23Wochengeldfalle verstößt gegen Unionsrecht
Wochengeldfalle verstößt gegen Unionsrecht
Die geltende österreichische Gesetzeslage, nach der eine AN aufgrund ihrer Karenz weder Wochengeld noch eine Entgeltfortzahlung beanspruchen kann (so genannte Wochengeldfalle), widerspricht dem Unionsrecht.
Auf die wegen unzulänglicher Umsetzung in das nationale Recht unmittelbar anwendbare Mutterschutz- RL 92/85/EWG kann sich der Einzelne gegenüber dem Staat berufen. Dabei macht es keinen Unterschied, in welcher Eigenschaft der Staat handelt. Die unmittelbare Wirkung der RL kann ihm in seiner Rolle als Hoheitsträger sowie als AG entgegengehalten werden.
[1] Am 21.12.2015 meldete die Kl der Bekl, bei der sie als Angestellte beschäftigt ist, dass sie schwanger sei. Als das Kind am 16.6.2016 zur Welt kam, vereinbarte die Kl mit der Bekl einen Karenzurlaub vom 9.9.2016 bis 15.6.2018. Der Bezug des einkommensabhängigen Kinderbetreuungsgeldes endete mit 15.6.2017, woraufhin die Kl über kein eigenes Einkommen mehr verfügte. Am 8.5.2018 meldete die Kl der Bekl eine erneute Schwangerschaft. Da es sich um eine Risikoschwangerschaft handelte, unterlag die Kl ab 5.6.2018 einem vorzeitigen Beschäftigungsverbot nach § 3 Abs 3 MSchG, weshalb sie ihren Dienst am 16.6.2018 nicht wieder antreten konnte.
[2] Auf das Dienstverhältnis der Kl kommt die Dienstordnung A für Angestellte bei den Sozialversicherungsträgern Österreichs (DO.A) zur Anwendung, deren § 61 lautet:
„Angestellten, die nach den Bestimmungen des MSchG nicht beschäftigt werden dürfen, gebühren keine Dienstbezüge, wenn die laufenden Barleistungen aus der gesetzlichen Krankenversicherung für diese Zeit die Höhe der Dienstbezüge unmittelbar vor Beginn der laufenden Barleistungen erreichen. Ist dies nicht der Fall, so gebührt ihnen, mit Ausnahme der Zeit eines Ruhens gemäß §§ 89 oder 166 Abs 1 Z 3 ASVG, die Ergänzung auf die unmittelbar vor Beginn der laufenden Barleistungen gebührenden Dienstbezüge, höchstens jedoch im Ausmaß von 49 % dieser Bezüge.“
[3] Die Kl begehrt von der Bekl für die Zeit ihres Beschäftigungsverbots von 5.6.2018 bis 4.2.2019 einen Ergänzungsbetrag nach § 61 DO.A von 11.712 € brutto sA.
[4] Die Bekl wendet ein, dass die Kl die Anspruchsvoraussetzungen des § 61 DO.A nicht erfülle, weil sie im Zeitpunkt des Eintritts des Beschäftigungsverbots keinen Anspruch auf Wochengeld und auch keine Dienstbezüge gehabt habe.
[5] Das Erstgericht gab der Klage statt. [...]
[6] Das Berufungsgericht änderte diese Entscheidung dahin ab, dass das Klagebegehren abgewiesen wurde. [...] Das Berufungsgericht ließ die ordentliche Revision zu, weil diese E im Widerspruch zur Rsp des OGH zur alten Fassung des § 61 DO.A stehe und die Auslegung der Dienstordnung der Sozialversicherungsträger über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung habe.
[7] Gegen diese E richtet sich die von der Bekl beantwortete Revision der Kl mit dem Antrag, das Urteil des Berufungsgerichts dahin abzuändern, dass der Klage stattgegeben werde.
[8] Die Revision ist zulässig und auch berechtigt.
[9] 1. Das Revisionsverfahren betrifft die Frage, ob eine Angestellte, die sich im Zeitpunkt des Eintritts des Beschäftigungsverbots in Karenz befindet, Anspruch auf einen Ergänzungsbetrag nach § 61 DO.A hat. Die DO.A ist ein KollV (RIS JustiZ RS0054394). Der Auslegung von Kollektivverträgen kommt regelmäßig eine über den Einzelfall hinausreichende Bedeutung zu (RS0042819).
