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Regelpensionsalter bei Geschlechtsumwandlung folgt Eintragung im Personenstandsregister zum Stichtag

SASCHA OBRECHT (WIEN)
  1. Die geschlechtsspezifische Altersgrenze des Regelpensionsalters wird durch das Geschlecht zum jeweiligen Stichtag und nicht durch die persönliche Erwerbsbiografie determiniert. Die zum Stichtag bestehende Eintragung des Geschlechts im Zentralen Personenstandsregister (ZPR) begründet darüber vor den Sozialversicherungsträgern vollen Beweis iSd § 292 ZPO (§§ 40 Abs 3, 47 Abs 1 Personenstandsgesetz [PStG])

  2. Eine Rückwirkung der neuen Eintragung kommt aus Gründen der Rechtssicherheit nicht in Betracht. Vergangene Eintragungen im ZPR über das Geschlecht sind daher unbeachtlich, sofern sie zum Stichtag nicht mehr vorliegen.

  3. Ein als Frau geborener und zum maßgeblichen Stichtag im ZPR als Mann geführter Versicherter wird trotz weiblicher Erwerbsbiografie durch das Stichtagsprinzip nicht diskriminiert, da er die gleiche Behandlung wie andere Männer erfährt.

[1] Der Kl wurde * 1960 als Frau geboren, war als solche verheiratet und gebar zwei Kinder. Im Jahr 2017 unterzog er sich einer Geschlechtsanpassungsoperation, bei der ihm die Brüste und Eierstöcke entfernt wurden. Eine genitalangleichende Operation wurde bisher nicht durchgeführt.

[2] Bis zum 23.3.2017 wurde der Kl im ZPR als Frau geführt. Auf Grund der Geschlechtsänderungsmitteilung vom 24.3.2017 wurde eine Personenstandsänderung vorgenommen. Mit Wirksamkeitsdatum 24.3.2017 wird der Kl nunmehr als Mann geführt. [...] Unstrittig beantragte der Kl am 17.12.2020 die Zuerkennung einer Alterspension ab 1.1.2021.

[3] Mit Bescheid vom 21.12.2020 lehnte die bekl Pensionsversicherungsanstalt den Antrag des Kl auf Zuerkennung einer Alterspension ab, weil der Kl das 65. Lebensjahr noch nicht vollendet habe.

[4] Mit seiner Klage begehrt der Kl die Zuerkennung einer Alterspension im gesetzlichen Ausmaß. Er habe nach wie vor primäre weibliche Geschlechtsorgane, sodass er als Frau zu behandeln sei. Er habe auch eine typisch weibliche Erwerbsbiographie mit Zeiten der Kindererziehung. [...]

[5] Dagegen wandte die Bekl vor allem ein, dass der Kl aufgrund der Personenstandsänderung vom 24.3.2017 als Mann zu behandeln sei.

[6] Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. [...]

[7] Das Berufungsgericht gab der Berufung des Kl nicht Folge. [...]

[9] Gegen dieses Urteil richtet sich die von der Bekl beantwortete Revision des Kl, mit der er die Stattgebung des Klagebegehrens anstrebt.

[10] Die Revision ist zulässig, sie ist aber nicht berechtigt.

[11] Der Kl macht in der Revision geltend, dass auch die E 10 ObS 29/09a SSV-NF 23/27 nur Lösungsansätze für die Rechtsfrage biete, unter welchen Voraussetzungen eine Person als Mann oder als Frau zu gelten habe. Insb bleibe die Frage unbeantwortet, ob die Eintragung ins ZPR konstitutiv oder nur deklarativ sei. Tatsächlich bedeute die Eintragung nicht, dass der Kl bezüglich sämtlicher daran anknüpfender Rechtsfragen so zu behandeln sei, als wäre er immer Mann gewesen. Den Kl trotz seiner typisch weiblichen Erwerbsbiographie als männlichen Versicherten iSd § 253 Abs 1 ASVG anzusehen, sei diskriminierend. Der Kl habe den Vorteil des früheren Pensionsantrittsalters nicht mit der Geschlechtsänderungsmitteilung vom 24.3.2017 aufgeben wollen. [...]

