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Verpflichtung zur Anrechnung von Kindererziehungszeiten im EU-Ausland

JOHANNARACHBAUER

Die 1957 geborene Kl erwarb in Österreich zunächst als Lehrling und nach ihrem Studium aufgrund einer selbständigen Erwerbstätigkeit Beitragsmonate in der Pflichtversicherung. Von Oktober 1986 bis Februar 1993 lebte sie im Vereinigten Königreich, in Belgien und in Ungarn. In dieser Zeit gebar sie zwei Kinder und erzog diese, erwarb jedoch in keinem der drei Staaten Versicherungszeiten in der PV und erhielt auch keine Leistung aufgrund Kindererziehung oder -betreuung. Nachdem sie wieder nach Österreich zurückkehrte, war sie unselbständig und selbständig erwerbstätig. Bis Oktober 2017 erwarb sie in Österreich 366 Versicherungsmonate, wovon 29 Monate Ersatzzeiten sind.

Die bekl Pensionsversicherungsanstalt anerkannte ihren Anspruch auf Alterspension ab 1.11.2017 mit einer monatlichen Pension von € 1.079,15. Dagegen erhob die Kl Klage und begehrte eine höhere Alterspension durch Anerkennung ihrer Kindererziehungszeiten für den Zeitraum von 5.12.1987 bis 31.1.1993 als Ersatzzeiten iSd § 227a ASVG bzw § 116a GSVG.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab, weil die Voraussetzungen des Art 44 Durchführungsverord111nung (DVO) 987/2009 für die Anrechnung von in einem anderen Mitgliedstaat zurückgelegten Kindererziehungszeiten nicht vorlägen. Auch das Berufungsgericht gab der Berufung der Kl nicht Folge, da es sich bei Art 44 DVO 987/2009 um eine gem Art 21 AEUV zulässige Beschränkung der Freizügigkeit handle. Dagegen richtet sich die Revision der Kl.

Der OGH sprach aus, dass die Revision zulässig und berechtigt ist. Mit Beschluss vom 13.10.2020, 10 ObS 109/20g, legte er dem EuGH folgende Fragen zur Vorabentscheidung vor:

  1. Ist Art 44 Abs 2 DVO 987/2009 dahin auszulegen, dass er der Berücksichtigung von in anderen Mitgliedstaaten verbrachten Kindererziehungszeiten durch einen für die Gewährung einer Alterspension zuständigen Mitgliedstaat, nach dessen Rechtsvorschriften die Pensionswerberin mit Ausnahme dieser Kindererziehungszeiten ihr gesamtes Erwerbsleben hindurch eine Beschäftigung oder eine selbständige Erwerbstätigkeit ausgeübt hat, schon deshalb entgegensteht, weil diese Pensionswerberin zu dem Zeitpunkt, zu dem die Berücksichtigung der Kindererziehungszeit für das betreffende Kind nach den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats begann, weder eine Beschäftigung noch eine selbständige Erwerbstätigkeit ausgeübt hat?

Für den Fall der Verneinung der ersten Frage:

  1. Ist Art 44 Abs 2 Satz 21 erster Halbsatz DVO 987/2009 dahin auszulegen, dass der gemäß Titel II der VO883/2004 zuständige Mitgliedstaat Kindererziehungszeiten nach seinen Rechtsvorschriften generell nicht berücksichtigt, oder nur in einem konkreten Fall nicht berücksichtigt?

Der EuGH hat mit Urteil vom 7.7.2022, C-576/20, Pensionsversicherungsanstalt, wie folgt zu Recht erkannt:

Art 44 Abs 2 der DVO 987/2009 ist dahin auszulegen, dass, wenn die betreffende Person die in dieser Bestimmung aufgestellte Voraussetzung der Ausübung einer Beschäftigung oder selbständigen Erwerbstätigkeit für die Berücksichtigung von in anderen Mitgliedstaaten zurückgelegten Kindererziehungszeiten nicht erfüllt, dieser Mitgliedstaat nach Art 21 AEUV verpflichtet ist, diese Zeiträume zu berücksichtigen, sofern diese Person ausschließlich in diesem Mitgliedstaat gearbeitet und Beiträge entrichtet hat, und zwar sowohl vor als auch nach der Verlegung ihres Wohnsitzes in einen anderen Mitgliedstaat, in dem sie diese Zeiten zurückgelegt hat.

Begründend führte der EuGH aus, dass das Ziel, den Grundsatz der Freizügigkeit gem Art 21 AEUV zu wahren, auch im Rahmen der VO 883/2004 und der DVO 987/2009 gilt. Art 44 DVO 987/2009 regelt die Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten, die ein und dieselbe Person in mehreren Mitgliedstaaten zurücklegt, nicht abschließend. Die Rsp, die auf das Urteil Reichel Albert zurückgeht (EuGH 19.7.2012, C-522/10), kann auf eine Situation wie im vorliegenden Verfahren übertragen werden, der Sachverhalt ist vergleichbar. Die Kl hat ausschließlich im pensionszahlungspflichtigen Mitgliedstaat gearbeitet und Beiträge entrichtet, und zwar sowohl vor als auch nach ihrem Umzug nach Belgien und Ungarn. Zwischen den von der Kl im Ausland zurückgelegten Kindererziehungszeiten und den aufgrund der Ausübung einer Erwerbstätigkeit in Österreich erworbenen Versicherungszeiten besteht daher eine hinreichende Verbindung. Folglich ist davon auszugehen, dass die österreichischen Rechtsvorschriften für die Berücksichtigung und Anrechnung dieser Zeiten im Hinblick auf die Gewährung der Alterspension anzuwenden sind. Hätte die Kl Österreich nicht verlassen, wären die Kindererziehungszeiten bei der Berechnung ihrer österreichischen Alterspension berücksichtigt worden. Die Kl war daher nur deshalb benachteiligt, weil sie von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, was gegen Art 21 AEUV verstößt.

Damit war im nun vorliegenden fortzusetzenden Verfahren vor dem OGH klargestellt, dass Österreich dazu verpflichtet ist, die im Ausland verbrachten Kindererziehungszeiten der Kl gem Art 21 AEUV für die Gewährung der Alterspension zu berücksichtigen. Der OGH gab daher der Revision Folge und änderte die Urteile der Vorinstanzen im klagsstattgebenden Sinn ab.