20Kinderbetreuungsgeld: Gleichgestellte Zeiten auch nach dem zweiten Lebensjahr
Kinderbetreuungsgeld: Gleichgestellte Zeiten auch nach dem zweiten Lebensjahr
Für die Beurteilung der kollisionsrechtlichen Zuständigkeit Österreichs zur Gewährung des pauschalen Kinderbetreuungsgeldes ist – auch über den Ablauf des zweiten Lebensjahres des Kindes hinaus – von einer (gem Art 11 Abs 2 VO [EG] 883/2004) Beschäftigung gleichgestellten Zeit auszugehen.
Der innerstaatliche Gesetzgeber kann zwar den Beschäftigungsbegriff des Art 1 lit a a VO (EG) 883/2004 definieren, nicht jedoch durch eine solche Definition die zwingenden Zuständigkeitsregeln der VO (EG) 883/2004 verändern.
Die Anwendung der „Familienbetrachtungsweise“ (gem Art 60 Abs 1 Satz 2 DVO [EG] 987/2009) kann nicht eine internationale Zuständigkeit begründen.
Gegenstand des Revisionsverfahrens war der Anspruch der Kl auf Zuerkennung von pauschalem Kinderbetreuungsgeld als Konto aus Anlass der Geburt ihres Sohnes am 29.3.2018. Inhaltlich strittig war insb noch der Zeitraum von 1.4.2020 bis 30.6.2020, hinsichtlich dessen die bekl Österreichische Gesundheitskasse (ÖGK) ihre (internationale) Zuständigkeit bestritt.
Die Kl, tschechische Staatsbürgerin, hatte seit [...] 2016 ihren Hauptwohnsitz in G*, Vorarlberg, wo sie auch gemeldet war. Sie arbeitete unselbständig erwerbstätig bis vor der Geburt ihres Sohnes [am 29.3.2018] bei der P* GmbH in G*. Sie bezog ab 2.2.2018 Wochengeld und ab 1.3.2018 Familienbeihilfe. Aus Anlass der Geburt ihres Sohnes beantragte die Kl bei der Rechtsvorgängerin der Bekl die Zuerkennung von pauschalem Kinderbetreuungsgeld als Konto für den Zeitraum von 29.3.2018 bis 26.7.2020 (851 Tage). Mit ihrem AG, der P* GmbH vereinbarte die Kl eine Karenz [...] bis 28.9.2020. Nach Ende des Wochengeldbezugs [...] bezog die Kl ab 26.5.2018 bis 31.3.2020 das Kinderbetreuungsgeld in Höhe von 14,53 € täglich. Etwa zum Zeitpunkt der Geburt des Sohnes trennte sich die Kl vom Vater des Kindes und wohnte weiterhin in der Wohnung in G*, wo sie am 3.4.2018 auch den Sohn anmeldete. Mit E-Mail [...] informierte die Kl die Bekl über ihren geplanten Umzug nach Tschechien [...].
Ab Anfang des Jahres 2020 beabsichtigte die Kl, nach Tschechien zurückzukehren und sich eine Arbeit in einem grenznahen Ort [Anm: in Österreich] zu suchen. Im März 2020 fand sie eine neue Arbeitsstelle in M*, die etwa 20 km von ihrem nunmehrigen Wohnort in Tschechien entfernt ist. Wegen des Lockdowns konnte sie diese Arbeitsstelle erst im Mai 2020 [...] antreten. Am 27.5.2020 lösten die Kl und die P* GmbH das Dienstverhältnis [...] einvernehmlich auf. Der Familienbeihilfenbezug der Kl endete am 30.6.2020.
Mit dem angefochtenen Bescheid [...] wies die Bekl den Antrag der Kl auf Zuerkennung des Kinderbetreuungsgelds für den Zeitraum von 1.4.2020 bis 26.7.2020 ab. Sie widerrief die Zuerkennung des Kinderbetreuungsgelds für den Zeitraum von 1.10.2019 bis 31.3.2020 [...] und verpflichtete die Kl zum Rückersatz [...].
Mit der gegen diesen Bescheid gerichteten Klage begehrte die Kl die Zuerkennung [...] für den Zeitraum von 1.4.2020 bis 26.7.2020 sowie die Feststellung, dass sie nicht zum Rückersatz [...] verpflichtet sei. Sie sei wegen der Pandemie erst im Juli 2020 nach Tschechien übersiedelt, alle Anspruchsvoraussetzungen seien während des gesamten Bezugszeitraums erfüllt gewesen. Vom Vater des Kindes lebe sie getrennt.215
Die Bekl wandte [...] ein, dass die Kl und ihr Kind ab 1.10.2019 den Lebensmittelpunkt nicht mehr in Österreich gehabt hätten. Die Kl habe Familienbeihilfe nur bis 30.6.2020 bezogen.