[10] 2. Das Wochengeld nach § 162 ASVG ist nach § 117 Abs 4 lit a d ASVG eine Barleistung aus der KV. Ein Anspruch aus der KV – auf Wochengeld – setzt nach § 122 Abs 1 ASVG voraus, dass der Versicherungsfall der Mutterschaft vor dem auf das Ende der Versicherung nächstfolgenden Arbeitstag eingetreten ist. Der Versicherungsfall der Mutterschaft ist nach § 120 Z 3 ASVG mit dem Beginn der achten Woche vor der voraussichtlichen Entbindung anzunehmen. Das Wochengeld ist nach § 122 Abs 3 ASVG aber auch dann noch zu gewähren, wenn der Beginn der 32. Woche vor dem Eintritt des Versicherungsfalls in den Zeitraum des Bestands der beendeten Pflichtversicherung fällt und gewisse weitere Voraussetzungen vorliegen.
[11] 3. Dies bedeutet im Fall einer Karenzierung, dass der Anspruch auf Wochengeld praktisch nur besteht, wenn die Schwangerschaft noch während des Bezugs von Kinderbetreuungsgeld eingetreten ist, was mitunter als „Wochengeldfalle“ bezeichnet wird (Braun, Subsidiäre Entgeltfortzahlung durch den Arbeitgeber bei erneuter Schwangerschaft während der Elternkarenz aufgrund der Nichtgewährung von Wochengeld – Zur Auslegung des § 8 Abs 4 AngG, ASoK 2016, 52 [53 f]). Da die Kl während ihrer Karenz nach dem Auslaufen des Anspruchs auf einkommensabhängiges Kinderbetreuungsgeld mit 15.6.2017 kein Einkommen bezog, hatte sie während ihres mit 5.6.2018 beginnenden Beschäftigungsverbots keinen Anspruch auf Wochengeld.
[12] 4. Seit 1.1.2016 besteht nach § 8 Abs 4 AngG kein Anspruch auf Entgeltfortzahlung, wenn sich die Angestellte vor Eintritt des Beschäftigungsverbots in einer mit dem DG zur Kinderbetreuung vereinbarten Karenz befindet. Der Gesetzgeber des Arbeitsrechts-Änderungsgesetzes 2015 wollte dadurch den AG entlasten (AB 948 BlgNR 25. GP 2 f; krit aus „familienpolitischer Sicht“ Melzer in Löschnigg/Melzer11 § 8 AngG Rz 281). Nach § 8 Abs 4 AngG bleibt ein allfälliger Anspruch auf einen Zuschuss des DG zum Krankengeld aber unberührt.
[13] 5. Nach § 14 Abs 2 MSchG hat eine DN während des Beschäftigungsverbots nach § 3 Abs 3 MSchG Anspruch auf das Entgelt, das dem Durchschnittsverdienst 230 gleichkommt, den sie während der letzten 13 Wochen „vor Eintritt des Beschäftigungsverbots“
bezogen hat. Der Gesetzgeber wollte durch diese mit BGBl 2015/149BGBl 2015/149 in den Normtext aufgenommene Formulierung klarstellen, dass eine DN, die sich noch aufgrund einer früheren Schwangerschaft in Karenz befindet, keinen Anspruch auf Entgeltfortzahlung hat (AB 951 BlgNR 25. GP 2; Shubshizky, Keine Entgeltfortzahlungspflicht im Hinblick auf die „Wochengeldfalle“, ASoK 2016, 77; Wolfsgruber-Ecker in Neumayr/Reissner, ZellKomm3 § 14 MSchG Rz 8). Daraus ergibt sich, dass die Kl nach geltender österreichischer Gesetzeslage weder Wochengeld aus der KV noch eine Entgeltfortzahlung gegenüber der Bekl beanspruchen kann.
[14] 6. Die Kl stützt ihre Ansprüche deshalb auf § 61 DO.A. Dabei kann sich die Kl aber nicht darauf berufen, dass der OGH zu9 ObA 132/87 einer Angestellten einen Ergänzungsbetrag gewährt hat, obwohl sie sich im Zeitpunkt des Beginns des Beschäftigungsverbots in Karenz befunden hatte. Diese E betraf § 61 DO.A in der vor dem 1.1.2001 geltenden Fassung, wonach der Angestellten die Ergänzung auf die „vollen Dienstbezüge“ gebührte. Demgegenüber besteht nach dem nunmehrigen Wortlaut des § 61 DO.A ein anteiliger Ergänzungsanspruch auf die „unmittelbar vor Beginn der laufenden Barleistungen gebührenden Dienstbezüge“. Die inzwischen außer Kraft getretene Regelung eines KollV wäre nur dann zur Auslegung heranzuziehen, wenn die am Text des geltenden KollV orientierte Auslegung zu keinem eindeutigen Ergebnis führt (RS0010089).
