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Androgenetischer Haarausfall zwar regelwidriger Körperzustand, aber nicht behandlungsbedürftig – keine Kostenübernahme durch die Krankenversicherung

ANNA LISAENGELHART (SALZBURG)
  1. Bei dem androgenetischen Haarausfall kann es sich insofern um einen regelwidrigen Körperzustand handeln, der den sozialversicherungsrechtlichen Krankheitsbegriff erfüllt, als dieser vorzeitig (und nicht erst im fortschreitenden Alter) zu einem (dauerhaften) Haarverlust führt.

  2. Das Fehlen von Kopfhaar kann zu einem optischen Defizit führen, das subjektiv als störend empfunden wird, aber im Allgemeinen nicht als entstellend Betroffene beurteilt.

  3. Der behauptete Schutz des Kopfs vor Sonneneinstrahlung und Kälte mag zwar eine Funktion des Kopfhaars sein, die durch sein Fehlen beeinträchtigt wird. Diese Beeinträchtigung bedarf aber keiner ärztlichen Hilfe.

  4. Die bloße Möglichkeit des Umschlagens einer psychischen Belastung in eine psychische Störung mit Krankheitswert ist aber keine Krankheit iSd § 120 Abs 1 Z 1 ASVG und daher auch kein entsprechender Versicherungsfall. Die Rsp verlangt vielmehr eine hohe Wahrscheinlichkeit des Eintritts einer psychischen Krankheit und der Notwendigkeit einer ärztlichen Behandlung.

Die Vorinstanzen wiesen das Begehren des 1992 geborenen Kl auf Übernahme der Kosten für bestimmte Präparate und Maßnahmen zur Behandlung des bei ihm diagnostizierten androgenetischen Haarausfalls mit der Begründung ab, dass keine behandlungsbedürftige Krankheit vorliegt.

Die dagegen gerichtete außerordentliche Revision des Kl ist nicht zulässig.

Dem Kl ist darin zuzustimmen, dass es sich bei dem androgenetischen Haarausfall insofern um einen regelwidrigen Körperzustand handeln kann, der den sozialversicherungsrechtlichen Krankheitsbegriff erfüllt, als dieser vorzeitig (und nicht erst im fortschreitenden Alter) zu einem (dauerhaften) Haarverlust führt (vgl 10 ObS 160/06m SSV-NF 21/12 zum strahlungsbedingten Haarverlust). Wird ein regelwidriger Körperzustand bejaht, kommt es auf die vom Kl aufgeworfene Frage, ob die Verneinung eines solchen Zustands bei altersbedingtem männlichen Haarausfall eine geschlechtsspezifische Diskriminierung darstellt, nicht entscheidend an. Selbst wenn man mit dem Kl das Vorliegen eines regelwidrigen Körperzustands bejaht, folgt daraus aber nicht die Berechtigung des vom Kl begehrten Anspruchs auf Kostenübernahme.

Das Fehlen der Kopfbehaarung des Mannes ist in erster Linie ein störender optischer Zustand (10 ObS 160/06m SSV-NF 21/12). Kosmetische Behandlungen gelten (nur) als Krankenbehandlung, wenn sie der Beseitigung anatomischer oder funktioneller Krankheitszustände dienen (§ 133 Abs 3 ASVG). Solche Krankheitszustände nimmt die Rsp etwa bei entstellendem Aussehen (10 ObS 160/06m SSV-NF 21/12) oder bei Behinderung einer Körperfunktion (3 Ob 175/13a [Nasenatmung]; 8 Ob 32/85 [Lidschluss]) an.

Das Fehlen von Kopfhaar kann zu einem optischen Defizit führen, das Betroffene subjektiv als störend empfinden, wird aber im Allgemeinen nicht als entstellend beurteilt (vgl 10 ObS 160/06m SSV-NF 21/12). Dass der Haarverlust beim Kl zu einem entstellenden Aussehen führen wird, behauptet er in der Revision auch nicht.

