61

Aufhebung des Rückforderungstatbestandes der irrtümlichen Auszahlung des Kinderbetreuungsgeldes

JOHANNARACHBAUER

Die Behauptung einer irrtümlichen Auszahlung des Kinderbetreuungsgeldes an die Kl vermag den von der Bekl geltend gemachten Rückforderungsanspruch mangels Anwendbarkeit des § 31 Abs 2 S 1 Fall 2 KBGG nicht (mehr) schlüssig zu begründen, sodass die in der Revision begehrte Abweisung des Klagebegehrens unter Auferlegung einer Rückersatzpflicht der Kl darauf nicht gestützt werden kann.

Der Bekl, die sich in erster Instanz auf einen nicht mehr anzuwendenden Rückforderungstatbestand berief, ist Gelegenheit zu geben, den von ihr geltend gemachten Rückforderungsanspruch schlüssig darzulegen.

SACHVERHALT

Die Kl war von 21.1.2016 bis 20.12.2017 in Österreich unselbständig erwerbstätig. Im Zeitraum von 21.12.2017 bis 12.4.2018 galt anlässlich der Geburt ihres Kindes ein Beschäftigungsverbot nach dem MSchG und die Kl bezog Wochengeld. Von 13.4. bis 27.4.2018 meldet die DG hinsichtlich der Kl den Bezug von „Urlaubsabfindung, Urlaubsentschädigung“. Die Kl beantragte das pauschale Kinderbetreuungsgeld als Konto in der Variante 365 Tage ab der Geburt des Kindes und legte eine Karenzvereinbarung vom 27.2.2018 sowie ein als „Kündigung des Arbeitsverhältnisses“ betiteltes Schreiben vom 6.4.2018 vor. Aus der Karenzvereinbarung geht hervor, dass die Kl von 7.4.2018 bis 8.2.2020 in Karenzurlaub sei. Aus dem Schreiben vom 6.4.2018 geht hervor, dass das Dienstverhältnis per 6.4.2018 durch den DG wegen Karenzierung gekündigt werde. In der Folge wurde eine Ausgleichszahlung zum Kinderbetreuungsgeld von 13.4. bis 31.12.2018 gewährt.

Mit Bescheid vom 17.7.2020 widerrief die Bekl die Gewährung des Kinderbetreuungsgeldes und verpflichtete die Kl zur Rückzahlung von € 6.309,37. In der dagegen gerichteten Klage begehrt die Kl die Feststellung, dass der Rückforderungsanspruch nicht zu Recht bestehe. Die Bekl wandte zusammengefasst ein, dass aufgrund der Scheinkarenz keine der Beschäftigung gleichgestellte Situation iSd VO 883/2004 gegeben sei, weshalb kein grenzüberschreitendes Element zu Österreich vorliege und ausschließlich Ungarn für den verfahrensgegenständlichen Zeitraum für die Gewährung von Familienleistungen zuständig sei. Die Kl und ihre Familie würden weder in Österreich leben noch in Österreich erwerbstätig sein. Es bestehe kein Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld in Österreich.

Verfahren und Entscheidung

Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt. Rechtlich ging es davon aus, dass die Bekl nur den Rückforderungstatbestand des § 31 Abs 2 S 1 KBGG geltend mache, woran es gebunden sei. Danach sei der Leistungsempfänger auch dann zur Rückzahlung verpflichtet, wenn der zugrunde liegende Fehler für den Leistungsempfänger gar nicht erkennbar gewesen sei. Zur Vermeidung eines ansonsten verfassungswidrigen Ergebnisses sei es angezeigt, diesen Rückforderungstatbestand einschränkend in dem Sinn auszulegen, dass nicht jede beliebige Neubewer125tung der bereits ursprünglich bekannten Umstände eine Grundlage für eine Rückforderung bieten könne.

Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung. Einer Rückforderung ausschließlich wegen eines Behördenfehlers oder eines Irrtums der Behörde, ohne dass sich ein Sachverhaltselement nachträglich als nicht vorliegend herausgestellt oder geändert hätte, und ohne dass der Kl deswegen ein Vorwurf zu machen sei, sei aus den dargelegten verfassungsrechtlichen Bedenken entgegenzutreten. Das Berufungsgericht ließ die Revision mit der Begründung zu, dass keine höchstgerichtliche Rsp zur Frage der verfassungskonformen Auslegung der Bestimmung des § 31 Abs 2 Fall 2 KBGG vorliege.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der Bekl, mit dem Antrag auf Abänderung der Entscheidungen der Vorinstanzen im klageabweisenden Sinn, verbunden mit dem Ausspruch einer Verpflichtung der Kl zum Rückersatz von € 6.309,37.

