 VO 492/2011 konkretisiert, der klarstellt, dass ein AN, der Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats ist, im Hoheitsgebiet der anderen Mitgliedstaaten die gleichen sozialen und steuerlichen Vergünstigungen genießt wie die inländischen AN, wobei diese Bestimmung ebenso auszulegen ist wie Art 45 AEUV (Urteil vom 2.4.2020, Caisse pour l‘avenir des enfants, C-802/18, EU:C:2020:269, Rn 24 und 70 sowie die dort angeführte Rsp).

95 Der durch Art 7 Abs 2 der VO 492/2011 auf AN, die Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten sind, erstreckte Begriff der „sozialen Vergünstigung“ umfasst alle Vergünstigungen, die – ob sie an einen Arbeitsvertrag anknüpfen oder nicht – den inländischen AN im Allgemeinen gewährt werden, und zwar hauptsächlich wegen ihrer objektiven ANEigenschaft oder einfach wegen ihres Wohnorts im Inland, und deren Erstreckung auf die AN, die Staatsangehörige eines anderen Mitgliedstaats sind, deshalb als geeignet erscheint, deren Mobilität innerhalb der Union und daher auch ihre Integration im Aufnahme-Mitgliedstaat zu fördern, und dieser Begriff der sozialen Vergünstigung darf nicht eng ausgelegt werden (Urteil vom 2.4.2020, Caisse pour l‘avenir des enfants, C-802/18, EU:C:2020:269, Rn 25 und 29 sowie die dort angeführte Rsp).

96 Des Weiteren ergibt sich aus der Rsp des Gerichtshofs, dass bestimmte Leistungen sowohl Familienleistungen iS von Art 3 Abs 1 Buchst j der VO 883/2004 als auch soziale Vergünstigungen iS von Art 7 Abs 2 VO 492/2011 bilden können (Urteil vom 2.4.2020, Caisse pour l‘avenir des enfants, C-802/18, EU:C:2020:269, Rn 45 und 46 sowie die dort angeführte Rsp).

97 [...] die Familienbeihilfe und der Kinderabsetzbetrag sowohl Familienleistungen, die dem Gleichbehandlungsgrundsatz nach Art 4 VO 883/2004 unterliegen, als auch soziale Vergünstigungen, die in den Anwendungsbereich von Art 7 Abs 2 VO 492/2011 fallen, sind, während der Familienbonus Plus, der Alleinverdienerabsetzbetrag, der Alleinerzieherabsetzbetrag und der Unterhaltsabsetzbetrag nur dem Gleichbehandlungsgrundsatz nach Art 7 Abs 2 VO 492/2011 unterliegen.

98 Jedenfalls konkretisieren sowohl Art 4 VO 883/2004 als auch Art 7 Abs 2 VO 492/2011 den in Art 45 AEUV verankerten Grundsatz der Gleichbehandlung im Bereich der sozialen Sicherheit. Daher sind diese beiden Bestimmungen grundsätzlich in gleicher Weise und im Einklang mit Art 45 AEUV auszulegen.

99 Eine auf dem Wohnsitz beruhende Unterscheidung, die sich stärker zum Nachteil der Angehörigen anderer Mitgliedstaaten auswirken kann, da Gebietsfremde meist Ausländer sind, stellt nach der Rsp des Gerichtshofs eine mittelbare Ungleichbehandlung aufgrund der Staatsangehörigkeit dar, die nur dann zulässig wäre, wenn sie objektiv gerechtfertigt ist (Urteil vom 2.4.2020, Caisse pour l‘avenir des enfants, C-802/18, EU:C:2020:269, Rn 56 und die dort angeführte Rsp).

100 Im vorliegenden Fall bewirkt der Anpassungsmechanismus, dass sich die Höhe der Familienleistungen und der sozialen Vergünstigungen, auf die er abzielt, nach dem Preisniveau am Wohnort der Kinder ändert. Anpassungen nach oben oder unten werden daher nur vorgenommen, wenn das Kind nicht in Österreich wohnt. Unter diesen Umständen lässt sich die unmittelbare Verbindung zum Wohnstaat der Kinder nicht bestreiten.