Der in der Revision behauptete Schutz des Kopfs vor Sonneneinstrahlung und Kälte mag eine Funktion des Kopfhaars sein, die durch sein Fehlen beeinträchtigt wird. Diese Beeinträchtigung bedarf aber keiner ärztlichen Hilfe.

Die in § 120 Abs 1 Z 1 ASVG normierte Voraussetzung der Behandlungsbedürftigkeit einer Krankheit ist dann erfüllt, wenn der regelwidrige Zustand ohne ärztliche Hilfe nicht mit Aussicht auf Erfolg behoben, zumindest aber gebessert oder vor einer Verschlimmerung bewahrt werden kann oder wenn die ärztliche Behandlung erforderlich ist, um Schmerzen oder sonstige Beschwerden zu lindern (RIS-Justiz RS0117777 [T1]). Notwendig ist in diesem Sinn jede Maßnahme, die zur Erreichung des Zwecks unentbehrlich oder unvermeidlich ist (10 ObS 55/21t; 10 ObS 135/14x SSV-NF 28/73).

Nach den Feststellungen kann ein hinreichender Schutz des Kopfes gegen Belastung mit Sonnenstrahlen durch einfache Maßnahmen gewährleistet werden, insb das Tragen einer geeigneten Kopfbedeckung, die auch Schutz gegen Kälte bietet. 140

Die vom Kl gewünschte Behandlung ist zur Erreichung dieses Zwecks also nicht unentbehrlich oder unvermeidlich. Die Beurteilung der Vorinstanzen, die die Notwendigkeit der geforderten Behandlung verneinten, hält sich somit im Rahmen der höchstgerichtlichen Rsp.

Soweit der Kl in diesem Zusammenhang darauf abstellt, dass es im Zeitpunkt der Behandlung bloß vertretbar sein müsse, sie als medizinisch notwendig anzusehen, bezieht sich dieses Kalkül nach der Rsp des OGH auf die Frage, ob bei bloßem Krankheitsverdacht eine Kostenübernahme zu erfolgen hat, wenn sich nachträglich herausstellt, dass eine Krankheit nicht vorliegt (RS0127741). Auch der Verdacht, der nach dem Stand der medizinischen Wissenschaft vertretbar zu sein hat, muss sich allerdings auf eine Krankheit beziehen, die (unter der Annahme der Richtigkeit des Verdachts) alle sonstigen Voraussetzungen für eine Krankenbehandlung erfüllt. Auch die Kosten der Behandlung einer in dem Sinn (nur) vertretbar vermuteten Krankheit sind nicht von der Versichertengemeinschaft zu tragen, wenn die Maßnahme zur Erreichung des Zwecks nicht unentbehrlich oder unvermeidlich ist. Eine unrichtige Beurteilung der Vorinstanzen zeigt die Revision somit auch insofern nicht auf.

Der Kl führt zutreffend aus, dass eine psychische Folgeerkrankung eine Krankheit im sozialversicherungsrechtlichen Sinn darstellen und eine Kostenübernahme für ihre notwendige Behandlung rechtfertigen kann (10 ObS 160/06m SSV-NF 21/12). Die bloße Möglichkeit des Umschlagens einer psychischen Belastung in eine psychische Störung mit Krankheitswert ist aber keine Krankheit iSd § 120 Abs 1 Z 1 ASVG und daher auch kein entsprechender Versicherungsfall (RS0110227). Die Rsp verlangt vielmehr eine hohe Wahrscheinlichkeit des Eintritts einer psychischen Krankheit und der Notwendigkeit einer ärztlichen Behandlung (RS0110227 [T2]).

Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall nicht erfüllt. Soweit der Kl im Rechtsmittel ausführt, dass die von ihm gewünschte Behandlung geeignet sei, psychische Erkrankungen präventiv zu verhindern und bei Abbruch der Behandlung das Risiko bestünde, dass ernsthafte gesundheitliche Probleme auftreten, geht er nicht vom festgestellten Sachverhalt aus, nach dem das Unterbleiben einer Versorgung des Kl mit den von ihm begehrten Präparaten und Maßnahmen oder eine Verschlechterung des bei ihm bestehenden androgenetischen Haarausfalls nicht kausal zum Eintritt eines regelwidrigen Geisteszustands führen werden, der eine Krankenbehandlung erforderlich machen würde. Auf die vom Kl geortete Uneinheitlichkeit der Rsp zur Beurteilung von (eingetretenen) psychischen Folgeerkrankungen, kommt es im vorliegenden Fall nicht an.