[15] 7. Der Kl ist dahin zuzustimmen, dass der Ergänzungsbetrag nach § 61 DO.A Einkommenseinbußen, die Angestellte dadurch erleiden, dass die Barleistungen aus der KV nicht die Höhe ihres Dienstbezugs erreichen, zumindest teilweise kompensieren soll. Der OGH hat zur Vorgängerbestimmung die Auffassung vertreten, dass ein Ergänzungsbetrag selbst dann beansprucht werden kann, wenn keine Barleistungen bezogen werden (9 ObA 132/87). Dies darf aber nicht zu einer Veränderung der Bemessungsgrundlage des Ergänzungsbetrags führen, weshalb sich der Ergänzungsbetrag angesichts der Neufassung des § 61 DO.A auch in einem solchen Fall nach den Dienstbezügen unmittelbar vor Eintritt des Beschäftigungsverbots richten muss. Da die Kl aufgrund ihres Karenzurlaubs unmittelbar vor ihrem Beschäftigungsverbot keine Dienstbezüge hatte, kann sie nach dem eindeutigen Wortlaut des § 61 DO.A auch keinen Ergänzungsbetrag beanspruchen.
[16] 8. In der Revision stützt sich die Kl auch auf Art 11 Z 2 lit b der Mutterschutz-RL 92/85/ EWG, wonach während des Mutterschaftsurlaubs von zumindest 14 Wochen die Fortzahlung eines Arbeitsentgelts und/oder ein Anspruch auf eine angemessene Sozialleistung gewährleistet sein muss. Dass dieses Vorbringen im erstinstanzlichen Verfahren nicht erstattet wurde, gereicht der Kl nicht zum Nachteil, weil eine Änderung der rechtlichen Argumentation und die Geltendmachung eines neuen Gesichtspunkts bei der rechtlichen Beurteilung auch im Rechtsmittelverfahren zulässig ist, wenn damit kein neues Tatsachenvorbringen verbunden ist (RS0016473).
[17] 9. Eine RL ist grundsätzlich nicht unmittelbar anwendbar, sondern muss von den Mitgliedstaaten in das innerstaatliche Recht umgesetzt werden (RS0111214). Wenn eine RL nicht fristgemäß oder nur unzulänglich in das nationale Recht umgesetzt wurde, kann sich der Einzelne dennoch gegenüber dem Staat auf die RL berufen, wenn die dort enthaltenen Regelungen inhaltlich unbedingt und hinreichend genau bestimmt sind (C-41/74, van Duyn, Rn 12; C-6/90 und C-9/90, Francovich, Rn 11; C-397/01 bis C-403/01, Pfeiffer, Rn 103; C-282/10, Dominguez, Rn 33).
[18] 10. Dies gilt unabhängig davon, in welcher Eigenschaft – als AG oder als Hoheitsträger – der Staat handelt, weil in dem einen wie dem anderen Fall verhindert werden muss, dass der Staat aus der Nichtbeachtung des Unionsrechts Nutzen zieht (C-152/84, Marshall, Rn 49; C-413/15, Farrell, Rn 32; C-684/16, Max Planck Gesellschaft, Rn 63). Der Einzelne kann sich auf die unmittelbar anwendbaren Bestimmungen einer RL deshalb auch gegenüber solchen Organisationen oder Einrichtungen berufen, die kraft staatlichen Rechtsakts unter staatlicher Aufsicht eine Dienstleistung im öffentlichen Interesse zu erbringen haben und hierzu mit besonderen Rechten ausgestattet sind, die über diejenigen hinausgehen, die sich aus den für die Beziehungen zwischen Privatpersonen geltenden Vorschriften ergeben (C-188/89, Foster, Rn 18; C-343/98, Collino, Rn 23; C-157/02, Rieser, Rn 24; C-122/17, Smith, Rn 45; C-17/17, Hampshire, Rn 54). Dies betrifft insb juristische Personen des öffentlichen Rechts (C-688/15 und C-109/16, Anisimoviené, Rn 109).
[19] 11. Die DN einer mit der öffentlichen Gesundheitsvorsorge betrauten staatlichen Einrichtung können sich deshalb auf die Bestimmungen einer RL berufen, die nicht fristgerecht oder unzureichend umgesetzt wurde (C-152/84, Marshall, Rn 56; C-297/03, Sozialhilfeverband Rohrbach, Rn 27). Die Bekl ist nach § 32 iVm § 538t ASVG als Sozialversicherungsträger eine Körperschaft des öffentlichen Rechts und zählt damit zu den staatlichen Einrichtungen. Die Kl kann sich deshalb gegenüber der Bekl auf die Mutterschutz-RL 92/85/EWG berufen, soweit die darin gewährleisteten Rechte unbedingt und hinreichend bestimmt sind.