101 [...] betrifft die Verringerung der Familienleistungen sowie der sozialen und steuerlichen Vergünstigungen, die sich aus dem im Anpassungsmechanismus festgelegten Kriterium des Wohnsitzes der Kinder ergibt, im Wesentlichen die Wander-AN, da insb ihre Kinder in einem anderen Mitgliedstaat wohnen können (Urteil vom 20.6.2013, Giersch ua, C-20/12, EU:C:2013:411, Rn 44). Außerdem lässt sich der dem Gerichtshof vorliegenden Akte entnehmen, dass aufgrund der Unterschiede bei den Lebenshaltungskosten in diesen Staaten im Vergleich zu jenen in Österreich, die sich in den in der Anpassungsverordnung enthaltenen Anpassungsfaktoren widerspiegeln, die AN, die von diesen Staaten aus von ihrer Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben, Familienleistungen sowie soziale und steuerliche Vergünstigungen großteils in geringerer Höhe erhalten als inländische AN.

102 Zum Vorbringen der Republik Österreich, der Anpassungsmechanismus stelle angesichts der Unterschiede im Preisniveau im Vergleich zu den betreffenden 121 Staaten sicher, dass ungleiche Sachverhalte auch entsprechend differenziert behandelt würden, genügt der Hinweis, dass die dem Anpassungsmechanismus unterliegenden Familienleis tungen sowie sozialen und steuerlichen Vergünstigungen nicht nach Maßgabe der tatsächlichen Kosten für den Unterhalt der Kinder festgesetzt werden. Diese Leistungen und Vergünstigungen werden nämlich pauschal gewährt und richten sich nach der Zahl und gegebenenfalls dem Alter der Kinder, ohne deren tatsächlichen Bedürfnissen Rechnung zu tragen.

103 Folglich betrifft der Anpassungsmechanismus, nach dem das für die Höhe der Familienleistungen sowie der sozialen und steuerlichen Vergünstigungen maßgebliche Kriterium der Auslandswohnsitz der Kinder ist, Wander-AN stärker. Er stellt daher eine mittelbare Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit dar, die nur zulässig ist, wenn sie objektiv gerechtfertigt ist.

104 Der Gerichtshof hat wiederholt entschieden, dass eine solche mittelbare Diskriminierung dann gerechtfertigt ist, wenn sie geeignet ist, die Verwirklichung eines legitimen Ziels zu gewährleis ten, und nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist (Urteil vom 2.4.2020, Caisse pour l‘avenir des enfants, C-802/18, EU:C:2020:269, Rn 58 und die dort angeführte Rsp).

105 Die [...] Rechtfertigung, wonach mit der Anpassung der Höhe der Leistungen für gebietsfremde Kinder sichergestellt werden solle, dass die Unterstützung und die daraus folgende Erleichterung der Familienlasten wertmäßig den für in Österreich wohnhaften Kindern gewährten Leistungen entsprächen, entbehrt aus den oben in Rn 102 angeführten Gründen jeder Grundlage. Darüber hinaus unterliegen die in Rede stehenden Familienleistungen und sozialen Vergünstigungen, wie bereits oben in Rn 52 ausgeführt worden ist, nicht dem Anpassungsmechanismus, wenn die Kinder in Österreich wohnen, obwohl zwischen den Regionen dieses Mitgliedstaats unstreitig Unterschiede im Preisniveau bestehen, die mit jenen vergleichbar sind, die möglicherweise zwischen der Republik Österreich und anderen Mitgliedstaaten bestehen. Diese mangelnde Kohärenz bei der Anwendung des Anpassungsmechanismus bestätigt, dass die von der Republik Österreich geltend gemachte Rechtfertigung nicht durchgreifen kann.

106 Außerdem kann die Ungleichbehandlung, die sich aus dem Anpassungsmechanismus ergibt, nicht mit dem von der Republik Österreich geltend gemachten Ziel der Gewährleistung der Unterhaltsfunktion sowie der Ausgewogenheit des Sozialsystems gerechtfertigt werden.

