Carl Grünberg und die Student:innen der ersten arbeitsrechtlichen Vorlesung in der Zwischenkriegszeit

 KAMILASTAUDIGL-CIECHOWICZ (WIEN/REGENSBURG)

Arbeits- und Sozialrecht sind vergleichsweise junge Fächer im Studium der Rechtswissenschaften in Österreich. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts beschäftigten sich nur wenige Lehrveranstaltungen an der Wiener Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät mit diesen Materien. Einer der Pioniere in diesem Gebiet war Carl Grünberg. Dieser Beitrag beschäftigt sich mit ihm, seinen Studentinnen und Studenten im Sommersemester 1919 und schließt mit dem kurzen Ausblick zur Entwicklung des Faches in der Zwischenkriegszeit.

1.
Das Rechtsstudium und die Frauen

Das Sommersemester 1919 hat für die juridische Fakultät der Universität Wien eine besondere Bedeutung. Es stellt eine Zäsur da, ab der Frauen zum Studium der Rechts- und Staatswissenschaften zugelassen wurden. Der Öffnung der letzten weltlichen Fakultäten der österreichischen Universitäten für Frauen waren jahrzehntelange Kämpfe vorangegangen.* In der jungen Republik war der erste Schritt Richtung Gleichberechtigung im Bereich der juristischen Berufe nun erreicht. Die Staatsregierung begründete diese Entscheidung, die trotz zahlreicher Eingaben, Petitionen und Gutachten jahrelang hinausgezögert worden war,* damit, dass ja nun „die Gleichberechtigung der beiden Geschlechter im öffentlichen Leben zur Tatsache geworden war“.* Gemeint war damit ua die Einführung des Frauenwahlrechts 1918,* nun sollten Frauen auch einen aktiveren Part in der staatlichen Verwaltung spielen, erwünscht war „die Mitarbeit der Frauen zur Lösung der volkswirtschaftlichen und sozialen Probleme“* des jungen Staates.

Im Sommersemester 1919 folgten 76 Frauen diesem Aufruf, 64 davon inskribierten als ordentliche Hörerinnen,* 12 besuchten die Lehrveranstaltungen 248 als außerordentliche* Hörerinnen an der Wiener juridischen Fakultät.* Damit stellten Frauen prozentuell nur eine kleine Gruppe der Gesamtstudierenden dieser Fakultät. Die Universitätsbehörden verzeichneten für das Sommersemester 1919 insgesamt 2.793 ordentliche Hörerinnen und Hörer,* nur rund 2 % davon waren weiblich. In den folgenden 20 Jahren pendelte sich der Prozentsatz an weiblichen Studierenden im Bereich von 5 bis 10 % ein. An der Wiener Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät konnten sie wahlweise zwei Studien belegen. Einerseits stand ihnen nun das reguläre Studium der Rechts- und Staatswissenschaften (so der Terminus Technicus für das damalige Jusstudium), das Voraussetzung für das Richteramt, das Notariat, die Anwaltschaft und den juristischen Verwaltungsdienst war, offen. Andererseits das 1919 neugeschaffene Studium der Staatswissenschaften, welches das Verfassen einer Dissertation voraussetzte und mit „dem rein wissenschaftlichen Grad ‚Dr. rer. pol.‘ abschloss, der allerdings nicht zum Eintritt in den Staatsdienst befähigte“.* Aus den zu Semesterbeginn stets auszufüllenden Inskriptionsscheinen (Nationalen), die als Anmeldung für die einzelnen meist kostenpflichtigen Lehrveranstaltungen galten, ist nicht ersichtlich, ob die betreffende Person das Studium der Staatswissenschaften oder das Studium der Rechts- und Staatswissenschaften studierte. Dafür beinhalten die Nationalen Angaben zu Herkunft, Alter, Bildung und Familie, ermöglichen somit eine zumindest fragmentarische biographische Erfassung der Studentinnen und Studenten der Universität Wien. Vereinzelt geben sie auch Einblicke in die zeitgenössischen politischen Auseinandersetzungen und Schwierigkeiten. Anhand dieses Quellenkorpus soll die Hörer:innenschaft der arbeitsrechtlichen Vorlesung von Carl Grünberg im Sommersemester 1919 analysiert werden.