Dazu ist auszuführen:

1.
Transsexualität:

[12] 1.1 Bei Transsexualität [...] ist ein Mensch eindeutig genetisch und/oder anatomisch bzw hormonell einem Geschlecht (männlich/weiblich) zugewiesen, fühlt sich in diesem Geschlecht aber falsch oder unzureichend beschrieben bzw lehnt auch jede Form der Geschlechtszuordnung und Kategorisierung ab. [...]

[13] 1.2 Auch das PStG 2013 [...] sagt nichts darüber aus, wann davon auszugehen ist, dass sich das Geschlecht einer Person geändert hat. Die österreichische Rechtsordnung und auch das soziale Leben gehen (nach wie vor) davon aus, dass jeder Mensch entweder weiblich oder männlich ist. Welchem Geschlecht operierte Transsexuelle zuzuordnen sind, hat bisher – anders als etwa in Deutschland (vgl dazu ausführlich 10 ObS 29/09a SSV-NF 23/27) – keine gesetzliche Regelung gefunden. [...]

2.
Rechtslage nach dem ASVG:

[14] 2.1 Gem § 253 (1) ASVG hat Anspruch auf Alterspension der Versicherte nach Vollendung des 65. Lebensjahres (Regelpensionsalter), die Versicherte nach Vollendung des 60. Lebensjahres (Regelpensionsalter), wenn die Wartezeit (§ 236 ASVG) erfüllt ist. Diese gesetzliche Regelung eines unterschiedlichen Anfallsalters für den Anspruch auf Alterspension für Männer und Frauen ist gem § 1 des Bundesverfassungsgesetzes über unterschiedliche Altersgrenzen von männlichen und weiblichen Sozialversicherten [...] zulässig. Dessen §§ 2 und 3 statuieren ein bundesverfassungsgesetzliches Gebot an den Gesetzgeber, für weibliche Versicherte die Altersgrenze jährlich mit 1. Jänner um sechs Monate zu erhöhen, und zwar für die Alterspension beginnend mit 1.1.2024 bis 2033. [...]

[15] 2.2 Der Versicherungsfall gilt gem § 223 Abs 1 Z 1 ASVG bei Leistungen aus den Versicherungsfällen des Alters mit der Erreichung des Anfallsalters als eingetreten (RS0111060 [T1]). Der Stichtag für die Feststellung, ob der Versicherungsfall eingetreten ist und auch die anderen Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind, [...] ist gem § 223 Abs 2 ASVG [...] der Tag der Antragstellung, wenn dieser auf einen Monatsersten fällt, sonst der dem Tag der Antragstellung folgende Monatserste. [...] 135

3.
Personenstandsrecht:

[...]

[17] 3.2 Gem § 1 Abs 1 PStG ist der Personenstand iSd PStG die sich aus den Merkmalen des Familienrechts ergebende Stellung einer Person innerhalb der Rechtsordnung einschließlich ihres Namens. [...] Das „Geschlecht“ zählt gem § 2 Abs 2 Z 3 PStG zu den allgemeinen Personenstandsdaten, es ist gem § 11 Abs 1 PStG aus Anlass der Geburt des Kindes in das ZPR einzutragen. [...]

[19] 3.4 [...] Maßgeblich ist [...] die psychische Komponente des Zugehörigkeitsempfindens zum anderen Geschlecht: Ist dieses Zugehörigkeitsempfinden aller Voraussicht nach weitgehend irreversibel und nach außen in der Form einer deutlichen Annäherung an das äußere Erscheinungsbild des anderen Geschlechts zum Ausdruck gekommen, ist der österreichischen Rechtsordnung kein Hindernis zu entnehmen, das eine personenstandsrechtliche Berücksichtigung des für die Allgemeinheit relevanten geschlechtsspezifischen Auftretens hindern würde (deutlich auch in der Folgeentscheidung VwGH2009/17/0263; ebenso auch zum Namensänderungsgesetz 1988 idF BGBl 1995/25VwGH2008/06/0032 VwSlg 17746 A/2009 und VfGHB 1973/08).

[20] 3.5 Weiters entspricht es der Rsp des VwGH, dass [...] Verfahren nach dem PStG [...] der Beurkundung dienen und nicht etwa über den Personenstand konstitutiv absprechen. [...]

[21] 3.6 [...] Mit Erlass des BMI vom 9.9.2020, GZ 2020-0.571.947, wurde die Durchführungsanleitung hinsichtlich des Eintrags des Geschlechts ergänzt. Seither ist es für Menschen [...] zulässig, ihr Geschlecht abweichend von den bisher definierten Geschlechtskategorien männlich oder weiblich zum Ausdruck zu bringen („inter“, „divers“, „offen“) oder auch keine Angabe über das Geschlecht zu machen.