Das Erstgericht gab der Klage statt. Es traf noch folgende, von der Bekl in der Berufung angefochtene Feststellungen: „Schließlich übersiedelte die Kl ua wegen des Pandemieausbruchs erst im Juli 2020 nach Tschechien. [...]“
Rechtlich begründete es seine Entscheidung damit, dass der Mittelpunkt der Lebensinteressen der Kl und ihres Kindes während des Bezugszeitraums immer in Österreich gewesen sei.
Das Berufungsgericht gab der Berufung der Bekl teilweise Folge. Es bestätigte das Urteil des Erstgerichts im Umfang der Zuerkennung von Kinderbetreuungsgeld für den Zeitraum von 1.4.2020 bis 30.6.2020 und der Feststellung, dass die Kl nicht zum Rückersatz [...] verpflichtet sei. Im Umfang des Anspruchs der Kl auf Zuerkennung von pauschalem Kinderbetreuungsgeld für den Zeitraum von 1.7.2020 bis 26.7.2020 hob es das Urteil des Erstgerichts auf und verwies die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an dieses zurück. [...]
Das Berufungsgericht erachtete die in der Beweisrüge von der Bekl begehrte Feststellung, dass die Kl bereits im Monat März 2020 (und nicht erst im Juli 2020) von Österreich nach Tschechien übersiedelt sei, als rechtlich nicht erheblich. Infolge eines Umzugs im März 2020 würde die Kl zur Grenzgängerin iSd Art 1 lit a f der VO (EG) 883/2004, sodass der Anwendungsbereich der Verordnung eröffnet sei. Österreich sei zur Gewährung von Familienleistungen gem Art 11 Abs 3 lit a a VO (EG) 883/2004 zuständig, weil die Kl während des Bezugszeitraums durchgehend – bis Mai 2020 bei der P* GmbH in G* und ab Mai 2020 in M* – in Österreich unselbständig erwerbstätig gewesen sei. Die über die Dauer von zwei Jahren hinausreichende Karenz der Kl sei als einheitlicher Sachverhalt zu beurteilen und ändere nichts an der Zuständigkeit Österreichs, weil die Kl während der gesamten Karenz teilversichert gewesen sei. Auf eine von der Bekl behauptete Erwerbstätigkeit des Vaters in Tschechien komme es nicht an [...]. Da die Kl bis Ende Juni 2020 die Familienbeihilfe bezogen habe, bestehe ihr Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld jedenfalls bis zu diesem Zeitpunkt zu Recht. Hinsichtlich des restlichen Zeitraums 1.7. bis 26.7.2020 seien die Anspruchsvoraussetzungen noch zu klären. Die Revision sei mangels Vorliegens einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO nicht zulässig.
Gegen dieses Urteil richtet sich die außerordentliche Revision der Bekl, mit der sie die Abweisung der Klage anstrebt. [...] Die Revision ist zur Klarstellung zulässig, sie ist jedoch nicht berechtigt. Die Revisionswerberin macht geltend, dass Rsp zu grenzüberschreitenden Fällen mit Erwerbsunterbrechungen nach dem zweiten Geburtstag des Kindes fehle. Eine „gleichgestellte“ Zeit liege nach dem zweiten Geburtstag des Kindes gem § 24 Abs 3 KBGG nicht vor; die vor Einführung dieser Bestimmung ergangene frühere Rsp des OGH sei nicht anwendbar. Im Zeitraum von 29.3.2020 bis 30.6.2020 gelange Art 11 Abs 3 lit a a VO (EG) 883/2004 entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts nicht zur Anwendung. Rsp zur Anwendung des § 24 Abs 3 KBGG „in Bezug“ auf Art 11 Abs 3 lit a a VO (EG) 883/2004 fehle. Aufgrund der auch hier anzuwendenden Familienbetrachtungsweise sei Tschechien zur Gewährung von Familienleistungen prioritär und Österreich nur nachrangig zuständig, denn der Vater des Kindes sei in Tschechien beschäftigt und das Kind habe seinen Wohnsitz seit 1.3.2020 in Tschechien gehabt. Nachrangige österreichische Familienleistungen könne die Kl aufgrund der höheren tschechischen Kinderbetreuungsgeldleistungen nicht fordern. Das Berufungsgericht sei zu diesem Thema zu Unrecht von einer unbeachtlichen Neuerung ausgegangen. [...]