107 Zunächst ergibt sich nämlich [...] weder, dass eine erhebliche Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts besteht, der durch die bloße Einführung eines Anpassungsmechanismus abgeholfen werden könnte, noch, dass der Anpassungsmechanismus geeignet ist, die Verwaltung der Familienleistungen sowie der sozialen und steuerlichen Vergünstigungen zu vereinfachen. Denn selbst wenn man [...] davon ausgeht, dass die zusätzlichen Kosten des Anpassungsmechanismus sehr beschränkt seien, ändert dies nichts daran, dass es solche zusätzlichen Kosten gibt. [...] nicht bestritten, dass diese Kosten von allen getragen werden, die Beiträge zum Staatshaushalt leisten. Außerdem [...] das Risiko einer Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts des Systems der sozialen Sicherheit nicht von der Zahlung von Leistungen an AN, deren Kinder außerhalb Österreichs wohnen, herrührt, da diese Leistungen nur etwa 6 % der Aufwendungen für Familienleistungen ausmachen, sondern dass dieses Risiko sich aus dem Fehlen einer angemessenen Kontrolle in Bezug auf die Gewährung dieser Leistungen ergeben könnte.

108 Sodann beruht die Freizügigkeit der AN innerhalb der Union auf einer Reihe von Grundsätzen, darunter dem der Gleichbehandlung. Seine Umsetzung im Bereich der sozialen Sicherheit wird zudem durch eine Unionsregelung gewährleistet, die insb auf dem Grundsatz der Anwendbarkeit nur eines Rechts in diesem Bereich beruht. Mit diesem in Art 11 Abs 1 VO 883/2004 verankerten Grundsatz sollen Ungleichbehandlungen beseitigt werden, die bei AN, die innerhalb der Union zu- und abwandern, die Folge einer teilweisen oder vollständigen Kumulierung der anwendbaren Rechtsvorschriften wären. Um die Gleichbehandlung aller im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats erwerbstätigen Personen am besten zu gewährleisten, unterliegt daher nach Art 11 Abs 3 dieser VO eine Person, die in einem Mitgliedstaat eine Beschäftigung oder eine selbständige Erwerbstätigkeit ausübt, in der Regel den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats und muss nach Art 4 dieser VO dort die gleichen Leistungen erhalten wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats.

109 Schließlich hat der Gerichtshof wiederholt entschieden, dass Wander-AN mit den Steuern und Sozialabgaben, die sie im Aufnahme-Mitgliedstaat aufgrund der dort von ihnen ausgeübten unselbständigen Erwerbstätigkeit entrichten, zur Finanzierung der sozialpolitischen Maßnahmen dieses Staats beitragen. Daher müssen ihnen diese Maßnahmen unter den gleichen Bedingungen zugutekommen wie inländischen AN (Urteil vom 10.7.2019, Aubriet, C-410/18, EU:C:2019:582, Rn 33 und die dort angeführte Rsp). Dadurch wird die Bedeutung des Ansatzes bestätigt, wonach Wander-AN in Bezug auf Familienleistungen sowie steuerliche und soziale Vergünstigungen gleichbehandelt werden müssen.

dass die österreichische Familienbeihilfe durch AG-Beiträge finanziert wird, die auf der Grundlage des Gesamtbetrags der Löhne der von ihnen beschäftigten AN berechnet werden, so dass der Wander-AN in gleicher Weise wie ein inländischer AN an der Festsetzung der Höhe der von seinem AG gezahlten Beträge beteiligt ist, ohne dass es auf den Wohnort der Kinder der AN ankommt. Gleiches gilt für den Familienbonus Plus und die anderen Absetzbeträge, die dem Anpassungsmechanismus unterliegen, da diese steuerlichen Vergünstigungen aus der Steuer auf die Einkommen der AN finanziert werden, ohne danach zu unterscheiden, ob ihr Kind in Österreich wohnt oder nicht.

111 Unter diesen Umständen ist [...] davon auszugehen, dass die durch den Anpassungsmechanismus 122 eingeführte unterschiedliche Behandlung je nach dem Wohnort des Kindes des betreffenden AN weder geeignet noch erforderlich ist, um die Unterhaltsfunktion sowie die Ausgewogenheit des Sozialsystems zu gewährleisten.

112 Die zweite Rüge der Kommission ist daher ebenfalls begründet.

ANMERKUNG
1.
Problemstellung

Mit der vorliegenden (inzwischen etwa auch in ZAS 2022/44, 286 [Bilic] veröffentlichten) E hat der EuGH eine der politisch meist umstrittenen Fragen geklärt, die sich in den letzten Jahren im Hinblick auf österreichische Familienleistungen gestellt haben. Wie bei anderen familien- und sozialpolitischen Themen auch (vgl nur die – in wesentlichen Kernbereichen vom VfGH [2019/VfSlg 20.359] als verfassungswidrig qualifizierten – Verschärfungen durch das Sozialhilfe-Grundsatzgesetz BGBl I 2019/41), versuchte die damalige „türkis-blaue“ Bundesregierung und die sie tragende Parlamentsmehrheit damit dem offenbar recht populären Schlagwort „Unser Geld für unsere Leut‘“ Rechnung zu tragen.