[...]

[23] 3.8 In der [...] E 10 ObS 29/09a SSV-NF 23/27 beantragte die Kl, die männlichen Geschlechts geboren wurde, nach Durchführung einer Geschlechtsumwandlungsoperation die Zuerkennung einer Alterspension im Alter von 61 Jahren, die ihr auch gewährt wurde. Mit der Begründung, sie hätte als Frau bereits mit Vollendung des 60. Lebensjahres eine Alterspension beantragen können, begehrte die Kl allerdings auch die Bonifikation gem § 261c ASVG. Diesen Anspruch verneinte der OGH mit der wesentlichen Begründung, dass eine „Rückwirkung“ der Feststellung der weiblichen Identität nicht in Betracht komme (Rainer in SV-Komm [109. Lfg] § 253 ASVG Rz 27; näher zu dieser E Leischner, Die Höhe der Alterspension einer postoperativen Mann-zu-Frau-Transsexuellen, iFamZ 2009, 332; Ivansits, Bonifikation einer Alterspension nach Geschlechtsumwandlung, DRdA 2011/17, 148 [152]). [...]

4.
Anwendung dieser Rsp im konkreten Fall:

[...]

[25] 4.2 Der Umstand, dass beim Kl bisher keine genitalangleichende Operation durchgeführt wurde, hinderte daher nicht die Eintragung der Änderung des Geschlechts als Mann am 24.3.2017. Auf den in der Revision hervorgehobenen Umstand, dass dem Kl zum damaligen Zeitpunkt die erst infolge des Erk des VfGHG 77/2018 erweiterten Eintragungsmöglichkeiten betreffend das Geschlecht noch nicht offen standen, muss hier nicht weiter eingegangen werden: Da der Kl [...] als Mann im ZPR geführt wird und auch keine (weitere) Änderung dieser Eintragung veranlasste, muss die Frage des Anfallsalters für die Alterspension bei einer nicht auf „männliches Geschlecht“ lautenden Eintragung im ZPR hier nicht beurteilt werden. [...]

[26] 4.3 Richtig ist, dass die Eintragung des Geschlechts des Kl im ZPR nach der [...] Rsp des VwGH nicht konstitutiv, sondern lediglich deklarativ wirkt. [...] Das PStG 2013 enthält [...] in § 40 Abs 3 die Regelung, dass die Eintragung [...] vollen Beweis iSd § 292 Abs 1 ZPO begründet. § 40 Abs 3 PStG 2013 [...] ermöglicht den Einrichtungen des Bundes, der Länder und der Gemeinden sowie der Körperschaften des öffentlichen Rechts in ihren Verfahren die entsprechenden Daten des ZPR [...] zu verwenden, ohne dabei eigene Verfahrensvorschriften (zB § 143 Abs 1 AußStrG, § 31 Abs 1 GBG etc) zu verletzen [...]. Diese Regelung soll demnach auch verdeutlichen, dass die Urkundenvorlage vor den Behörden und Gerichten nunmehr durch die Einsichtnahme in das ZPR ersetzt wird (vgl ErläutRV 1907 BlgNR 24. GP 11). Auch die Sozialversicherungsträger [...] haben diese Daten zu verarbeiten.

[28] 4.5 Soweit der Kl in der Revision die Auffassung vertritt, dass die Eintragung als Mann im ZPR nicht bedeute, dass er bezüglich sämtlicher daran anknüpfender Rechtsfragen so zu behandeln sei, als wäre er immer ein Mann gewesen, ist an dem in der E 10 ObS 29/09a [...] dargelegten Grundsatz festzuhalten, dass eine „Rückwirkung“ der Eintragung [...] nicht in Betracht kommt. Wollte man dieses Argument des Kl konsequent weiterdenken, müsste man etwa einem Mann, der vor Vollendung des 60. Lebensjahres sein Geschlecht in eine Frau ändert, die Zuerkennung einer Alterspension mit Vollendung des 60. Lebensjahres verweigern, weil bis zu diesem Zeitpunkt eine „typisch männliche“ Erwerbsbiographie vorliege. Dies würde allerdings 136 nach der dargestellten Rsp des EuGH eine Diskriminierung der Frau wegen ihres Geschlechts darstellen.

