KrüllsPolitische Betätigung im Betrieb

Nomos Verlag, Baden-Baden 2021, 286 Seiten, kartoniert, € 84,30

VIKTORIASTRASSER (WIEN)

Beim hier besprochenen Buch handelt es sich um die an der Universität Köln verfasste Dissertationsschrift des Autors, die sich mit einer für das österreichische Recht ebenso relevanten Frage beschäftigt: Inwiefern sind die Betriebsparteien (AG und BR) zur politischen Betätigung befugt?

Als zentrale Norm erweist sich in diesem Zusammenhang der deutsche § 74 Abs 2 S 3 BetrVG, der auf den ersten Blick eindeutig sagt: „Sie [AG und BR] haben jede parteipolitische Betätigung im Betrieb zu unterlassen.“ Dieser für das österreichische Recht fremde Grundsatz wird im folgenden Halbsatz aber durch einige Bereichsausnahmen entschärft: „Die Behandlung von Angelegenheiten tarifpolitischer, sozialpolitischer, umweltpolitischer und wirtschaftlicher Art, die den Betrieb oder seine Arbeitnehmer unmittelbar betreffen, wird hierdurch nicht berührt.“ Insgesamt konkretisiert § 74 Abs 2 das in § 2 BetrVG enthaltene Kooperationsgebot der Betriebsparteien und erweist sich somit als Ausdruck der allgemeinen, betriebsverfassungsrechtlichen Friedenspflicht.

Anders als der scheinbar klare Wortlaut vermuten lässt, sind die deutsche Lehre und Judikatur von einer Einigkeit über die Bedeutung dieser Vorschrift weit entfernt. Wohl nicht zuletzt deshalb hat es sich der Autor zur Aufgabe gemacht, durch eine umfassende Aufarbeitung des bisherigen Meinungsstands mehr Klarheit in dieses „Diskussionsdickicht“ zu bringen.

Im Anschluss an eine allgemeine Darstellung der historischen Entwicklung des deutschen Betriebsverfassungsrechts und der Konzeption des deutschen Betriebsratsmandats in Kapitel zwei schildert Sebastian Krülls die in Lehre und Judikatur vorhandenen Positionen zur politischen Betätigung der Betriebsparteien. Darauf aufbauend führt er in Kapitel drei eine dem klassischen juristischen Methodenkanon entsprechende Interpretation des § 74 Abs 2 S 3 BetrVG durch und kommt dabei zu einem eigenen Lösungsansatz, der durchaus von der überwiegenden Lehre und Judikatur in Deutschland abweicht. 258

Auch wenn gleich mehrere Unklarheiten bestehen und § 74 Abs 2 S 3 BetrVG definitiv für ausreichend Diskussionsstoff sorgt, so geht es im Kern doch um die Frage, was alles vom Begriff der „parteipolitischen Betätigung“ erfasst sein soll. Man diskutiert also über den konkreten Inhalt bzw die konkrete Reichweite dieses Begriffs. Auf der Beantwortung dieser Frage liegt auch folgerichtig der Schwerpunkt der Dissertation, weshalb sie hier herausgegriffen werden soll.

Naturgemäß könnte man den Begriff weit auslegen oder eben enger. Im ersten Fall würde man auch allgemeinpolitisches Handeln davon erfasst sehen und unter das Verbot stellen, im zweiten Fall hingegen nur Betätigungen für oder gegen eine konkrete politische Partei.

Das Bundesarbeitsgericht (BAG) selbst hat sich hierzu in den vergangenen Jahrzehnten unterschiedlich geäußert, was für die Beendigung der Debatte nicht unbedingt förderlich war. Tatsächlich hat das BAG nämlich im Jahr 2010 eine komplette Judikaturwende vollzogen, die Krülls auch umfassend darstellt. In der E 7 ABR 95/08 vom 17.3.2010 setze sich das BAG über seine bisherige Rsp hinweg und etablierte eine restriktive Auslegung des § 74 Abs 2 S 3 BetrVG. Vom darin enthaltenen Verbot sollen tatsächlich nur politische Betätigungen in Bezug auf eine Partei erfasst sein (wobei Partei hier nicht zu eng gesehen werden sollte). Dieser Befund wird sowohl auf den Wortlaut und Zweck der Norm als auch auf die Meinungsfreiheit des BR (seiner Mitglieder) gestützt, die nicht zu weit beschnitten werden soll (BAG 7 ABR 95/08 NZA 2010, 1133 = NZG 2010, 700 [Baeck[). Die Literatur begegnete diesem Ansatz einerseits mir Kritik, andererseits aber auch mit Zustimmung.