[20] 12. Art 11 Z 4 der Mutterschutz-RL 92/85/EWG sieht vor, dass die Mitgliedstaaten die Ansprüche der AN davon abhängig machen können, dass die in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften vorgesehenen Bedingungen erfüllt sind. Der EuGH hat aber bereits ausgesprochen, dass eine nationale Bestimmung, nach der eine schwangere AN, die einen unbezahlten Elternurlaub unterbricht, um einen Mutterschaftsurlaub iSd Mutterschutz-RL 92/85/EWG anzutreten, keinen Anspruch auf Fortzahlung des Entgelts hat, dem Recht auf Elternurlaub (RL 96/34/EG) widerspricht, wie es nunmehr in Art 5 der RL (EU) 2019/1158 vorgesehen ist (C-512/11 und C-513/11, Terveys- ja sosiaalialan neuvottelujärjestö [TSN] ry, Rn 52). Die geltende österreichische Gesetzeslage, nach der die Kl aufgrund ihrer Karenz weder Wochengeld231 noch eine Entgeltfortzahlung beanspruchen kann, widerspricht damit dem Unionsrecht.
[21] 13. Nach Art 11 Z 2 lit b der Mutterschutz-RL 92/85/EWG haben AN Anspruch auf Fortzahlung des Arbeitsentgelts und/oder angemessene Sozialleistung. Nach Art 11 Z 3 der Mutterschutz-RL 92/85/EWG gelten Sozialleistungen nur dann als angemessen, wenn sie zumindest den Bezügen entsprechen, welche die betreffende AN im Falle einer Unterbrechung ihrer Erwerbstätigkeit aus gesundheitlichen Gründen erhalten würde. Diese Mindestgrenze gilt auch für das Arbeitsentgelt, das anstelle der Sozialleistungen gewährt wird (C-411/96, Boyle, Rn 34; Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht [2009] § 20 Rn 27).
[22] 14. Da die RL den AN während des Mutterschaftsurlaubs sohin ein Einkommen garantiert, das den Bezügen entspricht, die sie im Falle einer Unterbrechung ihrer Erwerbstätigkeit aus gesundheitlichen Gründen erhalten würden, hat der EuGH bereits ausgesprochen, dass Art 11 Z 1 bis 3 der Mutterschutz-RL hinreichend bestimmt ist, um unmittelbare Wirkung zu entfalten und für den Einzelnen Rechte zu begründen (C-194/08, Gassmayr, Rn 53). Dass die RL den Mitgliedstaaten überlässt, ob sie diesen Anspruch als Sozialleistung oder Entgeltfortzahlung ausgestalten wollen, steht der unmittelbaren Anwendung nicht entgegen, weil – wenn der Staat seiner Verpflichtung zur Umsetzung nicht rechtzeitig nachkommt – der Berechtigte entscheiden kann, auf welchem System er seine Ansprüche geltend machen will, wobei er aber naturgemäß keinen Anspruch auf doppelte Auszahlung hat (C-688/15 und C-109/16, Anisimoviené, Rn 103 f). Die Bekl hat auch gar keinen Einwand erhoben, dass der Kl vorrangig andere Ansprüche zustehen oder anzurechnen wären.
[23] 15. Die Kl kann ihre Ansprüche deshalb auch im vorliegenden Verfahren unmittelbar auf Art 11 Z 2 lit b der Mutterschutz-RL 92/85/EWG stützen. Die Kl beansprucht mit ihrer Klage 49 % ihrer Bezüge für die Zeit ihres Beschäftigungsverbots von 5.6.2018 bis 4.2.2019. Das ist jedenfalls weniger, als sie im Falle einer Unterbrechung ihrer Erwerbstätigkeit aus gesundheitlichen Gründen erhalten würde. Wohl aber ist zu berücksichtigen, dass Art 8 Abs 1 der Mutterschutz-RL 92/85/EWG nur einen Mutterschaftsurlaub von 14 Wochen garantiert, weshalb die Klage, soweit sie sich auf einen darüber hinausgehenden Zeitraum bezieht, abzuweisen sein wird. Da das Erstgericht keine hinreichenden Feststellungen getroffen hat, um beurteilen zu können, welcher Anteil der Klagsforderung auf den nach Art 8 Abs 1 der Mutterschutz-RL 92/85/EWG geschützten Zeitraum entfällt, ist die Rechtssache an das Erstgericht zurückzuverweisen.
[...]