[29] 4.6 [...] Dem Argument des Revisionswerbers, der Gesetzgeber habe bei Einführung des Stichtagsprinzips keine diskriminierende Rechtslage schaffen wollen, ist entgegenzuhalten: [...]

Der Kl erfährt [...] infolge seiner Geschlechtsumwandlung keine weniger günstige Behandlung als ein anderer Mann, der sein bereits bei der Geburt eingetragenes Geschlecht behalten hat, weil auch jener eine Alterspension erst nach Vollendung des 65. Lebensjahres in Anspruch nehmen kann. [...]

[30] 5. Die Revision muss daher erfolglos bleiben. [...]

ANMERKUNG

Während in Deutschland bereits im Jahr 1980 mit dem Transsexuellengesetz (dt BGBl I 1980/56) klar geregelt wurde, unter welchen Voraussetzungen und zu welchem Zeitpunkt eine Geschlechtsänderung rechtlich anerkannt wird, lässt der österreichische Gesetzgeber diese Frage unverändert offen. Die Lösung wird der Judikative überlassen. In der vorliegenden E wurde einem als Frau geborenen Versicherten trotz weiblicher Erwerbsbiografie inklusive Zeiten der Kindererziehung und Doppelbelastung das „frühere“, weibliche Pensionsantrittsalter verwehrt, da er zum maßgeblichen Stichtag als Mann im ZPR eingetragen war. Warum dem OGH darin zuzustimmen ist, dass der ZPR-Eintragung zwar konstitutive Wirkung zukommt, der Sachverhalt dennoch Raum für eine alternative Lösung geboten hätte, mit der die (iSd Datenrichtigkeit des ZPR durchaus erwünschte) Eintragung einer Geschlechtsumwandlung kurz vor Pensionsantrittsalter nicht mit einer fünfjährigen Verzögerung des Versicherungsfalleintritts sanktioniert wird, soll die folgende Anmerkung zeigen.

1.
Die Vorgeschichte zur Entscheidung

Per Kaiserlicher Verordnung begann im Jahr 1914, was 2033 aller Voraussicht nach endet: das unterschiedliche Pensionsantrittsalter von Frauen und Männern (Kaiserliche Verordnung vom 25.6.1914 betreffend die PV von Angestellten RGBl 1914/138; Bundes-Verfassungsgesetz (BVG) über unterschiedliche Altersgrenzen von männlichen und weiblichen Sozialversicherten BGBl 1992/832; folgend: BVG Altersgrenzen). Diese Regelung erlangte vor allem durch die Aufhebung durch den VfGH aufgrund des Verstoßes gegen den Gleichheitssatz (VfGH 6.12.1990, G 223/88) und der darauffolgenden „Reparatur“ des Verfassungsgesetzgebers Bekanntheit: So wurde zwar eine schrittweise Angleichung im Zeitraum zwischen 2024-2033 vorgesehen, die unterschiedlichen Regelpensionsantrittsalter für Frauen (60) und Männer (65) jedoch trotz der inhaltlichen Einwände des VfGH als BVG neuerlich beschlossen, und damit gleichzeitig einer weiteren Prüfung des VfGH entzogen.

Außerdem ist für die weitere Befassung mit der E auch noch ein Urteil des OGH aus 2009 (OGH10 ObS 29/09aDRdA 2011/17 [Ivansits] = iFamZ 2009, 332 [Leischner]; folgend: Vorgänger-E) zu beachten, da es den spiegelgleichen Fall behandelte und noch darauf Bezug genommen wird: Einer als Mann geborenen Frau wurde der Anspruch auf Alterspension gemäß den frauenspezifischen Altersgrenzen zugesprochen, weil zum Stichtag bereits die Geschlechtsumwandlung zur Frau im Geburtenbuch eingetragen war.