[...]

ANMERKUNG
1.
Einleitung

In der vorliegenden E hat der OGH die außerordentliche Revision des Kl mangels Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO zu Recht zurückgewiesen. Der OGH hat zwar ausgeführt, dass bei Vorliegen eines androgenetischen Haarausfalls dieser sehr wohl als regelwidriger Körperzustand zu qualifizieren sei; eine Behandlungsbedürftigkeit ergebe sich jedoch nicht. Auch die bloße Möglichkeit des Umschlagens einer psychischen Belastung in eine psychische Störung mit Krankheitswert führe nicht zum Vorliegen eines Versicherungsfalls, weshalb eine Übernahme der Kosten der begehrten Präparate und Maßnahmen mangels Krankheit zu Recht abzulehnen war.

2.
Krankheitsbegriff iSd § 120 ASVG

Gem § 120 Z 1 ASVG wird Krankheit als regelwidriger Körper- oder Geisteszustand definiert, der eine Krankenbehandlung notwendig macht. Er unterscheidet sich daher insofern von dem Krankheitsbegriff der WHO („Gesundheit bedeutet, ein Zustand des umfassenden körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht lediglich das Freisein von Krankheit und Schwäche“), als jener des ASVG zweigliedrig („Regelwidrigkeit“ und „Behandlungsbedürftigkeit“) ausgestaltet ist (siehe auch RIS-Justiz RS0084692).

2.1.
Regelwidrigkeit

Ein regelwidriger Körper- oder Geisteszustand liegt immer dann vor, wenn es aus Sicht des Versicherten aufgrund von störenden Symptomen einer ärztlichen Behandlung bedarf und aus Sicht des Arztes eine solche auch erforderlich erscheint (Engelhart, Abgrenzung zu Lifestyle-Produkten, in Auer-Mayer/Pfeil/Prantner [Hrsg], Aktuelle Fragen zu Medikamenten [2018] 108 mwN; Windisch-Graetz in Mosler/Müller/Pfeil [Hrsg], Der SV-Komm § 120 ASVG Rz 4).

Inwiefern ein Körperzustand bereits regelwidrig ist, kann oftmals auch schon durch den Laien festgestellt werden, wohingegen die Annahme einer psychischen Beeinträchtigung mit Krankheitswert viel eher einer ärztlichen Bewertung bedarf; dies macht die Rsp (zB OGH10 ObS 12/06x3DRdA 2007/40, 37 [Binder]; OGH10 ObS 160/06m ZAS 2008, 36 [Kietaibl] = SSF-NF 21/12) zur sogenannten Lifestyle-Medikation und den in diesem Zusammenhang behandelten psychischen Folgeerkrankungen vielfach schwer nachvollziehbar.

Aufgrund des jungen Alters des Kl ist dem OGH zuzustimmen, dass ein androgenetischer Haarausfall im Einzelfall durchaus einen regelwidrigen Körperzustand darstellen kann. Anders wäre dies wohl bei einem lediglich altersbedingten Haarausfall zu bewerten.

2.2.
Behandlungsbedürftigkeit

Da der Krankheitsbegriff des § 120 Z 1 ASVG aber zweigliedrig ausgestaltet ist, ist es nicht ausreichend, dass ein Körper- oder Geisteszustand bereits regelwidrig ist, sondern bedarf es des zusätzlichen Kriteriums der Behandlungsbedürftigkeit 141 (OGH10 ObS 227/03k ZAS 2006/14, 88 [Pfeil]; Felten/Mosler in Mosler/Müller/Pfeil [Hrsg], Der SVKomm § 133 ASVG Rz 25). Diese hat der OGH in der gegenständlichen E zu Recht verneint.