1. Voranzustellen ist, dass die Bekl – wie sich bereits aus der Beweisrüge ihrer Berufung ergibt – die Behauptung, die Kl und ihr Kind hätten den Mittelpunkt ihrer Lebensinteressen bereits im Oktober 2019 nach Tschechien verlegt, nicht aufrecht erhält. Sie geht vielmehr von einer Übersiedelung der Kl und ihres Kindes mit 1.3.2020 nach Tschechien aus. [...]
2.1 Seit der vom Berufungsgericht ohnehin zitierten E 10 ObS 117/14z [...] entspricht es der stRsp des OGH, dass im Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004 von der Fiktion der (weiteren) Ausübung der Erwerbstätigkeit auch nach Ablauf des in § 24 Abs 2 und 3 KBGG genannten Zeitpunkts des Ablaufs des zweiten Lebensjahres des Kindes dann auszugehen ist, wenn ein Beschäftigungsverhältnis lediglich vorübergehend (für die Zeit der Karenz bzw des Bezugs von Kinderbetreuungsgeld) unterbrochen wird, dem Grund nach aber fortbesteht und dies nach nationalem Recht zu einer Teilversicherung führt (RS0130045). Die Dauer des möglichen Bezugs von Kinderbetreuungsgeld während eines aufrechten Dienstverhältnisses – die ja zwei Jahre übersteigen kann – ist als ein einheitliches Sachverhaltselement anzusehen, das für eine durchgehende Fiktion der Ausübung der Erwerbstätigkeit spricht [...].
2.2 Daran hielt der OGH in den Entscheidungen 10 ObS 135/16z [...] zu einer Anschlusskarenz [...] und 10 ObS 96/17s – hier auch unter Bezugnahme auf § 24 Abs 3 KBGG – [...] fest. In 10 ObS 96/17s entschied der OGH überdies – unter Bezugnahme auf die Entscheidung 10 ObS 51/17y [...] –, dass die in § 24 Abs 2 KBGG enthaltenen Worte „vorübergehende Unterbrechung“ nur so verstanden werden können, dass damit die Karenzzeit an sich als vorübergehende Unterbrechung einer (zuvor zumindest sechs Monate andauernden) Erwerbstätigkeit angesprochen wird und weder ein Austritt nach § 15r Z 3 MSchG bei Inanspruchnahme einer Karenz nach den §§ 15a, 15c, 15d oder 15q MSchG noch ein vorzeitiger berechtigter Austritt wegen bei der Geburt erlittener Verletzungen (Dienstunfähigkeit nach § 26 Z 1 AngG) die Gleichstellung der Karenz mit der tatsächlich ausgeübten Erwerbstätigkeit aufheben soll. 2.3 In 10 ObS 103/18x [...] entschied der OGH, dass § 24 Abs 3 KBGG nicht geeignet ist, eine aus dem im Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004 bestehenden Widerspruch des § 24 Abs 2216 KBGG zu Art 11 Abs 2 VO (EG) 883/2004 folgende Unionsrechtswidrigkeit zu beseitigen. Eine Zeit des Bezugs von Krankengeld ohne Entgeltfortzahlung im Zeitraum von 182 Tagen vor der Geburt des ersten Kindes ist daher als einer Beschäftigung iSd kollisionsrechtlichen Beurteilung der Leistungszuständigkeit Österreichs gem Art 11 Art 2 VO (EG) 883/2004 gleichgestellte Zeit anzusehen, wenn es um die Anspruchsvoraussetzungen für den Bezug pauschalen Kinderbetreuungsgelds geht. Auch eine „freiwillige“ Verlängerung der gesetzlichen Karenz unter Aufrechterhaltung des Arbeitsverhältnisses nach der Geburt des ersten Kindes um neun Tage ist für den Anspruch auf pauschales Kinderbetreuungsgeld als einer Beschäftigung gleichgestellte Zeit iSd Art 11 Abs 2 VO (EG) 883/2004 anzusehen (10 ObS 104/21y).
3.1 Selbst dann, wenn man mit der (nunmehrigen) Behauptung der Bekl davon ausginge, dass die Kl bereits im März 2020 in die Tschechische Republik verzogen wäre und den Mittelpunkt ihrer Lebensinteressen nicht mehr in Österreich hätte, bestünde ihr Anspruch auf pauschales Kinderbetreuungsgeld als Konto für den Zeitraum April 2020 bis Juni 2020 zu Recht. [...]