2.
Die durch den OGH implizierte, konstitutive Wirkung der Eintragung

Da der Anspruch auf Alterspension bei Frauen und Männern an die Vollendung unterschiedlicher Lebensjahre geknüpft ist (§ 253 ASVG), kommt der Frage des Geschlechts zum maßgeblichen Zeitpunkt (Stichtagsprinzip gem § 223 Abs 2 ASVG) zentrale Bedeutung zu. Ob der ZPR-Eintragung für diese Beurteilung deklarative oder konstitutive Wirkung zukommt, wird vom OGH wie bereits in der Vorgänger-E jedoch nur implizit beantwortet. Er führt einerseits aus, dass sich der Kl ab der von ihm veranlassten Geschlechtsänderungsmeldung rechtlich als Mann behandeln lassen muss. Andererseits, dass es keine „Rückwirkung“ der Eintragung gibt, und der Kl somit vor der Eintragung nicht als Mann zu behandeln war. Damit stellt die Eintragung im ZPR die maßgebliche Zäsur dar, ihr wird vom OGH sohin – wenn auch nicht explizit so ausgesprochen – konstitutive Wirkung zugebilligt. In der Vorgänger-E deutet das Höchstgericht dies bereits unter Hinweis auf die damit einhergehende Rechtssicherheit und einem Rechtsvergleich mit Deutschland (§ 10 dt Transsexuellengesetz geht von einer konstitutiven Wirkung bei Änderung des Geburtenbuchs aus) an. Mangels anderslautender Regelung in der österreichischen Rechtsordnung, der gesetzlichen Postulierung der vollen Beweiskraft einer ZPR-Eintragung (vgl §§ 40 Abs 3, 47 Abs 1 PStG) und dem Umstand, dass in der Verwaltungspraxis ein mittlerweile standardisiertes Prozedere für eine Änderung des Geschlechts im ZPR vorliegt (konkret bedarf es eines medizinischen Gutachtens, mit dem das Zugehörigkeitsempfinden zum anderen Geschlecht, die voraussichtliche Irreversibilität desselben und eine deutliche Annäherung an das äußere Erscheinungsbild des anderen Geschlechts belegt werden muss), ist dem OGH hierbei uneingeschränkt beizupflichten.

3.
Teleologische Interpretation des BVG Altersgrenzen

Es stellt sich jedoch die Frage, ob dem maßgeblichen Begriffspaar „männliche und weibliche Versicherte“, für die gem § 1 BVG Altersgrenzen unterschiedliche Altersgrenzen vorgesehen werden können, nicht ein anderer Wertgehalt zu Grunde liegt, als durch einen bloßen Abgleich mit dem aktuellen ZPR-Eintrag zum Ausdruck kommt. 137

3.1.
Der Telos des BVG Altersgrenzen

Die Materialien zum BVG sind für die Ergründung des Telos des BVG freilich nicht sonderlich aufschlussreich. So wird in den ErläutRV (737 BlgNR 18. GP 3 f) lediglich auf das Erk des VfGH hingewiesen und die Gründe für die Aufhebung der Bestimmung nochmals erörtert: (a) das aus der Lehre stammende Argument der Doppelbelastung von Frauen (Marschall, Der Gleichheitsgrundsatz und das Sozialversicherungsrecht, in Heller, Sozialversicherungsrecht und Bundesverfassung – Gutachten für den 1. Österreichischen Juristentag [1961] 56 [107 f]) stimme nicht, weil es außer Acht ließe, dass Frauen keine homogene Gruppe seien. Vielfach würden eben jene Frauen, die sich vollends der Kindererziehung und Pflege widmeten, mangels ausreichender Versicherungsmonate, gar nicht von der Regelung profitieren. Dies treffe stattdessen vor allem auf Frauen ohne Betreuungspflichten zu. Außerdem (b) sei das Argument der geringeren körperlichen Beanspruchbarkeit von Frauen in dieser Pauschalität (ErläutRV 555 BlgNR 5. GP 2) inkorrekt, was sich durch die höhere durchschnittliche Lebenserwartung von Frauen auch belegen ließe.

Zum BVG Altersgrenzen selbst findet sich in den ErläutRV nur der Hinweis, dass sich die Regierungsparteien auf eine schrittweise Angleichung in der entfernten Zukunft geeinigt hätten (ErläutRV 737 BlgNR 18. GP 3), um dem auch vom VfGH aufgeworfenen Argument des Vertrauensschutzes gerecht zu werden. Inhaltlich ließ man die Regelung – abgesehen von der Befristung – gleich.

Es bestehen daher zwei mögliche Begründungen, warum man die Regelung mit einer derart langen Übergangsfrist unverändert beibehielt: (1) die unveränderte Vorstellung der nunmehr als Verfassungsgesetzgeber auftretenden Gesetzgebung eine bestehende Ungleichbehandlung von Frauen in der Gesellschaft und insb im Erwerbsleben ausgleichen zu wollen oder (2) dem VfGH-Argument des Vertrauensschutzes Rechnung zu tragen.