Ob ein regelwidriger Zustand auch behandlungsbedürftig ist, wird durch die in § 133 ASVG normierten Ziele der Krankenbehandlung abgesteckt. Demnach muss durch die Krankenbehandlung die Gesundheit, die Arbeitsfähigkeit und die Fähigkeit, für die lebenswichtigen persönlichen Bedürfnisse zu sorgen, nach Möglichkeit wiederhergestellt, gebessert oder gefestigt werden. Vor diesem Hintergrund ist die Behandlungsbedürftigkeit gegeben, wenn der regelwidrige Zustand ohne ärztliche Hilfe nicht mit Aussicht auf Erfolg behoben, zumindest aber verbessert oder vor Verschlimmerungen bewahrt werden kann (Felten/Mosler in Mosler/Müller/Pfeil [Hrsg], Der SV-Komm § 133 ASVG Rz 27; Windisch-Graetz in Mosler/Müller/Pfeil [Hrsg], Der SV-Komm § 120 ASVG Rz 5). Letztlich gilt sie auch dann als angenommen, wenn die ärztliche Hilfe erforderlich ist, um Schmerzen oder sonstige Beschwerden zu lindern oder um eine Verlängerung der Lebenszeit zu erreichen (Windisch-Graetz in Mosler/Müller/Pfeil [Hrsg], Der SV-Komm § 120 ASVG Rz 5 mwN; OGH10 ObS 99/08v ZAS 2010, 87 [Firlei] = ARD 5952/7/2009; OGH10 ObS 135/14x ARD 6440/11/2015 = DRdA-infas 2015/83, 89).

Zwar kann durch gewisse Präparate unter Umständen ein Haarausfall verhindert oder verbessert werden; es stellt sich jedoch die Frage, ob tatsächlich auch ein behandlungsbedürftiger Zustand vorliegt – dies vor dem Hintergrund der Ziele der Krankenbehandlung.Der OGH kommt daher zu Recht zum Schluss, dass zwar eine fehlende Kopfbehaarung unter Umständen vereinzelt als subjektiv störend empfunden, aber im Allgemeinen nicht als entstellend gewertet werden kann. Auch das Argument des Schutzes des Kopfes vor Sonneneinstrahlung und Kälte lehnt der OGH zu Recht ab; schließlich kann der Schutz des Kopfes vor Sonneneinstrahlung auch durch andere einfache Maßnahmen gewährleistet werden. Die Einnahme von Haarwuchspräparaten ist sohin nicht zur Erreichung dieses Zwecks unentbehrlich oder unvermeidlich. Schließlich gilt, dass bei Vorliegen von Alternativen zur (ärztlichen) Krankenbehandlung – wie insb durch ein bestimmtes Verhalten des Versicherten –, durch die ein Schutz erwirkt werden kann, keine sozialversicherungsrechtliche Behandlungsbedürftigkeit gegeben ist (Auer-Mayer, Mitwirkung in der Sozialversicherung [2018] 529 f mwN).

3.
Psychische Folgeerkrankung

Dem Wortlaut des § 120 ASVG entsprechend – und auch bereits oben ausgeführt – werden aber nicht nur regelwidrige Körperzustände, sondern auch psychische Beeinträchtigungen mit Krankheitswert von der Leistungspflicht der KV mitumfasst (OGH10 ObS 250/98g SZ 71/132). Es muss demnach in Bezug auf eine psychische Beeinträchtigung ebenfalls eine Regelwidrigkeit vorliegen, die eine Krankenbehandlung notwendig erscheinen lässt.