2.
Carl Grünberg und die Universität Wien

In der kollektiven Erinnerung ist Carl Grünberg* als Wirtschaftshistoriker, Staatsrechtler, Soziologe und Vertreter des Austromarxismus verankert. 1911 gründete er die Zeitschrift „Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung“, die sich mit verschiedenen Aspekten des Sozialismus und der Lehren Marx‘ beschäftigte. Bemerkenswert ist, dass in dieser Zeitschrift auch wiederholt Frauen (so ua Lydia Eger, seine Schülerin Louise Sommer,*Käthe Leichter-Pick, Hilda Anaigl, Judith Grünfeld-Bienstock, Käthe Bauer-Mengelberg, Angelica Balabanova) publizierten. Weniger bekannt ist seine Beschäftigung mit arbeitsrechtlichen Materien. Er hielt Vorträge zu unterschiedlichen arbeitsrechtlichen Aspekten und verwandten Gebieten vor akademischem und nichtakademischem Publikum. Im Herbst 1896 nahm er mit dem Vortrag „Alte und neue Gewerbeverfassung in Oesterreich“ an den volkstümlichen Universitätsvorträgen der Wiener Universität teil.* 1902 sprach er in der Gesellschaft für Arbeiterschutz zur Wohnungsfrage* und Anfang 1903 im Allgemeinen österreichischen Frauenverein zu Fragen der Frauenarbeit, insb zur „Stellung der Frau als Staatsbeamtin“.*15) Beispiele für sein Engagement finden sich auch in der Ersten Republik: Ab Herbst 1921 unterrichtete Grünberg im Betriebsräteinstruktorenkurs der Wiener Arbeiterkammer neben Ludwig Brügel und Viktor Stein. Inhaltlich umfassten die Kurse Themen aus der „Volkswirtschaftslehre und -Politik, [der] Geschichte der österreichischen Arbeiterbewegung, [der] Geschichte und Praxis der österreichischen Gewerkschaftsbewegung, [der] Lohnpolitik und [des] Betriebsratswesen[s]“.*

Bereits 1894 habilitierte sich Grünberg an der Wiener juridischen Fakultät für politische Ökonomie.* Die nächsten 30 Jahre war Grünberg als Hochschullehrer an der Universität Wien tätig. Trotz seiner Konversion vom mosaischen zum katholischen Glauben – einem Schritt, der Ende des 19. Jahrhunderts Personen jüdischer Herkunft (noch) berufliche Türen öffnen konnte* – wurde er von antisemitischen Kreisen angefeindet. Es ist wohl kein Zufall, dass er 1924 den Ruf nach Frankfurt annahm, zu einem Zeitpunkt, als die antisemitischen Anfeindungen gegen Personen jüdischer Herkunft an der Universität Wien besonders stark waren. Im November 1923 hetzte die Wiener deutsche Studentenschaft gegen Hochschullehrer jüdischer Herkunft. Unter der Schlagzeile „Der Kampf gegen die Verjudung der Hochschulen“ monierte der Artikel des Neuen Grazer Tagblattes, dass die „deutschen Studenten genötigt [seien], volksbürgerlich bedeutsame Vorlesungen, wie das Kolleg über Volkswirtschaftspolitik bei einem volksfremden Lehrer (Prof. Grünberg) zu hören“.*19) Bereits ein paar Tage zuvor wurde Grünberg unmittelbar persönlich Opfer antisemitischer Ausschreitungen an der Universität Wien. In der Presse finden sich Berichte, dass es bei der Vorlesung Grünberg – vermutlich handelte es sich um die „Volkswirtschaftspolitik“ – „zu wüsten Szenen [kam]. Die deutschnationalen Studenten drangen mit dem Rufe ‚Juden hinaus!‘ in den Hörsaal. Da die anwesenden jüdischen Hörer sich nicht freiwillig aus dem Saal entfernen wollten, griffen die deutsch-249nationalen Studenten zur Brachialgewalt, und es kam zu Schlägereien. Professor Grünberg brach darauf die Vorlesung ab“.* Für die folgenden Tage wurde eine Sperre der Universität verfügt. Derartige judenfeindliche Störaktionen kamen in der Zwischenkriegszeit wiederholt vor und betrafen in der Regel Lehrveranstaltungen von Lehrkräften jüdischer Herkunft.* Bei Grünberg kam hinzu, dass er als Marxist bekannt war, was ihn noch mehr zu einer Zielscheibe der Deutschen Studentenschaft, aber auch ihr nahestehender Professoren, bspw Othmar Spann, machte.*