Gegen zweitere Interpretation des gesetzgeberischen Willens sprechen jedoch gleich drei Gründe: Erstens wäre der Vertrauensschutz auch mit einer kürzeren Befristung der unterschiedlichen Antrittsalter gewahrt geblieben. Zweitens wählten die Regierungsparteien für die Reparatur der inkriminierten Regelung ein BVG, was darauf hindeutet, dass es der Prüfkompetenz des VfGH entzogen werden sollte (im Hinblick auf die erneut drohende Verfassungswidrigkeit angesichts der lang gewählten Übergangsfrist und der erneut homogenen Betragungsweise auf die Situation von Frauen ohne Differenzierung nach einer tatsächlichen Doppelbelastung, wohl auch aus gutem Grund).

Das dritte Gegenargument ist das schwerwiegendste: der subjektive Wille des Verfassungsgesetzgebers. Mangels aufschlussreicher ErläutRV oder AB muss hierzu der Blick ins Stenografische Protokoll bemüht werden. Aussagen eines einzelnen Parlamentsmitglieds vermögen zwar noch keinen umfassenden Aufschluss über den subjektiven Willen des Gesetzgebers zu geben, eine systematische Betrachtung der Wortmeldungen der Vertreter:innen der verfassungsgebenden Mehrheit jedoch schon (F. Bydlinski/P. Bydlinski, Grundzüge der juristischen Methodenlehre3 [2018] 41 f). So meldeten sich insgesamt 20 Vertreter:innen der mit Verfassungsmehrheit ausgestatteten Regierungsparteien in Nationalrat (12) und Bundesrat (8) zu diesem BVG zu Wort. 18 davon befassten sich in unterschiedlicher Ausprägung mit der Benachteiligung von Frauen in der Gesellschaft und im Erwerbsleben sowie der vorherrschenden Doppelbelastung für berufstätige Frauen, die diese Regelung begründet habe, und dass deren Auslaufen nur unter der Bedingung der fortschreitenden Gleichberechtigung der Geschlechter zugestimmt werden könne. Die verbliebenen zwei Vertreter begründeten das lange Festhalten an der Regelung mit dem durch den VfGH auferlegten Gedanken des Vertrauensschutzes (Nationalrat S 90 18. GP 9985-10032 bzw Bundesrat S 562 26973-26993).

Es kann damit festgestellt werden, dass der Telos des BVG Altersgrenzen der gewünschte Ausgleich war, für die unverändert klar überwiegend Frauen treffende Doppelbelastung durch familiäre Betreuungspflichten und Erwerbstätigkeit (ein Befund der auch 2022 noch zutrifft; zuletzt für viele Stadt Wien, Ergebnisse der Wiener Frauenbefragung [2022] 26: 54 % der berufstätigen Wienerinnen geben an, dass sie überwiegend für die Kinderbetreuung zuständig sind, umgekehrt sind es 6 %).

Dass der VfGH eben jene Regelung in seinem Erk als unsachlich und ungeeignet zur Erreichung des gewünschten Zwecks betrachtete, muss für teleologische Erwägungen unbeachtlich bleiben, da die Regelung trotz dieser Einwände erneut und sogar in Verfassungsrang beschlossen wurde, und der „Respekt vor der gesetzgebenden Gewalt und die Sicherung ihres Vorranges vor der Rechtsprechung“ (Canaris, Die verfassungskonforme Auslegung und Rechtsfortbildung, in FS Kramer [2004] 141 [148 ff]) dies gebietet.

3.2.
Die „weibliche Versicherte“

Im Lichte dieser Erwägungen ist die Argumentation des Kl nachvollziehbar. Ihn traf die Doppelbelastung einer Frau tatsächlich, da er zwei Kinder gebar und erwerbstätig war. Er wollte, dass seine überwiegend als Frau erbrachten Versicherungsmonate, auch trotz seines aktuellen ZPR-Eintrags als Mann, Eingang in die Beurteilung finden. Dem hätte der OGH auch folgen können. Dass es versicherte Personen mit weiblichen und männlichen Versicherungszeiten gibt, hat der Verfassungsgesetzgeber nämlich schlicht nicht bedacht. Ohne dem Stichtagsprinzip zuwider zu laufen, hätte die Prüfung des Geschlechts daher zum Stichtag genauso lauten können: „Liegen mehr Versicherungsmonate als Frau oder als Mann vor?“, womit auch dem Telos des BVG Altersgrenzen besser zur Geltung verholfen worden wäre.

