SeifertKollektivverträge für wirtschaftlich abhängige Selbständige und unionsrechtliches Kartellverbot
Bund Verlag, Frankfurt am Main 2022, HSI-Schriftenreihe Bd 42, 144 Seiten, kartoniert, € 20,40
SeifertKollektivverträge für wirtschaftlich abhängige Selbständige und unionsrechtliches Kartellverbot
Achim Seifert setzt sich im 42. Band der Schriftenreihe des Hugo Sinzheimer Instituts (HSI) mit der gleichermaßen aktuellen wie brisanten Frage der Vereinbarkeit von „Kollektivverträgen“ zum Schutz wirtschaftlich abhängiger Selbständiger mit dem Kartellverbot des Art 101 Abs 1 AEUV auseinander. Seifert greift in seinem in Gutachtensform verfassten Werk eine Thematik auf, die zwar nicht nur, aber insb im Kontext der sich wandelnden Arbeitswelt gesehen werden muss: Strukturelle Ungleichgewichtslagen und soziale Schutzbedürfnisse treten heute nicht ausschließlich im Rahmen herkömmlicher Arbeitsverhältnisse auf; sie betreffen zunehmend auch (Solo-)Selbständige. Dies trifft etwa – wie Seifert eingangs aufzeigt – häufig auf Plattformbeschäftigte zu. Verfahren der kollektiven Selbsthilfe scheinen hier durchaus geeignet, Abhilfe zu schaffen und angemessene Vergütungs- und Beschäftigungsbedingungen sicherzustellen. Da diese ihre Schutzfunktion im Wege der Kartellierung der Arbeitskraft entfalten, stehen sie indes in einem Spannungsverhältnis zum EU-Wettbewerbsrecht. Das vorliegende Werk zeigt jedoch in äußerst strukturierter und gut verständlicher Weise, dass sich dieses durchaus wertungsharmonisierend auflösen lässt und auch „Kollektivverträge“ für „wirtschaftlich abhängige“ Soloselbständige von der Anwendung des europäischen Kartellverbots ausgenommen sein müssen.
Seiferts Gutachten gliedert sich in vier unterschiedlich gewichtete, aufeinander aufbauende Teile. Nach einem Problemaufriss werden bestehende Möglichkeiten der kollektiven Gegenmachtbildung bzw kartellrechtliche Ausnahmen für Selbständige im deutschen Recht überblicksweise dargestellt. Hinzuweisen ist hier neben § 17 dt HeimarbeitsG in erster Linie auf die 1974 eingeführte Bestimmung des § 12a dtTarifvertragsG, welche arbeitnehmerähnliche Personen in das Tarifvertragsrecht einbezieht, deren praktische Relevanz allerdings auf den Rundfunk- und Mediensektor beschränkt ist. Ferner wirft Seifert einige Schlaglichter auf Rechtsordnungen ausgewählter EU-Mitgliedstaaten, wobei sich zeigt, dass bereits einige dieser kollektive Verhandlungs- und Vertragsmechanismen für Selbständige etabliert bzw entsprechende Ausnahmen aus dem nationalen Kartellrecht statuiert haben.
Zu Beginn des dritten Teils der Arbeit untersucht Seifert in bemerkenswert ausführlicher Weise, ob bzw inwieweit Kollektivverträge zu Gunsten wirtschaftlich abhängiger Selbständiger den Tatbestand des Art 101 Abs 1 AEUV erfüllen. Er kommt dabei zum Ergebnis, dass bei strikter Anwendung des unionsrechtlichen Kartellverbots vor allem branchenweite Verbandskollektivverträge für Selbständige in weitem Umfang den 257 unionsrechtlichen Kartelltatbestand erfüllen werden. Firmen- bzw Unternehmenskollektivverträge dürften sich indessen regelmäßig unterhalb der Schwelle der Zwischenstaatlichkeit bewegen und somit hinsichtlich des unionsrechtlichen Kartellverbots deutlich unproblematischer sein. Anderes gilt indessen, soweit den abschließenden Unternehmen eine bedeutsame Stellung im Binnenmarkt zukommt, es sich also um marktstarke oder gar marktbeherrschende Unternehmen handelt, oder wenn mehrere koordinierte Firmenkollektivverträge abgeschlossen werden.