Wodurch eine psychische oder seelische Krankheit ausgelöst wurde, ist aufgrund des in der KV vorherrschenden Finalitätsprinzips jedoch nicht von Bedeutung (OGH10 ObS 12/06xDRdA 2007/40, 373 [Binder]; OGH10 ObS 99/08v ZAS 2010, 87 [Firlei] = ARD 5952/7/2009). Die Leistungspflicht beinhaltet daher auch Kosten für ärztliche oder psychotherapeutische Hilfe sowie für die erforderlichen Heilmittel, wenn eine psychische Erkrankung eine Folgeerscheinung eines regelwidrigen (und gegebenenfalls nicht behandlungsbedürftigen) Körperzustands darstellt (Felten/Mosler in Mosler/Müller/Pfeil [Hrsg], Der SV-Komm § 133 ASVG Rz 64).

Fraglich ist aber vor allem, welche Behandlungsart die KV in einem solchen Fall zu ersetzen hat; lediglich ärztliche oder psychotherapeutische Hilfe oder auch zB sogenannte Lifestyle-Medikamente, die das die psychische Erkrankung auslösende Grundleiden (ohne Krankheitswert) bekämpfen (Engelhart, Abgrenzung zu Lifestyle-Produkten, in Auer-Mayer/Pfeil/Prantner [Hrsg], Aktuelle Fragen zu Medikamenten 109 mwN). Zu diskutieren ist daher, ob die KV unter Umständen auch (oftmals geringere) Kosten für eine vorübergehende Behandlung oder Linderung des körperlichen Grundleidens übernehmen muss, wenn diese Maßnahme eigentliche keine notwendige Krankenbehandlung darstellt, dadurch aber eine psychische Folgeerkrankung verhindert, behoben oder zumindest gelindert werden kann (Engelhart, Abgrenzung zu Lifestyle-Produkten, in Auer-Mayer/Pfeil/Prantner [Hrsg], Aktuelle Fragen zu Medikamenten 120). Bejaht man dies, kommt es zB zur umstrittenen Kostenübernahme von Potenzmitteln (OGH10 ObS 12/06xDRdA 2007/40, 373 [Binder]; krit ua Felten/Mosler, Grenzen der Krankenbehandlung, DRdA 2015, 482). Aufgrund einer erektilen Dysfunktion erlitt der Versicherte in der Folge eine psychische Beeinträchtigung mit Krankheitswert. Der OGH (10 ObS 12/06xDRdA 2007/40, 373 [Binder]) folgerte, dass eine Leistungspflicht in Bezug auf das Potenzmittel dann gegeben sei, sofern durch den Einsatz des Potenzmittels die psychische Folgeerkrankung zweckmäßig behandelt werden könne. Umgekehrt verneinte der OGH (10 ObS 247/98s ARD 4997/17/99; 10 ObS 115/98dDRdA 1999/27, 222 [Enzlberger] = SSV-NF 12/82) zuvor aber eine Kostenübernahme für eine In-Vitro-Fertilisation mit dem Argument, dass damit nicht die Ursache der bestehenden Regelwidrigkeit, sondern ein anderes Ziel, nämlich der unerfüllte Kinderwunsch, bekämpft wird. Dies gelte selbst dann, wenn durch den unerfüllten Kinderwunsch eine Depression ausgelöst wurde. Eine solche sei schließlich psychiatrisch und nicht gynäkologisch zu behandeln (OGH10 ObS 247/98s ARD 4997/17/99; OGH10 ObS 115/98d

[Enzlberger]
= SSV-NF 12/82).

Einen zur In-Vitro-Fertilisation-Entscheidung etwas abgeschwächten Weg schlug der OGH in Zusammenhang mit einem Haarausfall nach einer Bestrahlung eines Krebspatienten ein. Eine Kostenübernahme könne zwar grundsätzlich in Betracht gezogen werden, sofern der Haarausfall zu einer psychischen Störung mit Krankheitswert führe. 142 Es bedürfe jedoch – ähnlich den Ausführungen in der hier zu besprechenden E – eines Nachweises, dass der durch die Strahlenbehandlung hervorgerufene Haarausfall der einzige Grund für den Eintritt der psychischen Erkrankung sei (OGH10 ObS 160/06m ZAS 2008, 36 [Kietaibl] = SSF-NF 21/12). Ein dementsprechender Nachweis wird jedoch in der Regel nur schwer gelingen.