3.
Das Sommersemester 1919 und die Student:innen der arbeitsrechtlichen Vorlesung

Im Vorlesungsverzeichnis der Universität Wien für das Sommersemester 1919 scheint Grünberg mit mehreren Lehrveranstaltungen auf. Regelmäßig im Sommersemester las er die Vorlesung „Wirtschaftsgeschichte (zugleich als Einführung in die Volkswirtschaftslehre)“. Wirtschaftsgeschichte war ein Pflichtfach im Studium der Staatswissenschaften, Volkswirtschaftslehre in beiden Studiengängen obligat, dementsprechend stark war diese Vorlesung besucht. Für Fortgeschrittene Studierende bot Grünberg im Sommersemester 1919 ein Volkswirtschaftliches Seminar an und als dritte Lehrveranstaltung die bereits erwähnte Vorlesung „Über nationalen und internationalen Arbeiterschutz“, die er jede Woche einstündig am Mittwochabend hielt.

Grünberg bot diese Lehrveranstaltung 1919 nicht zum ersten Mal an. Bereits als junger Privatdozent hatte er sich mit diesen Fragen auseinandergesetzt und damit auch das Interesse der zeitgenössischen Presse auf sich gezogen. So berichtete die Wiener Allgemeine Zeitung Anfang April 1895 angesichts des Beginns des Sommersemesters von „Collegien, die ganz actuelle Fragen behandeln“ und nannte dabei ua die Lehrveranstaltungen „Der Socialismus und die socialen Parteien der Gegenwart“ sowie den „Arbeiterschutz“, beide angeboten von Carl Grünberg.* Da keine Vorlesungsskripten existieren, kann nur gemutmaßt werden, welche Inhalte Grünberg in seiner Vorlesung brachte. Einen Anhaltspunkt kann der Blick auf die zeitgenössischen internationalen und nationalen arbeitsrechtlichen Entwicklungen und auf seine Schriften geben. So beschäftigte er sich in den 1890er-Jahren in seinen wissenschaftlichen Arbeiten beispielsweise mit der rumänischen Arbeiterschutzgesetzgebung und der Errichtung der Arbeiterkammern in Österreich.* Gerade die Errichtung internationaler Foren für arbeitsrechtliche Fragen, wie die 1864 gegründete Internationale Arbeitsassoziation, die 1900 gegründete Internationale Vereinigung für Arbeitsrecht und die 1919 errichtete Internationale Arbeitsorganisation ILO*25) sowie deren Einfluss auf nationale Gesetzgebungsprojekte eigneten sich zur vertieften Darstellung.

Im Sommersemester 1919 inskribierten 97 Personen Grünbergs Vorlesung zum Arbeiterschutz, davon waren 83 ordentliche Hörerinnen und Hörer.

In Relation zur Gesamtzahl der Studierenden im Sommersemester 1919 handelte es sich somit um rund 3 % aller Studierender an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät. Das erscheint auf den ersten Blick wenig, doch muss berücksichtigt werden, dass es sich bei dieser Vorlesung um keine Pflichtlehrveranstaltung handelte und das Arbeitsrecht als Studienfach noch gar nicht existierte* Folglich konnte diese Vorlesung lediglich als Wahlfach belegt werden, so dass 83 ordentliche Hörerinnen und Hörer eine durchaus gute Frequenz bedeuten. Bemerkenswert sind die Zahlen, wenn lediglich die Studentinnen berücksichtigt werden. Von den 64 ordentlichen Hörerinnen des Sommersemesters 1919 inskribierten 14 Frauen Grünberg Arbeiterschutz, also rund 22 %. Diese Zahlen können einen Hinweis auf seine Fähigkeiten als akademischer Lehrer geben, sind aber auch vor dem Hintergrund der Öffnung des Jusstudiums für Frauen zu interpretieren. Der Umstand, dass gerade seine drei Lehrveranstaltungen im Sommersemester 1919 stark von Frauen frequentiert wurden, und zwar nicht nur die obligatorischen, sondern auch Wahlbereiche, macht deutlich, dass Grünberg dem rechts- und staatswissenschaftlichen Frauenstudium offen gegenüberstand. Diese Haltung vertrat er bereits Anfang des 20. Jahrhunderts und gestattete Frauen folglich, als Hospitantinnen noch vor 1919 an allen seinen Lehrveranstaltungen teilzunehmen.*