Der rechtliche Hebel dafür war, zwar das Prinzip, dass in Österreich erwerbstätige Personen Anspruch auf Familienbeihilfe und familienbezogene steuerliche Vergünstigungen haben, als solches nicht anzutasten, auch wenn ihre ihnen gegenüber unterhaltsberechtigten Kinder sich in einem anderen Mitgliedstaat, einem EWR-Staat oder der Schweiz aufhalten. Allerdings sollte das Ausmaß dieser Ansprüche von den Lebenshaltungskosten in jenem Staat abhängen, in dem das betreffende Kind seinen dauernden Aufenthalt hat. Als Basis dafür wurde das von Eurostat veröffentlichte Preisniveau für jeden einzelnen Mitgliedstaat der EU, jede Vertragspartei des EWR und die Schweiz im Verhältnis zu Österreich herangezogen (vgl nur § 8a Abs 1 FLAG bzw § 33 Abs 3 Z 2 EStG, jeweils idF BGBl I 2018/83). Konkret festgelegt wurde dieses Verhältnis in der Familienbeihilfe-Kinderabsetzbetrag-EU-Anpassungsverordnung (BGBl II 2018/318 zuletzt idF BGBl II 2020/482). Nach deren § 2 resultierten daraus zuletzt Anpassungsfaktoren zwischen 0,464 für Bulgarien und 1,449 für Island. MaW, für ein in Bulgarien lebendes Kind gebührte einem/einer in Österreich tätigen AN weniger als die Hälfte dessen, was für ein beim jeweiligen Elternteil in Österreich lebendes Kind gebührt hätte, während für ein in Island lebendes Kind fast das Eineinhalbfache des bei einem heimischen Wohnsitz maßgebenden Betrags bezogen werden konnte.

Der Ansatz mit der Differenzierung nach den Lebenshaltungskosten wirkt auf den ersten Blick weder unplausibel noch von vornherein ungerecht. Allein, er ist nicht mit dem Unionsrecht vereinbar, was nahezu alle Expert:innen bereits damals zum Ausdruck gebracht haben (vgl insb Marhold, Indexierung der Familienbeihilfe in Österreich, ZESAR 2020, 160; Felten, Export von Sozialleistungen, SozSi 2017, 130 [137 f]; zuletzt Kovacs, Die Koordinierung von Familienleistungen, ZAS 2022/20, 59 [67]). Der EuGH hat dies klar und in der Sache überzeugend bestätigt. Die dafür maßgebenden Gesichtspunkte sollen daher nur kurz nachgezeichnet (2.) und um ein kurzes (auch rechtspolitisches) Fazit ergänzt werden (3.).

2.
Zentrale Elemente der Unionsrechtswidrigkeit

Zunächst bekräftigt der EuGH (Rn 42), dass es sich nicht nur bei der Familienbeihilfe, sondern auch beim steuerlichen Kinderabsetzbetrag um Leistungen zum Ausgleich von Familienlasten iSd Art 1 lit z der (Koordinierungs-)VO 883/2004 handelt (zu letzterem vgl nur Kovacs, ZAS 2022/20, 59 [60] mwN). Das schließt nicht aus, dass diese Leistungen auch als soziale Vergünstigungen für AN iSd Art 7 Abs 2 der (Freizügigkeits-)VO 492/2011 zu qualifizieren sind (Rn 96). Die anderen von der „Indexierung“ betroffenen Instrumente (Familienbonus Plus, Alleinverdienerabsetzbetrag, Alleinerzieherabsetzbetrag und Unterhaltsabsetzbetrag) gelten dagegen nur als „soziale und steuerliche Vergünstigungen“ iSd letztgenannten Bestimmung (Rn 97).