3.3 Das Kind vollendete das zweite Lebensjahr am 29.3.2020. Der Anspruch der Kl auf pauschales Kinderbetreuungsgeld als Konto reicht jedoch über das zweite Lebensjahr des Sohnes bis zum 26.7.2020 hinaus. In dieser Zeit bestand das Dienstverhältnis der Kl zu ihrem DG in Vorarlberg infolge der Karenzvereinbarung aufrecht fort. Die Kl war gem § 28 KBGG bzw § 8 Abs 1 Z 1 lit a f ASVG für die Dauer des Bezugs von Kinderbetreuungsgeld (§ 28 Abs 3 KBGG) in der KV teilversichert, weil nach § 28 KBGG die Bekl als Krankenversicherungsträger zuständig ist. Die Dauer des möglichen Bezugs von Kinderbetreuungsgeld während eines aufrechten Dienstverhältnisses ist nach der dargestellten Rsp als ein einheitliches Sachverhaltselement anzusehen, das für eine durchgehende Fiktion der Ausübung der Erwerbstätigkeit spricht. Art 11 Abs 2 VO (EG) 883/2004 soll kurzfristige Änderungen der Zuständigkeit bei vorübergehender Einstellung der Erwerbstätigkeit und kurzfristigem Bezug von Geldleistungen der sozialen Sicherheit (zB Krankengeld) gerade verhindern (10 ObS 114/17z). Wie ausgeführt, ist die Karenz als vorübergehende Unterbrechung der Erwerbstätigkeit an sich anzusehen (10 ObS 135/16z). Für die Beurteilung der kollisionsrechtlichen Zuständigkeit Österreichs zur Gewährung pauschalen Kinderbetreuungsgeldes ist daher hier bis zur (vorzeitigen) einvernehmlichen Beendigung dieses Dienstverhältnisses am 27.5.2020 – auch über den Ablauf des zweiten Lebensjahres des Kindes hinaus – von einer (gem Art 11 Abs 2 VO [EG] 883/2004) Beschäftigung gleichgestellten Zeit auszugehen.
3.4.1 Bereits ab Mai 2020 übte die Kl bei einem neuen DG in Österreich wiederum eine unselbständige Erwerbstätigkeit aus, sodass sich die internationale Zuständigkeit Österreichs zur Gewährung von pauschalem Kinderbetreuungsgeld für die weitere Dauer dieser Beschäftigung aus Art 11 Abs 3 lit a a VO (EG) 883/2004 ergibt. [...]
3.4.2 Der OGH hat bereits in der E 10 ObS 96/17sausgeführt, dass Geldleistungen, die nach den Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten oder nach dieser Verordnung zu zahlen sind, gem Art 7 VO (EG) 883/2004 nicht aufgrund der Tatsache gekürzt, geändert, zum Ruhen gebracht, entzogen oder beschlagnahmt werden dürfen, dass der Berechtigte oder seine Familienangehörigen in einem anderen als dem Mitgliedstaat wohnt bzw wohnen, in dem der zur Zahlung verpflichtete Träger seinen Sitz hat. Der europäische Gesetzgeber ordnet an, dass der Anspruch weder dem Grunde noch der Höhe nach von einem Wohnsitz im Inland abhängig gemacht werden darf. Art 7 VO (EG) 883/2004 betrifft § 24 Abs 2 KBGG, insoweit diese Regelung als Kollisionsregelung diskriminierende Anspruchsvoraussetzungen schafft, die zum Entzug des Kinderbetreuungsgeldes wegen des Wohnorts in einem anderen Mitgliedstaat führen. Nichts anderes kann für § 24 Abs 3 KBGG gelten, weil der innerstaatliche Gesetzgeber zwar den Beschäftigungsbegriff des Art 1 lit a a VO (EG) 883/2004 definieren kann, nicht jedoch durch eine solche Definition die zwingenden Zuständigkeitsregeln der VO (EG) 883/2004 verändern kann (vgl nur E 10 ObS 101/18b SSV-NF 33/8 mwH). Zu diesen Zuständigkeitsregeln zählt Art 11 Abs 3 lit a a VO (EG) 883/2004 ebenso wie Art 11 Abs 2 VO (EG) 883/2004. Wie § 24 Abs 2 KBGG hat daher auch § 24 Abs 3 KBGG insofern unangewendet zu bleiben, als er gegen zwingende unionsrechtliche Zuständigkeitsregelungen verstößt (vgl RS0109951 [T3]).