Nachdem eine Freistellung gem Art 101 Abs 3 AEUV nach der überzeugenden Ansicht des Autors für Kollektivverträge wirtschaftlich abhängiger Selbständiger nicht in Betracht kommt (aA Mohr/Mey, Kollektivverträge über die Tätigkeitsbedingungen von Solo-Selbständigen nach den neuen Leitlinien der Kommission, NZKart 2022, 665), widmet sich dieser in der Folge der Frage, ob eine Geltungsbereichseinschränkung des unionsrechtlichen Kartellverbotes aufgrund primärrechtlicher Vorschriften geboten ist. Erste tragfähige Argumente findet Seifert idZ bei der Untersuchung der persönlichen Reichweite der Vorschriften über die Sozialpolitik der Union (Art 151 ff AEUV), auf welche der EuGH seine Rsp zur kartellrechtlichen Bereichsausnahme für Tarifverträge zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen von AN vorrangig gestützt hat (grundlegend EuGH 21.9.1999, C-67/96, Albany). Überzeugender ist mE jedoch der zweite Argumentationsansatz des Autors, wonach eine Geltungsbereichseinschränkung des Art 101 AEUV aufgrund des in Art 28 GRC gewährleisteten Grundrechts auf Kollektivverhandlungen geboten ist. Die teleologische Auslegung dieser Bestimmung im Lichte einschlägiger völkerrechtlicher Garantien ergibt nämlich, dass der persönliche Schutzbereich des Grundrechts auch wirtschaftlich abhängige Selbständige erfasst, die ihre Leistungen persönlich erbringen und mit AN vergleichbar schutzbedürftig sind (siehe schon Schwertner, Arbeitnehmerähnliche Selbständige und Kollektivvertrag, DRdA 2022, 126). Das ist im Schrifttum zwar strittig (aA etwa Jarass, Charta der Grundrechte der EU4 [2021] Art 28 GRC Rz 10), überzeugt mE jedoch, denn nur so kann den Schutzanliegen des Grundrechts umfassend Rechnung getragen werden. Präzisierungsbedarf besteht mMn aber hinsichtlich der Ausführungen zu Art 53 GRC: Die Bestimmung sorgt nicht dafür, dass sämtliche einschlägige völkerrechtliche Gewährleistungen den Charakter eines „Mindeststandards“ besitzen (so aber Seifert, S 97). Es handelt sich – wie insb der Vergleich mit Art 52 Abs 3 GRC deutlich macht – gerade um keine allgemeine Transferklausel, sondern um ein Berücksichtigungsgebot (siehe zuletzt Stolzenberg, ILO und EU [2021] 272 ff).
Der letzte Abschnitt des Gutachtens widmet sich schließlich verschiedenen „Folgefragen“, die – so der Autor selbst – eigentlich einer eigenständigen Untersuchung bedurft hätten. So werden etwa erste Lösungsansätze zur Konturierung des Begriffs der „wirtschaftlichen Abhängigkeit“ oder zur Frage der kartellrechtlichen Zulässigkeit von Kampfmaßnahmen Selbständiger angeboten.
Letzten Endes ist es dem Autor mit dem vorliegenden Gutachten gelungen, die wesentlichen Vorgaben des EU-Wettbewerbsrechts für kollektive Verträge zum Schutz wirtschaftlich abhängiger Selbständiger nachvollziehbar und mit der gebotenen wissenschaftlichen Tiefe aufzuzeigen. Die Publikation ist gerade zur rechten Zeit erschienen, hat die gegenständliche Fragestellung zuletzt doch auch die europäische Kommission beschäftigt. Diese hat Ende September 2022 „Leitlinien zur Anwendung des Wettbewerbsrechts der Union auf Tarifverträge über die Arbeitsbedingungen von Solo-Selbstständigen“ verabschiedet (ABl C 2022/374, 2; dazu schon Schwertner, Neue EU-Regeln für Tarifverträge für „Solo-Selbständige“, ZAS 2022, 199). Seiferts Gutachten kann sohin als solide Grundlage für eine weiterführende Auseinandersetzung mit diesem noch lange nicht erschöpfend erörterten Themenkomplex empfohlen werden.