Krülls positioniert sich in diesem Zusammenhang jedenfalls als Kritiker der neuen Judikaturlinie des BAG. Er ist prinzipiell der Auffassung, dass auch allgemeinpolitisches Handeln – und nicht bloß parteipolitisches – von BR und AG verboten sei. Als Begründung führt er eine Vielzahl an Argumenten bezüglich Wortlaut, Historie und Systematik des Gesetzes an.

Auch wenn einige gute Argumente Krülls in Richtung eines weiten Begriffsverständnisses weisen, so vermag seine Interpretation des Gesetzeswortlauts in meinen Augen nicht vollends zu überzeugen. Sollte man seiner Auffassung zustimmen, dass Lehre und Rsp in Deutschland zum Entstehungszeitpunkt der Norm von einer Gleichsetzung der beiden Begriffe „parteipolitisch“ und „politisch“ ausgegangen seien, so wird heute dennoch zwischen diesen beiden Begriffen differenziert werden können. Die Wortlautinterpretation könnte also genauso gut das gegenteilige Ergebnis bringen, wie es auch oft in der deutschen Lehre der Fall ist (Kania in Erfurter Kommentar23 § 74 BetrVG Rz 25; Werner in BeckOK Arbeitsrecht66 § 74 BetrVG Rz 29). Die Argumentation Krülls scheint demnach an diesem Punkt nicht ganz „wasserdicht“ zu sein; insb die Zuhilfenahme der Rsp des BAG dient als kein gutes Argument, da sich diese ja gerade seit 2010 gewandelt hat.

Abgesehen davon kann auch die Auffassung Krülls angezweifelt werden, dass der „Betriebsrat und seine Mitglieder im Rahmen der Amtsausübung keinen Grundrechtsschutz [genießen]“ (S 263). Er meint, „die Grundrechte als solche sind gem. Art 19 Abs 3 GG schon ihrem Wesen nach nicht anwendbar, da es an einem personalen Substrat mangelt“ (S 263). Unabhängig von der Frage, ob der BR als solches grundrechtsfähig ist (er ist sowohl nach deutscher als auch nach österreichischer Lehre bloß teilrechtsfähig), so kann mE nicht bestritten werden, dass es seine Mitglieder sind (so zB auch das BVerfG in 1 BvR 71/73 NJW 1976, 1627). Betriebsratsmitglieder sind „auch nur Menschen“, denen ihr Recht auf Meinungsfreiheit nicht entzogen werden kann, sobald bzw weil sie in einer bestimmten Funktion auftreten. Insofern ist hier der Auffassung des BAG zuzustimmen, dass es sich bei § 74 Abs 2 S 3 BetrVG um einen Grundrechtseingriff handelt, der auf das absolut erforderliche Maß beschränkt werden sollte.

Die Frage, ob das soeben geschilderte Neutralitätsgebot auch die vom BR repräsentierten AN bindet, verneint Krülls jedoch folgerichtig. § 74 Abs 2 S 3 BetrVG richtet sich ausdrücklich nur an AG und BR, eine Erweiterung im Wege der Analogie scheidet auch in meinen Augen aus.

Die letzten Teile des dritten Kapitels beschäftigen sich mit einigen Spezialfragen zur Neutralitätspflicht der Betriebsparteien und mit den ebenfalls in § 74 Abs 2 S 3 BetrVG genannten Bereichsausnahmen. Wichtig scheint an dieser Stelle noch zu betonen, dass ein Verstoß gegen das Betätigungsverbot laut herrschender deutscher Lehre ein aktives Handeln voraussetzt; bloßes Dulden ist hierfür noch nicht ausreichend. Eine darüber hinausgehende Garantenstellung, die Einhaltung des Verbots durch den anderen Betriebspartner sicherzustellen, kann ebenfalls nicht angenommen werden. Dieser Ansicht schließt sich auch Krülls an, der hierfür einige logische Argumente anführt, wie zB den klaren Wortlaut des § 74 Abs 2 S 3 BetrVG („unterlassen“).

Zusammenfassend handelt es sich bei diesem Werk um eine sehr gelungene Dissertation. Dies nicht nur, weil sie die jeweilige Lehre und Judikatur umfassend aufarbeitet, sondern auch zu allen entscheidenden Fragen individuell Stellung bezieht. Auch wenn ich die Meinung des Autors nicht in allen Punkten teilen kann, so leistet er mit seiner Dissertation einen wertvollen Beitrag zur deutschen Diskussion rund um die politische Betätigung im Betrieb, die auch aus österreichischer Sicht nicht unerheblich ist.