Auffallend ist, dass von den 97 inskribierten Studierenden 52, also rund 55 %, mosaisch als Religionsbekenntnis angaben. Womöglich geht dieser Umstand darauf zurück, dass Grünberg selbst jüdischer Herkunft war und sich jüdische Studierende in seiner Lehrveranstaltung keine antisemitischen Bemerkungen seitens des Vortragenden erwarteten. Gerade in der unmittelbaren Nachkriegszeit gab es Forderungen, die jüdischen Flüchtlinge aus Galizien von einem Studium in Wien auszuschließen.* An Grünbergs Lehrveranstaltung nahmen 16 Personen teil, die als Kronland in der Rubrik Geburtsort Galizien anführten (bzw deren Geburtsort im ehemaligen Galizien lag) und mosaischer Konfession waren, freilich kann aus dem alleine nicht abgeleitet werden, dass es sich dabei um 250 galizische Flüchtlinge handelte. In relativen Zahlen machte die Gruppe der aus Galizien stammenden ordentlichen Studierenden in der Vorlesung Grünbergs 18 % aus, während sie in der Gesamtzahl der ordentlichen Studierenden einen Anteil von 16 % stellten.*

Insgesamt war seine Studierendengruppe recht international zusammengesetzt. Von 97 Studierenden gaben 50 an, in Wien bzw Niederösterreich geboren worden zu sein. Die zweitgrößte Gruppe machten die Studierenden aus Galizien mit 16 Personen aus, darauf folgten 8 Personen, geboren in Mähren, 6 Studierende kamen aus anderen Teilen Deutschösterreichs, 4 aus Böhmen, 3 aus der Bukowina. Ein paar Studierende kamen aus dem Deutschen Reich, ein Student kam aus Ungarn. Die Angaben auf den Inskriptionsscheinen zeigen deutlich die Schwierigkeiten, die sich nach dem Ersten Weltkrieg und dem Zusammenbruch der bisherigen politischen Ordnung ergaben. Manche Studierende waren unsicher, was sie in dem Feld Staatsbürgerschaft anzugeben hatten. Friedrich Bau, geboren in Sambor in Galizien, gab „west-ukrainisch (oder polnisch?)“,*Isidor Falk, geboren in Stanislau in Galizien „angestrebt deutsch-österreichisch“* und David Markus Scheer, geboren in Lemberg (Galizien), „strittiges Gebiet (Ostgal[izien])“* an.

Besonders erwähnenswert ist die Teilnahme von Johan Gunnar Broman* an Grünbergs Lehrveranstaltung, handelte es sich bei ihm schließlich um den einzigen skandinavischen Studenten der juridischen Fakultät. Broman hatte bereits 1918 das Doktorat der Philosophie mit einer Arbeit zur Kunstgeschichte an der Universität Wien erworben.* Anhand einzelner Zeitungsberichte lässt sich rekonstruieren, dass Broman in den 1920er-Jahren im Umfeld des schwedischen Generalkonsuls in Wien tätig war,* bei österreichisch-schwedischen Veranstaltungen Vorträge hielt,* die Funktion des Sekretärs im österreichisch-schwedischen Wirtschaftsverein inne hatte* sowie zur schwedischen Kunstgeschichte publizierte.*

Zu Grünbergs Hörerinnen und Hörern gehörten Personen ganz unterschiedlicher gesellschaftlicher Kreise. Einen kurzen Einblick sollen hier einige biographische Notizen bieten. Unter seinen Studentinnen und Studenten fanden sich Kinder von Großgrundbesitzern und Gutsbesitzern, von Rechtsanwälten und Notaren, Fabrikanten und Kaufmännern, Universitätsprofessoren und Ärzten. Zu seinen Hörer:innen im Frühjahr 1919 gehörte aber auch bspw Jakob Berger, der Sohn eines Fleischers aus Mähren,* sowie die Tochter des Klaviermachers Friedrich WeitzFriederike.