Diese Differenzierung hat zunächst auch eine unterschiedliche unionsrechtliche Behandlung zur Folge: Familienbeihilfen und Kinderabsetzbetrag unterliegen als Geldleistungen dem ausdrücklichen Exportgebot nach Art 7 VO 883/2004 (arg „nicht aufgrund der Tatsache gekürzt, geändert, zum Ruhen gebracht, entzogen ..., dass der Berechtigte oder seine Familienangehörigen in einem anderen als dem Mitgliedstaat wohnt bzw wohnen“). Dieses Prinzip wird durch die Spezialvorschrift für Familienleistungen in Art 67 VO 883/2004 noch unterstrichen. In der Formulierung dieser Bestimmung („als ob die Familienangehörigen in diesem Mitgliedstaat wohnen würden“) glaubte der österreichische Gesetzgeber einen Anknüpfungspunkt dafür zu sehen, bei der Höhe der Leistungen auf das Preisniveau und die Kaufkraft im Wohnsitzstaat des Kindes abstellen zu können, für das die Familienleistungen bezogen werden.

Dass ihre Kinder im Ausland leben, ist nun aber auch ein Umstand, von dem Wander-AN aus anderen Mitgliedstaaten zwangsläufig stärker betroffen sind als Inländer:innen. Insofern rückt der Aspekt der mittelbaren Diskriminierung in den Fokus, nach dem Verletzungen der Gleichbehandlungsgebote – hier sowohl des Art 4 der VO 883/2004 (nicht wie in Rn 93 offenbar irrtümlich: der VO 492/2011) als auch des Art 7 der VO 492/2011 – bekanntermaßen nur dann gerechtfertigt werden können, wenn sie geeignet sind, die Verwirklichung eines legitimen Ziels zu gewährleisten, und nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist (Rn 104). Dieser Maßstab ist dann auch ausschlaggebend für die anderen steuerlichen und sozialen Vergünstigungen nach § 33 EStG, die von der „Indexierung“ betroffen waren.

Trotz dieser Unterscheidung setzt die Argumentation des EuGH auf beiden Ebenen in ähnlicher Weise an. Sowohl im Hinblick auf die Auslegung 123 des Art 67 VO 883/2004 als auch des Art 7 VO 492/2011 betont das Europäische Höchstgericht, dass Kaufkraftunterschiede zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten keine Rolle spielen können. Bei den Familienleistungen iSd Koordinierungs-VO erhellt das insb bereits aus deren Art 68, der in Kumulierungsfällen die jeweils höchste Leistung garantiert, egal wo das Kind des/der betreffenden Wander-AN wohnt (Rn 49 f). Das korrespondiert mit dem Umstand, dass diese Leistungen – direkt oder indirekt – aus Steuern und Abgaben der im betreffenden Mitgliedstaat Erwerbstätigen, also auch der AN aus anderen Staaten, finanziert werden (vgl Rn 51 f bzw 110 f).

Erst recht gegen die „Indexierung“ spricht der Umstand, dass die Bemessung der fraglichen Leistungen nach nationalem Recht nicht nach den tatsächlichen Unterhaltskosten, sondern in pauschalierender Weise – gestaffelt nach dem Alter und allenfalls der Zahl der unterhaltsberechtigten Kinder – erfolgt (Rn 53 bzw 102). Auch bei rein innerstaatlichen Sachverhalten ist das Preisniveau irrelevant, obwohl zwischen den einzelnen Bundesländern und wohl auch zwischen städtischen und ländlichen Regionen ebenfalls nicht unerhebliche Unterschiede bestehen (können). Diese Überlegungen veranlassen den EuGH zum einen zum Schluss, dass den Wander-AN die sozialpolitischen Maßnahmen des Aufnahme-Mitgliedstaats unter den gleichen Bedingungen zugutekommen müssen wie inländischen AN (noch einmal Rn 51 f), und zum anderen, dass es an der für die sachliche Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung erforderlichen Kohärenz mangle (Rn 104 f).

Genauso wenig überraschend wie diese Argumentation ist die Verneinung der von der Bundesregierung geltend gemachten erheblichen Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts, dem durch den Anpassungsmechanismus begegnet werden müsse: Diese Gefährdung kann in der Tat nicht begründet werden, wenn nach einem Bericht des Rechnungshofes die Zahlungen an Kinder von AN, die außerhalb Österreichs wohnen, nur 6 % des Gesamtaufwands für Familienleistungen ausmachen, gleichzeitig aber die Administration der „Indexierung“ einige zusätzliche Kosten verursacht (Rn 107). Zu diesem Aufwand kommen nun auch noch die Kosten der Nachzahlungen, die zur Herstellung eines unionsrechtskonformen Zustands geleistet werden müssen (siehe unten 3.).