Aus diesen doch uneinheitlichen Entscheidungen ist ersichtlich, dass bislang noch keine gefestigte Judikatur zur psychischen Folgeerkrankung und der damit einhergehenden Leistungspflicht der KV in Bezug auf nicht notwendige Krankenbehandlungen, die den regelwidrigen Grundleidenszustand bekämpfen sollen, besteht. Dennoch lässt sich die gegenständliche E in die bisherige Rechtsprechungslinie einordnen; auch hier verlangt der OGH im Falle einer tatsächlichen psychischen Folgeerkrankung einen Kausalitätsnachweis. Dem OGH ist jedenfalls zuzustimmen, dass die bisherige Uneinheitlichkeit für den gegenständlichen Fall aber wenig Relevanz zeigt. Schließlich liegt beim hier gegenständlichen Kl (noch) keine psychische Folgeerkrankung vor und stellt die bloße Möglichkeit eines Umschlagens einer psychischen Beeinträchtigung in eine Störung mit Krankheitswert nach ständiger zutreffender Rsp (RIS-Justiz RS0110227; OGH10 ObS 41/10tDRdA 2011, 161 = SSV-NF 24/50; OGH10 ObS 115/98d

[Enzlberger
] = SSV-NF 12/82) noch keine eine Leistungspflicht auslösende Krankheit iSd § 120 Z 1 ASVG dar (so auch Felten/Mosler, Grenzen der Krankenbehandlung, DRdA 2015, 477, 481).

Durch den nunmehr geforderten bzw angesprochenen Kausalitätsnachweis wird in Zukunft im Falle der Folgeerkrankung wohl wieder vermehrt auf die unmittelbar geeignete (psychiatrische oder psychotherapeutische) Behandlungsmaßnahme zurückgegriffen werden müssen. Zwar können Haarwuchs- und Potenzmittel wohl durchaus indirekt zum Behandlungserfolg führen, dadurch wird schließlich der Auslöser der psychischen Erkrankung bekämpft. Mit diesem Ansatz müsste jedoch alles und jedes auf Kosten der KV zur Verfügung gestellt werden, sofern eine (subjektive) Beeinträchtigung (ohne Krankheitswert) zu einer Depression geführt hat. In diesem Zusammenhang stellt sich außerdem auch die Frage, ob man sich nicht viel eher ansehen sollte, warum diese (subjektive) Beeinträchtigung überhaupt zu einer psychischen Erkrankung führen konnte (Engelhart, Abgrenzung zu Lifestyle-Produkten, in Auer-Mayer/Pfeil/Prantner [Hrsg], Aktuelle Fragen zu Medikamenten 120).

4.
Fazit

Der OGH hat zu Recht darauf hingewiesen, dass im gegenständlichen Fall die bisher uneinheitliche Rsp zur psychischen Folgeerkrankung keine Rolle spielt, da eine solche vom Kl nicht nachgewiesen wurde. Sofern lediglich die Möglichkeit des Umschlagens in eine Beeinträchtigung mit Krankheitswert besteht, liegt unstrittig (RIS-Justiz RS0110227) de lege lata noch keine Krankheit iSd § 120 ASVG vor (Felten/Mosler, Grenzen der Krankenbehandlung, DRdA 2015, 477). Auch in Bezug auf die weiteren Ausführungen, wonach außerdem ein Kausalitätsnachweis erbracht werden müsste, dass der androgenetische Haarausfall einzige Ursache für eine psychische Folgeerkrankung darstellt, orientiert sich der OGH an seiner letzten vergleichbaren E (OGH10 ObS 160/06m ZAS 2008, 36 [Kietaibl] = SSF-NF 21/12). Es ist jedenfalls erfreulich, wenn auch in Zukunft eine Leistungspflicht der KV in Bezug auf sogenannte Lifestyle-Medikamente eher restriktiv gesehen wird und vorrangig eine die psychische Beeinträchtigung behandelnde Maßnahme von der KV übernommen wird. Jedenfalls ist eine Differenzierung je nach Grundleiden gänzlich abzulehnen. 143