Die vorliegende E des OGH enthält einiges an Sprengkraft. Sie bezieht sich zwar auf eine AN einer juristischen Person des öffentlichen Rechts, weshalb der OGH bei gleichzeitiger Annahme einer unvollständigen Umsetzung der Mutterschutz-RL eine unmittelbare Wirkung eben dieser RL auf das privatrechtliche Vertragsverhältnis zwischen AG und AN angenommen hat. Die vom OGH darin zum Ausdruck gebrachte Ansicht, dass die österreichische Rechtslage, nach der AN wegen der Inanspruchnahme einer Karenz bei erneuter Schwangerschaft weder Anspruch auf Wochengeld noch auf Entgeltfortzahlung durch den AG haben, dem Unionsrecht widerspricht, wird auch für AN, die nicht bei einem Hoheitsträger beschäftigt sind, Auswirkungen haben müssen. Denn betrachtet man das grundsätzliche System in Österreich, nach dem vornehmlich die Krankenversicherungsträger dazu verpflichtet sind, das Wochengeld als finanzielle Leistung während eines Mutterschaftsurlaubs zu leisten, stehen zumindest diesbezüglich AN und Versicherungsträger in einem Verhältnis AN versus staatlichem Hoheitsträger. Geht nunmehr der OGH von einer unzureichenden Umsetzung der Mutterschutz-RL aus, können sich auch AN gegenüber dem Krankenversicherungsträger auf die unmittelbar anwendbaren Bestimmungen der RL berufen, soweit die darin gewährleisteten Rechte unbedingt und hinreichend bestimmt sind. In der Folge müssen die Krankenversicherungsträger im Rahmen der gegenständlichen höchstgerichtlichen E künftig jene Normen, die für AN in Karenz dazu führen, dass sie vom Anspruch auf Wochengeld gänzlich ausgeschlossen sind, unangewendet lassen, wenn auch kein – den Vorgaben der Mutterschutz-RL entsprechender – Anspruch auf Entgeltfortzahlung gegen den/die AG besteht (EuGH 5.4.1979, Rs C-148/78, Ratti, ECLI:EU:C:1979:110). Dies gilt zumindest für den in der Mutterschutz-RL gewährten Zeitraum von 14 Wochen.
Wie kann es aber überhaupt dazu kommen, dass erwerbstätige Frauen während eines gesetzlich normierten Beschäftigungsverbots keinem Erwerb als AN oder freie DN nach § 4 Abs 4 ASVG nachgehen dürfen, während dieses Beschäftigungsverbots aber keine finanzielle Unterstützung erhalten?
§ 122 Abs 1 ASVG setzt für einen Anspruch auf Wochengeld grundsätzlich voraus, dass der Versicherungsfall der Mutterschaft während eines aufrechten Versicherungsverhältnisses in der KV eintritt. Nach § 122 Abs 3 ASVG genügt es aber unter bestimmten Voraussetzungen, wenn zumindest bei Eintritt der Schwangerschaft (der Gesetzgeber spricht vom Beginn der 32. Woche vor dem Eintritt des Versicherungsfalls der Mutterschaft, der nach § 120 Z 3 ASVG grundsätzlich mit dem Beginn der achten Woche vor der Entbindung eintritt) ein aufrechtes Versicherungsverhältnis bestanden hat. § 162 Abs 3a Z 2 ASVG stellt allerdings klar, dass im Fall eines Versicherungsverhältnisses in der KV aufgrund des Bezugs von Kinderbetreuungsgeld (§ 28 KBGG) § 122 Abs 3 ASVG in Bezug auf den Anspruch auf Geldleistungen, insb auf Wochen-232geld, gerade nicht zur Anwendung kommt. Mit dieser durch BGBl I 2016/53 eingeführten Regelung wurde seitens des Gesetzgebers also dafür gesorgt, dass Frauen, die sich in einer Elternkarenz nach dem MSchG befinden, bei Eintritt eines weiteren Versicherungsfalls der Mutterschaft aber kein Kinderbetreuungsgeld mehr beziehen, für die Dauer des mit dem Versicherungsfall der Mutterschaft zeitlich zusammenfallenden absoluten und auch individuellen Beschäftigungsverbots nach dem MSchG keinen Wochengeldanspruch haben (vgl Drs in Mosler/Müller/Pfeil [Hrsg], Der SV-Komm § 158 Rz 2 mwN). Die so genannte Wochengeldfalle, die mit Einführung diverser „Kurz-Varianten“ beim Bezug von Kinderbetreuungsgeld ab dem Jahr 2008 (BGBl I 2007/76 sowie BGBl I 2009/116) eröffnet wurde (vgl dazu „Die Wochengeldfalle“, ARD 6412/20/2014; Stupar, Wochengeld und Entgeltfortzahlung während Elternkarenz, ecolex 2015, 885), wurde dadurch nicht beseitigt, sondern vielmehr gesetzlich abgesichert.