Besonders bemerkenswert ist schließlich die Argumentation des EuGH, mit der er dem – auch in der politischen Debatte häufig verwendeten – Hinweis begegnet, dass Österreich nur das getan habe, was die Union dem Vereinigten Königreich im Vorfeld zur Vermeidung des „Brexit“ zugestanden hätte. Abgesehen davon, dass es zu dieser Regelung bekanntlich nicht gekommen ist und daher auch keine Änderung insb des Art 67 VO 883/2004 vorgenommen wurde, ist nämlich davon auszugehen, dass eine solche Indexierung gar nicht mit dem Primärrecht vereinbar wäre. Der EuGH verweist hier (Rn 56) auf seine E in der Rs Pinna(41/84, EU:C:1986:1), in welcher er bereits 1986 die Differenzierung bei der Höhe von Familienleistungen, je nachdem, in welchem Staat die Familienangehörigen eines/einer Wander-AN wohnen (das war damals Italien, während der AN selbst in Frankreich wohnte und arbeitete), als Verletzung der AN-Freizügigkeit qualifizierte.

Insofern erweist sich der Umstand, dass auf dieses Urteil im Zuge der Vorbereitung und Entstehung der fraglichen Änderungen im FLAG bzw EStG nicht einmal Bezug genommen wurde, als besonders problematisch (vgl zuletzt auch Lehofer, ÖJZ 2022, 766). Bei dessen Berücksichtigung wäre unschwer vorauszusehen gewesen, dass der EuGH den „Indexierungsmechanismus“ nicht nur als Widerspruch zu Art 67 VO 883/2004 und Verletzung der Gleichbehandlungsgebote in Art 4 VO 883/2004 bzw Art 7 VO 492/2011 qualifizieren, sondern ihn – selbst bei Fehlen derartiger sekundärrechtlicher Vorschriften – sogar als Verletzung des Art 45 AEUV sehen würde.

3.
(Auch rechtspolitisches) Fazit

Von der nunmehrigen E durfte also niemand überrascht sein. Angesichts des rechtlichen Rahmens und seiner Vorjudikatur konnte der EuGH gar nicht anders entscheiden. Auch dass er die „restriktive Linie“, die er in anderen Bereichen eingeschlagen hat und auf die etwa Bilic in ihrer Glosse zum vorliegenden Urteil (ZAS 2022, 273) verweist, hier nicht weiterverfolgen konnte, musste eigentlich klar sein: Dort (insb in den Rs Dano [C-333/13, EU:C:2014:2358] bzw Alimanovic [C-67/14, EU:C:2015, 597]) ging es zum einen um beitragsunabhängige (!) Geldleistungen iSd Art 70 VO 883/2004 und zum anderen um nicht aktive Personen, die ihre Ansprüche in einem anderen Mitgliedstaat nicht auf die AN-Freizügigkeit, sondern vor allem auf die Unionsbürgerschaft stützen wollten.

Rechtspolitisch mögen nicht wenige mit der vorliegenden E unzufrieden sein. Diesem Unbehagen liegt wohl häufig ein „neues Gerechtigkeitsverständnis“ zu Grunde, das zwar – auch wegen entsprechender politischer Propagierung – mehrheitsfähig scheint, aber doch kritisch zu hinterfragen ist (vgl bereits meine Überlegungen in DRdA 2021, 11 f). Dies gilt umso mehr, wenn durch solche vermeintlich gerechteren Regelungen nicht nur die verheißenen Einsparungen nicht erzielt, sondern sogar erhebliche Zusatzkosten verursacht werden: So weist die Beantwortung einer einschlägigen parlamentarischen Anfrage durch die zuständige Ministerin (11709/AB vom 10.10.2022) Nachzahlungen auf Grund der durch die EuGH-E notwendigen rückwirkenden Gesetzesänderungen durch BGBl I 2022/135in Höhe von mehr als 337 Mio € aus. Vielleicht noch schwerer wiegt der zweifelhafte Ruf, den sich Österreich in Europa zunehmend erwirbt, wenn Regelungen bzw Maßnahmen getroffen werden, die weniger der Lösung von Sachproblemen dienen als vordergründige innenpolitische Ziele verfolgen, wofür sich leider auch aktuell wieder Beispiele finden (Stichwort „Grenzzäune“). 124