Der OGH entschied im Beschluss vom 20.4.2022 (10 ObS 44/20a), dass die Revision zulässig ist, widersprach der Rechtsansicht der Vorinstanzen, wonach der geltend gemachte Rückforderungstatbestand nicht anzuwenden sei, und stellte aufgrund verfassungsrechtlicher Bedenken den Antrag beim VfGH, den Rückforderungstatbestand des § 31 Abs 2 S 1 Fall 2 KBGG als verfassungswidrig aufzuheben. Aufgrund der E des VfGH wurde das Revisionsverfahren von Amts wegen fortgesetzt und der Revision Folge gegeben. Die Urteile der Vorinstanzen wurden aufgehoben und die Sache an das Erstgericht zurückverwiesen.

Originalzitate aus der Entscheidung

„[…]

1.2. Unter anderem aufgrund dieses Antrags [Anm: des OGH vom 20.4.2022, 10 ObS 44/20a] hob der Verfassungsgerichtshof mit Erkenntnis vom 28.9.2022, GZ G 181/2022-11, G 203/2021-10, G 232/2022-4, die Wortfolge „oder die Auszahlung von Leistungen irrtümlich erfolgte,“ in § 31 Abs 2 KBGG als verfassungswidrig auf. Weiters wurde ausgesprochen, dass die Aufhebung mit Ablauf des 31.10.2023 in Kraft tritt und frühere gesetzliche Bestimmungen nicht wieder in Kraft treten.

1.3. Auch wenn der Verfassungsgerichtshof ausgesprochen hat, dass die Aufhebung erst mit Ablauf des 31.10.2023 in Kraft tritt, ist die aufgehobene Norm doch auf den vorliegenden „Anlassfall“ nicht anzuwenden (Art 140 Abs 7 B VG). […]

2.1. Obwohl der Rückzahlungspflichtige im Verfahren vor dem Sozialgericht formell als Kl aufzutreten und ein negatives Feststellungsbegehren zu stellen hat, kommt die materielle Klägerrolle dem bekl Versicherungsträger zu, der bereits erbrachte Leistungen zurückfordert. Der bekl Versicherungsträger hat die einen Rückforderungsanspruch begründenden Tatsachen zu behaupten und zu beweisen. Wird das Rückforderungsbegehren ausdrücklich auf einen bestimmten Rechtsgrund gestützt, so ist das Gericht daran gebunden und darf dem Begehren nicht aus einem anderen Rechtsgrund stattgeben.

2.2. Die Bekl stützte ihr Rückzahlungsbegehren nach Erörterung durch das Erstgericht ausdrücklich auf eine irrtümlich erfolgte Auszahlung, sodass bereits die Vorinstanzen ihre Prüfung auf den Rückforderungstatbestand des § 31 Abs 2 S 1 Fall 2 KBGG beschränkten; das Berufungsgericht sah das über diesen Rückforderungstatbestand hinausgehende Berufungsvorbringen […] aufgrund Verstoßes gegen das Neuerungsverbot als unbeachtlich an. Auch dem OGH ist eine Prüfung allfälliger anderer Rückforderungsgründe verwehrt.

2.3. Die Behauptung einer irrtümlichen Auszahlung des Kinderbetreuungsgelds an die Kl vermag den von der Bekl geltend gemachten Rückforderungsanspruch mangels Anwendbarkeit des § 31 Abs 2 S 1 Fall 2 KBGG nicht (mehr) schlüssig zu begründen, sodass die in der Revision begehrte Abweisung des Klagebegehrens unter Auferlegung einer Rückersatzpflicht der Kl darauf nicht gestützt werden kann.

3. Nach § 182a ZPO hat das Gericht das Sach- und Rechtsvorbringen der Parteien mit diesen zu erörtern und darf seine Entscheidung auf rechtliche Gesichtspunkte, die eine Partei erkennbar übersehen oder für unerheblich gehalten hat, nur stützen, wenn es diese mit den Parteien erörtert und ihnen Gelegenheit zur Äußerung gegeben hat. Das hat umso mehr bei geänderter Rechtslage zu gelten. Die Parteien müssen Gelegenheit haben, zur neuen Rechtslage ein Vorbringen zu erstatten.