4.1 [...] Selbst, wenn man iSd Behauptungen der Revisionswerberin davon ausginge, dass auch das Kind mit der Kl bereits ab 1.3.2020 nach Tschechien übersiedelt wäre, hätte dies wie dargelegt wegen Art 7 VO (EG) 883/2004 keine andere rechtliche Beurteilung zur Folge.
4.2 Ausgehend vom festgestellten Sachverhalt kann die Bekl die von ihr behauptete nachrangige Zuständigkeit auch nicht auf die sogenannte „Familienbetrachtungsweise“ (Art 60 Abs 1 Satz 2 DVO (EG) 987/2009) stützen. Diese stellt nämlich lediglich im Ergebnis eine spezielle Ausprägung der Sachverhaltsgleichstellung iSd Art 5 VO (EG) 883/2004 dar (10 ObS 148/14h SSV-NF 29/59; Felten in Spiegel, Zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht, Art 60 DVO [EG] 987/2009 Rz 1). Die Anwendung der „Familienbetrachtungsweise“ kann daher nicht eine internationale Zuständigkeit begründen: Vielmehr hat umgekehrt der – zunächst zu bestimmende – zuständige Träger die Familienbetrachtungsweise anzuwenden, was hier aber, wie das Berufungsgericht im Ergebnis zutreffend ausführt, für die zur Gewährung von Familienleistungen zuständige Bekl nicht erforderlich ist. [...]
Der Revision war daher nicht Folge zu geben.
Gegenstand des Revisionsverfahrens war die internationale Zuständigkeit der bekl ÖGK für die Gewährung von pauschalem Kinderbetreuungs-217geld als Kontovariante für 851 Tage. (Die ÖGK handelt gem § 25 Abs 2 KBGG betreffend Vollziehung des Kinderbetreuungsgeldes im übertragenen Wirkungsbereich für das zuständige Ministerium für Frauen, Familie, Integration und Medien im Bundeskanzleramt und ist somit an Weisungen des Familienministeriums gebunden.) Die Bekl hat ihre Zuständigkeit zum Ablauf des zweiten Lebensjahres des Kindes unter Heranziehung des § 24 Abs 3 KBGG (BGBl I 2016/53) verneint. Bei Feststellung einer doch bestehenden Zuständigkeit durch das Gericht hätte die Bekl aufgrund der VO (EG) 883/2004 sowie der DVO (EG) 987/2009 diese lediglich als eine nachrangige anerkannt, wobei sie die Leistungshöhe der gebührenden Ausgleichszahlung mit EUR Null berechnete. Die von der Bekl in eventu behauptete nachrangige Zuständigkeit wurde mit dem Umzug der Kl nach Tschechien begründet.
Anspruch auf das pauschale Kinderbetreuungsgeld gem § 2 Abs 1 KBGG hat ein Elternteil für ein Kind (auch Adoptiv- oder Pflegekind) – unter Ausklammerung von weiteren Stolpersteinen im Kinderbetreuungsgeldgesetz (KBGG) – grundsätzlich dann, sofern für dieses Kind ein Anspruch auf Familienbeihilfe besteht und diese auch tatsächlich bezogen wird, sowie wenn der Elternteil und das Kind in einem gemeinsamen Haushalt leben (gem § 2 Abs 6 KBGG in einer gemeinsamen Wirtschaftsund Wohngemeinschaft mit einer gemeinsamen hauptwohnsitzlichen Meldung unter dieser Adresse), wenn der Gesamtbetrag der maßgeblichen Einkünfte des Elternteiles im Kalenderjahr den absoluten oder individuellen Grenzbetrag nicht übersteigt und wenn der Elternteil und das Kind den Mittelpunkt der Lebensinteressen im Bundesgebiet haben.
Das Kinderbetreuungsgeld ist keine Versicherungsleistung, sondern eine Familienleistung (vgl Felten in Spiegel [Hrsg], Zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht, Art 67 Rz 2) iSd Art 1 lit a Z der VO (EG) 883/2004 und ist von einer vorherigen Beschäftigung unabhängig (außer für berufstätige Eltern in der später eingeführten Variante des einkommensabhängigen Kinderbetreuungsgeldes). Die Ausübung einer kranken- und pensionsversicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit in Österreich gem § 24 Abs 2 KBGG ist nicht Anspruchsvoraussetzung für den Bezug des pauschalen Kinderbetreuungsgeldes als Konto (OGH 26.5.2020, 1 ObS 173/19t).