Selbst für den Fall, dass aufgrund dieser Regelungen im ASVG während eines individuellen Beschäftigungsverbots nach § 3 Abs 3 MSchG kein Anspruch auf Wochengeld besteht, weshalb die in § 14 Abs 2 MSchG vorgesehene Entgeltfortzahlungspflicht greift, ergibt sich aus der dort normierten Bemessung des Entgeltfortzahlungsanspruchs, dass dieser faktisch wegfällt, da die Anspruchshöhe auf Basis des Durchschnittsverdiensts der letzten 13 Wochen vor dem Eintritt des individuellen Beschäftigungsverbots ermittelt wird. Gab es in dieser Zeit kein Erwerbseinkommen wegen Elternkarenz, dann bemisst sich der Entgeltfortzahlungsanspruch mit Null (Kocher, Vorzeitiger Mutterschutz: wer zahlt? Zahlt wer? PV-Info 4/2015, 13; Burger-Ehrnhofer in Burger-Ehrnhofer/Schrittwieser/Bauer, MSchG und VKG3 § 14 Rz 37 f). Für die Dauer des absoluten Beschäftigungsverbots nach § 3 Abs 1 und § 5 Abs 1 MSchG sieht das MSchG ganz grundsätzlich keine Entgeltfortzahlungspflicht der AG vor. Für die Zeit des absoluten Beschäftigungsverbots nach der Entbindung konnte bis zum ARÄG 2015 (BGBl I 2015/152) zumindest bei Angestellten noch mit § 8 Abs 4 AngG argumentiert werden, wonach Angestellte den Anspruch auf das Entgelt während sechs Wochen nach ihrer Niederkunft behalten, sofern sie nicht Anspruch auf Wochengeld haben. Mit BGBl I 2015/152BGBl I 2015/152 wurde dieser Entgeltfortzahlungsanspruch aber gerade für jene Fälle gestrichen, in denen sich Angestellte vor dem Beschäftigungsverbot nach § 3 Abs 1 oder Abs 3 MSchG in einer Elternkarenz nach dem MSchG oder einer mit dem/der AG vereinbarten Karenz zur Kinderbetreuung befunden haben (siehe dazu ua Braun, Subsidiäre Entgeltfortzahlung durch den Arbeitgeber bei erneuter Schwangerschaft während der Elternkarenz aufgrund der Nichtgewährung von Wochengeld, ASoK 2016, 52).
Zusammenfassend kann daher festgehalten werden, dass der Gesetzgeber mit all diesen gesetzlichen Adaptierungen überdeutlich zum Ausdruck gebracht hat, dass einerseits die AG möglichst nie in die Situation kommen sollen, wegen einer schwanger- oder mutterschaftsbedingten Dienstverhinderung einen Entgeltfortzahlungsanspruch zu leisten. Dieses Ziel deckt sich mit dem in Art 6 Z 8 des ILO-Übereinkommens 183 (BGBl III 2004/105) zum Ausdruck kommenden Grundsatz, dass AG an sich nicht mit den unmittelbaren Kosten einer auch nach diesem Übereinkommen AN während eines Mutterschaftsurlaubs zustehenden Geldleistung belastet werden sollen. Einzig bei geringfügig Beschäftigten, die mangels Selbstversicherung nach § 19a ASVG keinen Wochengeldanspruch haben, führt § 14 Abs 2 MSchG im Fall eines individuellen Beschäftigungsverbots nach § 3 Abs 3 MSchG bzw § 8 Abs 4 AngG bei geringfügig beschäftigten Angestellten für Teile des absoluten Beschäftigungsverbots nach § 5 Abs 1 MSchG zu einer Entgeltfortzahlungspflicht der AG. Andererseits bewirkt die geltende Rechtslage, dass Frauen, die während einer Karenz erneut schwanger werden, nur dann berechtigt sind, Wochengeld zu beziehen, wenn sie die Empfängnis eines weiteren Kindes so genau planen, dass bei Eintritt des Versicherungsfalls der Mutterschaft zumindest noch Kinderbetreuungsgeld bezogen wird. Dies zu fordern, hat schon der EuGH in der Rs C-116/06, Kiiski, ECLI:EU:C:2007:536, Rn 42 kritisch thematisiert und diesbezüglich in den verbundenen Rs C-512/11 und C-513/11, Terveys- ja sosiaalialan neuvottelujärjestö[TSN] ry, ECLI:EU:C:2014:73, Rn 50 festgehalten, dass AN weder zum Zeitpunkt der Entscheidung, Elternurlaub zu nehmen, noch zu Beginn des Elternurlaubs in der Lage sind zu bestimmen, ob sie während dieses Urlaubs Mutterschaftsurlaub nehmen müssen.