Zu vielen von ihnen lassen sich kaum biographische Informationen abseits der Inskriptionsscheine finden. Friederike Weitz besuchte die Lehrveranstaltung 1919 lediglich als außerordentliche Hörerin.* Unklar ist, ob sie das Studium weiterverfolgt, sie scheint zwar noch im Wintersemester 1919/20 als außerordentliche Hörerin auf,* für das Sommersemester 1920 lässt sich hingegen keine Nationale finden. In den Jahren davor hatte sie bereits das Mädchen-Lyzeum am Kohlmarkt – eine Schwarzwaldschule – besucht.*Friederike Weitz war in der Lehrveranstaltung Grünbergs eine der wenigen Katholikinnen; bemerkenswert ist, dass von 19 angemeldeten Frauen lediglich 2, Friederike Weitzund Hermine Hofmann, katholisch als Religion angaben. Die überwiegende Mehrheit der Studentinnen – rund 79 % – in Grünbergs „Arbeiterschutz“ war hingegen mosaisch. Im Vergleich dazu war das Verhältnis zwischen mosaischen und katholischen Studentinnen bei der Berücksichtigung aller an der rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät inskribierter Frauen ein wenig ausgeglichener: von 76 Studentinnen gaben 47 mosaisch, 15 katholisch, 11 evangelisch und 3 konfessionslos als Religion an.* Von den 19 Studentinnen bei Grünberg haben zumindest* vier die Promotion erreicht: Martha Stephanie Herrmann, Edith Körnei, Marie Postelberg und Lily Amalie Weiß.*

Martha Stephanie Herrmann,* die Tochter des Kinderarztes Adolf Herrmann, schloss 1921 ihr Studium der Staatswissenschaften mit der Promotion ab, ihre Dissertation verfasste sie zur „Anweisungstheorie des Geldes“. Kurz nach ihrer Promotion heiratete sie Hermann Braun.* Der Versuch, „als Frau, konvertierte Jüdin und Liberale“* sich an der Universität Wien zu habilitieren, scheiterte. Sie engagierte sich in extramuralen Kreisen, so vor allem im Privatseminar von Ludwig Mises. 1938 musste sie Österreich mit ihrer Familie verlassen. Sie emigrierte in die USA. Erst dort konnte sie eine akademische Karriere verfolgen und lehrte von 1947 bis 1969 als Professorin für Wirtschaftsgeographie an der Universität von Cincinnati.*

Marie Postelberg war die Tochter des Rechtsanwaltes Emil Postelberg und der Frauenrechtsaktivistin Anna Postelberg geb. Wiener.* Sie promovierte 251 1923 zum Doctor iuris utriusque an der Universität Wien und heiratete Ende 1925 den Mediziner Erich Weil.* Bereits 1925 war ihre jüngere Schwester den Bergtod gestorben,* 1928 traf sie mit dem frühen Tod ihres Mannes der nächste Schicksalsschlag.* 1938 emigrierte sie mit ihrer Mutter nach England.*

Zu Grünbergs Studenten gehörte auch der Sohn des Mediziners Carl Berdach,*55) Otto Berdach. Berdach war 1919 im zweiten Semester, promovierte 1922 zum Doktor der Staatswissenschaften. Das Studium der Staatswissenschaften sah anders als jenes der Rechts- und Staatswissenschaften das Abfassen einer wissenschaftlichen Arbeit, der Dissertation, vor. Berdach schrieb zum Thema „Das Problem der Anstalts- und Familienpflege in der modernen Jugendpolitik“.*56) Danach scheint Berdach als Journalist im Radio auf, wo er staatswissenschaftliche Themen gemeinverständlich aufbereitete, so bspw in Vorträgen „Was ist Kredit?“,* „Wirtschaftskrise und Zeitung“,* wie auch in Publikationen zum Wirtschaftsleben.* In den 1930er-Jahren begann Berdach, Medizin zu studieren, konnte das Studium aber erst nach seiner Flucht in die USA beenden. Sein Vater hingegen wurde als Jude nach Theresienstadt deportiert und 1943 ermordet.*