Das bedeutet, dass der Bekl, die sich in erster Instanz […] auf einen nicht mehr anzuwendenden Rückforderungstatbestand berief, Gelegenheit zu geben ist, den von ihr geltend gemachten Rückforderungsanspruch schlüssig darzulegen.

4.1. Der Revision der Bekl ist daher Folge zu geben und die Rechtssache zur Verfahrensergänzung und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückzuverweisen.“

Erläuterung

Die vorliegende E ergibt sich aus der Aufhebung der Wortfolge „oder die Auszahlung von Leistungen irrtümlich erfolgte,“ in § 31 Abs 2 KBGG durch den VfGH mit Erkenntnis vom 28.9.2022, G 181/2022, G 203/2021, G 232/2022. Es ist daher lohnend, einen Blick auf die Begründung dieses Erkenntnisses zu werfen:

Der VfGH teilte die verfassungsrechtlichen Bedenken des OGH und begründete die Aufhebung der fraglichen Wortfolge mit mehreren Argumenten. Zum einen ist der Irrtum der Behörde, welcher die Rückforderung begründet, für die betroffenen Leistungsbezieher:innen nicht erkennbar. Aus der Leistungsmitteilung der Behörde geht ein solcher Irrtum nicht hervor und dürfen Leistungsbezieher:innen aufgrund dieser davon ausgehen, dass ihnen das Geld zur Bestreitung 126der Kinderbetreuung zur Verfügung steht. Dem Ziel des KBGG entsprechend treffen sie bestimmte Dispositionen, insb im Hinblick auf die Einschränkung der Erwerbsarbeit, die im Nachhinein nicht mehr umkehrbar sind. Der VfGH kann daher vor diesem Hintergrund keine sachliche Rechtfertigung dafür erkennen, dass das Risiko einer unrichtigen Beurteilung der Anspruchsvoraussetzungen – trotz Bekanntsein aller maßgeblichen Umstände – von den Leistungsempfänger:innen zu tragen sein soll.

Weiters argumentiert der VfGH, dass keine Besserstellung im Vergleich zu Eltern, welche von vorneherein das Kinderbetreuungsgeld mangels Anspruchs nicht beantragt haben, eintrete. Dies deshalb, weil zweitere – da sie nicht von einer entsprechenden Leistung ausgehen konnten – auch keine Dispositionen in Erwartung dieser Leistung treffen. Auch das Argument der Notwendigkeit dieses Rückforderungstatbestandes aus verwaltungsökonomischen Gründen lässt der VfGH nicht gelten, da es keine Rechtfertigung dafür darstellt, weshalb das Risiko einer irrtümlich gezahlten Leistung von den Leistungsempfänger:innen zu tragen sein soll. Er verweist ferner darauf, dass es weiterhin die Rückforderungsmöglichkeit nach den übrigen Tatbeständen des § 31 Abs 1 und 2 KBGG gibt. Schließlich stellt der VfGH fest, dass es sich bei den von dem einschlägigen Rückforderungstatbestand Betroffenen nicht um bloße „Härtefälle“ handelt, die hinzunehmen sind, sondern dass in der Regelung des § 31 Abs 2 2. Fall KBGG Fälle wie der vorliegende gerade angelegt sind.

Die Wortfolge „oder die Auszahlung von Leistungen irrtümlich erfolgte,“ in § 31 Abs 2 KBGG wurde folglich als verfassungswidrig aufgehoben, wobei die Aufhebung erst mit Ablauf des 31.10.2023 in Kraft tritt. Da der Kl jedoch das Anlassfallprivileg zugutekam, konnte das Begehren der Abweisung des Klagebegehrens unter Auferlegung einer Rückersatzpflicht der Bekl nicht mehr auf § 31 Abs 2 2. Fall KBGG gestützt werden. Da die Parteien nach § 182a ZPO Gelegenheit haben müssen, zur neuen Rechtslage ein Vorbringen zu erstatten, was die Bekl in erster Instanz nicht hatte, wurde der Revision Folge gegeben und die Rechtssache zur Verfahrensergänzung und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen. 127