Diese Zeiten sind auch klar durch die konstitutive Änderung des Geschlechts im ZPR trennbar, und hätten im konkreten Fall bei einer Betrachtung am Stichtag zu einem Überwiegen der Versicherungsmonate als Frau geführt. Das Überwiegensprinzip 138 ist zudem dem Pensionsversicherungsrecht auch nicht fremd, kommt es doch insb bei der Prüfung des Vorliegens von Berufsschutz nach § 255 ASVG zur Anwendung (Födermayr in Mosler/Müller/Pfeil [Hrsg], Der SV-Komm § 255 ASVG Rz 112 f).

Verbleibende Hürde für eine derartige, teleologische Interpretation bleibt die Frage, ob unter dem äußersten Wortsinn von „weiblicher Versicherter“ auch Personen mit überwiegend weiblicher Versicherungsvergangenheit trotz Geschlechtsumwandlung subsumierbar sind. Bei einer Überwiegensbetrachtung der Versichertenzeiten des Kl ist dies sogar die näherliegende Interpretation und sohin vom Wortsinn gedeckt. Damit wird dem Versicherten im Übrigen auch nicht seine Geschlechtsidentität abgesprochen, sondern lediglich statuiert, dass Zeiten des anderen Geschlechts während des Erwerbslebens überwogen haben.

3.3.
Zum Verbot der Rückwirkung einer ZPREintragung

Bleibt noch das vom OGH in der Vorgänger-E statuierte Verbot der Rückwirkung einer Eintragung. Damit wurde der als Mann geborenen Frau zwar die Alterspension entlang der frauenspezifischen Altersgrenzen gewährt, jedoch eine rückwirkende Anerkennung des neuen Geschlechts vor der Änderung im Geburtenbuch versagt. In der vorliegenden E wird eben jenes Verbot der Rückwirkung herangezogen, um zu erläutern, dass der Kl nicht so zu behandeln sei, als „wäre er immer ein Mann gewesen“. Der OGH bleibt hier in seiner Argumentation zur Vorentscheidung konsistent, übersieht jedoch, dass diese rechtliche Beurteilung die Argumentation des Kl stärkt und nicht schwächt. Der Kl strebt nämlich rechtlich just danach, dass seine weibliche Erwerbsbiografie in die rechtliche Beurteilung Eingang findet und nicht, dass er so behandelt wird, als wäre er immer ein Mann gewesen.

3.4.
Die europäische Komponente

Wie ist diese rechtliche Beurteilung aber nun mit der Vorgänger-E in Einklang zu bringen? Auf den ersten Blick gar nicht, denn nach dieser Logik hätte einer Frau mit überwiegend männlichen Versicherungsmonaten der frühere Pensionsantritt verwehrt bleiben müssen. Hier hat der OGH jedoch richtigerweise die EuGH-Rsp in einem gleich gelagerten Fall beachtet (EuGH 27.4.2006, C-423/04, Richards), wonach es Art 4 Abs 1 RL 79/7/EWG (ABl L 1979/6, 24) widerspricht, wenn aufgrund der Nichtanerkennung einer Geschlechtsumwandlung zur Frau das für Frauen frühere Pensionsantrittsalter verwehrt wird.