Für die Lehrveranstaltung hatte sich auch der Priester Batholomäus Fiala* angemeldet, Mitglied der Kongregation der frommen Arbeiter (Kalasantiner).* Bemerkenswert ist, dass Fiala Ende der 1920er-Jahre wiederholt Vorträge zu Christentum und Marxismus hielt,* so bspw im Christlichsozialen Arbeiterverein, und als Antimarxist und Heimwehrredner bekannt war.* In den 1930er-Jahren veranstaltete Fiala regelmäßig in der Technisch-gewerblichen Bundeslehranstalt in der Schellinggasse die „Pater Fiala-Vorträge“ zu unterschiedlichen meist religiös-politischen Themen.*

Einzelne Student:innen begegnen uns später in Grünbergs „Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung“, so Ernst Czuczka, der 1919 in seinem ersten Semester an der rechtsund staatswissenschaftlichen Fakultät mehrere Lehrveranstaltungen von Grünberg belegte, 1930 hingegen im „Archiv“ einen Beitrag zur Stellung Alfred Meißners zum Sozialismus veröffentlichte.*

Freilich lässt sich aus den Inskriptionsscheinen nicht eruieren, ob die Lehrveranstaltung tatsächlich besucht wurde. Wiederholt wurde die mangelnde Anwesenheit der Studierenden bei den Lehrveranstaltungen seitens des Wiener Lehrkörpers im Laufe der Jahrzehnte beklagt.* Doch scheint Grünberg bei seinen Studierenden recht beliebt gewesen zu sein, was nahelegen würde, dass seine Lehrveranstaltungen auch tatsächlich frequentiert wurden.

Als Grünberg 1924 die Universität Wien verließ und seine Stelle als Professor für wirtschaftliche Staatswissenschaften und Direktor des Instituts für Sozialforschung an der Universität Frankfurt antrat,* bedauerten insb die Studierenden diesen Umstand. Die sozialdemokratische Studenten- und Akademikervereinigung veranstaltete einen feierlichen Abschiedsvortrag Grünbergs, um den Gelehrten entsprechend zu ehren. Laut Berichten der zeitgenössischen Presse wollte die Universität Wien für diesen Festakt den Großen Festsaal nicht zur Verfügung stellen, mit der Begründung, „daß der Festsaal bisher noch nie für einen ähnlichen Zweck benutzt worden sei“.* Diese Ehrung seitens der Universität blieb ihm nach 30-jähriger Tätigkeit also verweigert, Grünberg musste seinen letzten Vortrag im Lehrsaal 33, dem größten Hörsaal der Universität, halten.*

4.
Ausblick

Mit dem Weggang Grünbergs nach Frankfurt verlor die Universität Wien einen wichtigen Gelehrten. Die arbeitsrechtlichen Lehrveranstaltungen übernahm Fritz Hawelka, der bereits im Wintersemester 1923/24 die Vorlesung „Soziales Verwaltungsrecht (Arbeiter- und Angestelltenschutz, Sozialversicherung, Fürsorge- und Wohnungswesen)“ gehalten hatte.* Mit der Aufnahme des Arbeits- und Sozialrechts in den Kanon der Pflichtfächer des Studiums der Staatswissenschaften 1926 erfuhren diese Materien einen Aufschwung bei den Lehrveranstaltungen. Immer mehr Hochschullehrer* boten Vorlesungen, Übungen und Seminare zu arbeitsund sozialrechtlichen Aspekten an. Im Sommersemester 1933 standen gar acht Lehrveranstaltungen aus diesem Themengebiet zur Auswahl.* Mit der neuen Studienordnung für das rechts- und staats- 252 wissenschaftliche Studium aus 1935 wurden zwar die Pflichtfächer Sozialrecht sowie Sozialpolitik geschaffen, nicht jedoch das Arbeitsrecht. Erst 1978 wurde das Arbeitsrecht in die Pflichtfächer des juristischen Studiums in Österreich aufgenommen.*

Grünberg selbst erlitt Anfang 1928 einen schweren Schlaganfall, von dem er sich nicht mehr erholte. Er musste die Leitung des Instituts für Sozialforschung abgeben. Nach „zwölfjährige[m] Dahinsterben“ starb Grünberg 1940 in Frankfurt.*