Dass sich in Österreich die Dauer einer Elternkarenz nach dem MSchG schon seit 2002 nicht mehr zwingend mit der Bezugsdauer von Kinderbetreuungsgeld decken muss, führt daher zu jener Situation, die auch dem gegenständigen OGH-Fall zugrunde liegt: Unselbständig erwerbstätige Frauen – denn nur diese Frauen haben einen gesetzlichen Anspruch auf Karenz nach dem MSchG (Bauer in Burger-Ehrnhofer/Schrittwieser/Bauer, MSchG und VKG3 § 15 Rz 34) – haben in bestimmten Konstellationen während eines gesetzlich angeordneten zweiseitig zwingenden Beschäftigungsverbots (OGH4 ObA 153/77
Auch wenn dieses Ergebnis in der Lehre teilweise befürwortet wurde (Enzelsberger, Gesetzlicher Neuerungen im arbeitsrechtlichen Elternschutz, ZAS 2016, 67 [71 f]; kritisch hingegen Melzer in Löschnigg/Melzer, AngG11 § 8 Rz 281), scheint hier die Rechnung ohne die unionsrechtlichen Vorgaben gemacht worden zu sein. Der OGH bezieht sich bezüglich der von ihm angenommenen Uni-233onsrechtswidrigkeit auf die bereits angesprochene E des EuGH in den Rs C-512/11 und C-513/11, in denen der EuGH einen Verstoß gegen die Elternurlaubs-RL 96/34/EG angenommen hat, wenn einer AN, die ihren unbezahlten Elternurlaub für die Inanspruchnahme eines Mutterschaftsurlaubs iSd Mutterschutz-RL 92/85/EWG unterbricht und deshalb während ihres Mutterschaftsurlaubs keinen Anspruch auf eine Fortzahlung ihres Entgelts hat, das sie gehabt hätte, wenn sie ihre Arbeit zuvor aufgenommen hätte. Führt eine nationale Regelung zu dieser Folgewirkung eines unbezahlten Elternurlaubs, bedeutet der Antritt eines unbezahlten Elternurlaubs automatisch einen Verzicht auf einen bezahlten Mutterschaftsurlaub. Dies würde die AN allerdings veranlassen, erst gar keinen unbezahlten Elternurlaub in Anspruch zu nehmen. Damit wird aus Sicht des EuGH die praktische Wirksamkeit der RL 96/34/EG beeinträchtigt.
Liegt damit eine unzureichende Umsetzung der Mutterschutz-RL als grundsätzliche Voraussetzung für eine unmittelbare Wirkung der RL vor? Immerhin gewährt Art 11 Z 4 den Mitgliedstaaten, Bedingungen für den Anspruch auf eine Entgeltfortzahlung oder eine angemessene Sozialleistung während des Mutterschaftsurlaubs festzulegen. Diesbezüglich lässt die RL allerdings erkennen, dass diese nationalen Bedingungen einer gewissen Sachlichkeitsprüfung standhalten müssen, indem als Beispiel für eine unzulässige Bedingung für einen bezahlten Mutterschaftsurlaub die Vorgabe einer mehr als zwölfmonatigen Erwerbstätigkeit unmittelbar vor dem voraussichtlichen Zeitpunkt der Entbindung angeführt wird. Im Rahmen dieser Sachlichkeitsprüfung müssen die nationalen Bedingungen wohl auch der Rsp des EuGH standhalten. Dieser hat nun aber in den Rs C-512/11 und C-513/11 den Spielraum für die Zulässigkeit solcher nationalen Bedingungen offensichtlich weiter eingegrenzt und bestimmt, dass mit der nationalen Ausgestaltung auch nicht gegen andere unionsrechtliche Grundlagen verstoßen werden darf. Einen solchen Verstoß nahm der EuGH in dieser zu finnischen Regelungen ergangenen E an. Diese ließen einen unbezahlten Elternurlaub bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres des Kindes zu, gewährten laut Tarifvertrag während des Mutterschaftsurlaubs aber nur dann eine das von der KV zustehende Mutterschaftsgeld ergänzende Entgeltfortzahlung durch die AG, wenn die schwangere Frau unmittelbar von der Arbeit oder einem bezahlten Urlaub in den Mutterschaftsurlaub wechselte. Die österreichische Rechtslage lässt ebenfalls zu, dass Teile der bis zum vollendeten zweiten Lebensjahr des Kindes zustehenden ElternKarenz (§ 15 MSchG/§ 2 VKG) „unbezahlt“ sind, weil sie mit einer gesetzlich vorgesehenen Kurzvariante des Kinderbetreuungsgeldes kombiniert wird. In dieser Situation können die oben beschriebenen österreichischen Rechtsnormen dazu führen, dass Frauen mangels Anspruchs auf „bezahlten“ Mutterschaftsurlaub davon abgehalten werden, eine unbezahlte ElternKarenz in Anspruch zu nehmen. Damit verstößt die österreichische Rechtslage rund um die Wochengeldfalle genauso gegen die Elternurlaubs-RL bzw die RL (EU) 2019/1158: wie die finnischen Tarifvertragsregelungen. Es ist dem OGH daher im Ergebnis zu folgen, dass im Zusammenhang mit der österreichischen Wochengeldfalle unzulässige Bedingungen für den Anspruch auf einen „bezahlten“ Mutterschaftsurlaub aufgestellt werden, weshalb von einer unzureichenden Umsetzung der Mutterschutz-RL auszugehen ist.