In der Vorgänger-E ging es folglich um eine drohende Benachteiligung bei Nichtanerkennung der Geschlechtsumwandlung. Dies ist konträr zur vorliegenden E zu sehen, da dem Kl mit dem früheren Pensionantrittsalter ein potentieller Vorteil gegenüber Männern winkt, die keine weibliche Erwerbsbiografie samt Doppelbelastung haben. Eine derartige Besserstellung kann jedoch nur durch den affirmativen Charakter einer positiv diskriminierenden Maßnahme ihre sachliche Rechtfertigung finden. Art 157 Abs 4 AEUV scheidet als Rechtsgrundlage dafür aus, da der frühere Pensionsantritt eine Maßnahme ist, die erst nach Ende der Erwerbstätigkeit schlagend wird und somit keine Auswirkungen auf die Berufslaufbahn hat (EuGH 29.11.2001, C-366/99, Griesmar, Rz 64-66). In Frage kommt jedoch Art 23 GRC, der zwar nicht unmittelbar anwendbar ist, aber bei der Auslegung von Art 4 Abs 1 RL 79/7/EWG vom EuGH Berücksichtigung finden muss (vgl Art 51 Abs 1 GRC). Art 23 GRC bezieht sich nach der Rsp des EuGH auch entgegen des Wortlauts nicht nur auf Männer und Frauen, sondern kann auch für positiv diskriminierende Maßnahmen zu Gunsten transsexueller Personen (Mohr in Franzen/Gallner/Oetker [Hrsg], Kommentar zum europäischen Arbeitsrecht4 [2022] Art 23 GRC Rn 10 mwN) ins Treffen geführt werden. Der frühere Pensionsantritt eines Mannes mit überwiegend weiblicher Erwerbsbiografie kann dabei als „spezifische Vergünstigung“ (Art 23 GRC) verstanden werden, um zu gewährleisten, dass er nicht durch die Befürchtung einer Verschlechterung seiner rechtlichen Position davon abgehalten wird, eine Annäherung zu dem Geschlecht vorzunehmen, dem er sich zugehörig fühlt. Nicht zuletzt auch, weil die Diskrepanz zwischen genetischem und zugehörig gefühltem Geschlecht eine schwere psychische Belastung sein kann. Aufgrund der Qualifikation als positiv diskriminierende Maßnahme folgt, dass auch das Europarecht dem früheren Pensionsantritt eines Mannes mit überwiegend weiblicher Erwerbsbiografie nicht entgegen gestanden wäre.

4.
Zum obiter non dictum – nicht-binäre Geschlechtskategorien

Der OGH lässt die Frage bewusst offen, wie mit Eintragungen umzugehen ist, die von den Geschlechtskategorien männlich und weiblich abweichen (momentan: „inter“, „divers“, „offen“ bzw die Streichung des Geschlechtseintrags). Dabei wird sich zunächst der Frage zu stellen sein, ob hier eine planwidrige Lücke vorliegt, die einen Analogieschluss benötigt. Im Gegensatz zum Sachverhalt der vorliegenden E ist für nicht-binäre Geschlechter nicht nur die interpretativ lösbare Frage der Zuordnung zu einer der beiden gesetzlich geregelten Geschlechtskategorien zu beurteilen, sondern die Behandlung einer gänzlich nicht geregelten Geschlechtskategorie offen. Da der Verfassungsgesetzgeber im Jahr 1992 von einem binären Geschlechtssystem ausgegangen ist und nur deswegen kein Pensionsantrittsalter für davon abweichende Versicherte vorgesehen hat, ist diese Lücke als planwidrig zu betrachten. Sie kann unkompliziert mit einer teleogischen Interpretation geschlossen werden: Zweck der Bestimmung war – wie bereits oben ausgeführt – eine Privilegierung des weiblichen Geschlechts. Frauen sollen aufgrund der Ungleichbehandlung in der Gesellschaft bis zum Jahr 2033 in den Genuss eines früheren Regelpensionsantrittsalters kommen. Ein nicht-weibliches Geschlecht kann daher nicht in dieselbe Regelung fallen. Denn das wesentliche Kriterium für das frü 139 here Pensionsantrittsalter, die Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht, erfüllen neben den Männern auch die anderen Geschlechtskategorien nicht. Es handelt sich daher um gleichgelagerte Fälle, die durch Analogieschluss gleich zu behandeln sind.

Folgt man der bisherigen Argumentation des OGH ist daher relevant, ob die Geschlechtseintragung im ZPR zum Stichtag auf „weiblich“ lautet. Bei davon abweichenden Eintragungen ist der Anspruch auf Alterspension gem § 253 ASVG vor Vollendung des 65. Lebensjahres zu verwehren. Folgt man der vom Autor vorgeschlagenen rechtlichen Beurteilung wird in diesen Fällen darauf abzustellen sein, ob zum Stichtag innerhalb der Wartezeit überwiegend „weibliche“ Versicherungsmonate oder „andere“ Versicherungsmonate vorliegen. Für die Feststellung, welchem Geschlecht ein Monat zuzurechnen ist, ist – im Einklang mit der Judikatur des OGH – auf die jeweiligen konstitutiv wirkenden Eintragungen im ZPR während der Wartezeit abzustellen.