Für die weiteren Konsequenzen dieser E ist der persönliche Geltungsbereich der Mutterschutz-RL von Interesse. Vor allem die Frage, wer als AN iSd RL anzusehen ist, ist im Rahmen der unmittelbaren Wirkung von Art 11 Z 1 bis 3 Mutterschutz- RL zwischen AN und staatlichem Hoheitsträger (Krankenversicherungsträger) von großer Bedeutung. Der EuGH hat dazu in der Rs Kiiski, Rn 25 unter Verweis auf weitere EuGH-Entscheidungen ausgeführt, dass der AN-Begriff der Mutterschutz- RL eine gemeinschaftsrechtliche Bedeutung hat und anhand objektiver Kriterien zu definieren ist, die das Arbeitsverhältnis im Hinblick auf die Rechte und Pflichten der betroffenen Personen kennzeichnen. Wesentlich ist dabei, dass eine Person während einer bestimmten Zeit für eine andere nach deren Weisung Leistungen erbringt, für die sie als Gegenleistung eine Vergütung erhält. Unter Verweis auf den Anwendungsbereich der Grundfreiheiten legt der EuGH diesen unionsrechtlichen AN-Begriff weit aus (vgl ua Rs 66/85, Lawrie-Blum, ECLI:EU:C:1986:284, Rn 16). In Abgrenzung zu selbständig Erwerbstätigen ist zu prüfen, inwieweit die Freiheit bei der Wahl von Zeit, Ort und Inhalt der Arbeit eingeschränkt ist. Die fehlende Verpflichtung, einen EinsatZ anzunehmen, ist in diesem Zusammenhang unerheblich (Rs C-256/01, Allonby, ECLI:EU:C:2004:18, Rn 72). So findet auch auf ein Mitglied der Unternehmensleitung einer Kapitalgesellschaft, das seine Tätigkeit für eine bestimmte Zeit nach der Weisung oder unter der Aufsicht eines anderen Organs dieser Gesellschaft ausübt und als Gegenleistung für die Tätigkeit ein Entgelt erhält, in Erfüllung des unionsrechtlichen AN-Begriffs die Mutterschutz-RL Anwendung (vgl Rs C-232/09, Danosa, ECLI:EU:C:2010:674, Rn 46 und 51).
Die vom Anwendungsbereich der Mutterschutz- RL erfassten erwerbstätigen Frauen können daher in den, der Wochengeldfalle zugrundeliegenden Umständen einen Anspruch entsprechend Art 11 Z 2 lit b der RL geltend machen (zur unmittelbaren Wirkung von Art 11 Z 1 bis 3 Mutterschutz- RL, die für den Einzelnen Rechte begründet, die dieser gegenüber dem Mitgliedstaat, der diese RL nicht oder nur unzulänglich in nationales Recht umgesetzt hat, geltend machen kann und zu deren Schutz die nationalen Gerichte verpflichtet sind, vgl Rs C-194/08, Gassmayr, ECLI:EU:C:2010:386, Rn 53). Aufgrund der vertikalen unmittelbaren Wirkung der Mutterschutz-RL (vgl dazu Rs Ratti) hat das zur Folge, dass gegenüber dem als staatlichen Hoheitsträger agierenden Krankenversicherungsträger der Anspruch auf eine entsprechende Sozialleistung für zumindest 14 Tage geltend gemacht234 werden kann. De lege lata ergeben sich diesbezüglich zahllose Folgefragen, weshalb es de lege ferenda erforderlich scheint, die bestehende österreichische Rechtslage insofern zu sanieren, als eine unionsrechtswidrige Wochengeldfalle vermieden wird. Die Stellschrauben sind da mannigfaltig und reichen von der Rücknahme der die Wochengeldfalle verfestigten Regelungen der BGBl I 2015/152 und BGBl I 2016/53 bis zur Wiederherstellung einer Parallelität zwischen Dauer der arbeitsrechtlichen Elternkarenz und Anspruchsdauer der in dieser Zeit zustehenden, einen Anspruch auf Wochengeld gewährleistenden Geldleistung, um das Entstehen einer Wochengeldfalle von Grund auf zu verhindern.
Abschließend kann noch festgehalten werden, dass die Entscheidungsfindung des OGH im Wege der Annahme einer unmittelbaren Anwendbarkeit von Art 11 Z 1 bis 3 Mutterschutz-RL im Lichte der Rs Gassmayr und der in stRsp des OGH aufgestellten strengen Kriterien für eine richtlinienkonforme Interpretation der nationalen Regelungen (vgl dazu OGH8 ObA 58/22w ecolex 2023, 234 [Mazal]) nachvollziehbar ist. Im Rahmen einer vertiefenden Auseinandersetzung mit diesem Thema könnte allerdings noch Art 33 GRC betrachtet werden, der den Anspruch jedes Menschen auf einen bezahlten Mutterschaftsurlaub postuliert.