Für die Anwendbarkeit des europäischen Sozialrechts ist das Vorliegen eines grenzüberschreitenden Sachverhalts notwendig. Dieser liegt vor, wenn Personen, Sachverhalte oder Begehren eine rechtliche Beziehung zu einem anderen Mitgliedstaat aufweisen (Sonntag in Sonntag/Schober/Konezny [Hrsg], KBGG § 2 Rz 44). Da im vorliegenden Fall bereits vom Erstgericht die Feststellung getroffen wurde, dass die Kl erst mit Juli 2020 nach Tschechien übersiedelte und somit ihr Lebensmittelpunkt und auch der ihres Kindes bis dorthin in Österreich lag, kann mE ein internationaler Sachverhalt bis zum Übersiedlungszeitpunkt ohnehin nicht angenommen werden. Die Kl war in dieser Zeit auch keine Grenzgängerin iSd Art 1 lit a f VO (EG) 883/2004, weil sie in Österreich wohnte und hier einer Beschäftigung nachging. Auf die Kl waren daher die Vorschriften mehrerer Mitgliedstaaten nicht anwendbar, der persönliche Anwendungsbereich der KoordinierungsVO (EG) 883/2004 war für sie als unmittelbar Berechtigte nicht eröffnet.
Die Bekl argumentierte betreffend ihre nachrangige Zuständigkeit mit Art 60 Abs 1 DVO (EG) 987/2009. Dieser normiert für den Bereich der Familienleistungen die Anwendbarkeit der sogenannten „Familienbetrachtungsweise“. Danach soll für die Frage, ob ein Anspruch auf Familienleistungen besteht und in welcher Höhe dieser gebührt, die gesamte Situation der Familie vom zuständigen Träger berücksichtigt werden, auch dann, wenn gewisse Sachverhaltselemente – wie Wohnsitz, Beschäftigungsort, Arbeitseinkommen etc – in einem anderen Mitgliedstaat liegen oder dort eingetreten sind. Beide Eltern des Kindes werden iSd Verordnung auch dann als „Familie“ angesehen, wenn sie – wie im vorliegenden Fall – getrenntlebend sind; Väter werden selbst dann als „Familienangehörige“ mitberücksichtigt, wenn diese mit der Kindesmutter und mit dem Kind weder finanzielle noch persönliche Kontakte pflegen. Diese Regelung führt in der Praxis zu erheblichen Hürden für Alleinerzieher:innen bei der Geltendmachung ihrer Ansprüche und kann somit Existenzprobleme auslösen.
Die Familienbetrachtungsweise bewirkt, dass Familienleistungen einer Person auch dann zustehen, wenn diese nicht in dem Mitgliedstaat wohnt, der für die Gewährung dieser Leistung zuständig ist, sofern alle anderen durch das nationale Recht vorgeschriebenen Voraussetzungen für die Gewährung erfüllt sind (vgl auch EuGH 18.9.2019, C-32/18, Moser, Rn 44). Dies hätte nur dann eine Bedeutung, wenn die Kl – als Familienangehörige gem Art 1 lit a i VO (EG) 883/2003 – einen aus der Beschäftigung des Kindesvaters abgeleiteten Anspruch auf Familienleistungen nach tschechischem Recht geltend gemacht hätte, was jedoch nicht der Fall war (OGH 26.5.2020, 10 ObS 173/19t). Der von der Kl geltend gemachte Anspruch auf das pauschale Kinderbetreuungsgeld war nicht aus der Beschäftigung des Kindesvaters abgeleitet. Die Kl erfüllte über den gesamten Bezugszeitraum sämtliche Anspruchsvoraussetzungen für das österreichische Kinderbetreuungsgeld in eigener Person (Anm: im Verfahren war der Familienbeihilfebezug nach 30.6.2020 noch offen).
Nach Ansicht des OGH kann die Bekl die von ihr angenommene nachrangige Zuständigkeit nicht aus218 Art 60 DVO (EG) 987/2009 ableiten, da die Familienbetrachtungsweise lediglich eine spezielle Ausprägung der Sachverhaltsgleichstellung des Art 5 VO (EG) 883/2004 darstellt (OGH10 ObS 148/14h SSV-NF 29/59; Felten in Spiegel [Hrsg], Zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht, Art 60 DVO [EG] 987/2009 Rz 1) und keine Zuordnungsnorm des anwendbaren Rechts ist. Somit ist Art 60 DVO (EG) 987/2009 nicht geeignet, daraus eine internationale Zuständigkeit abzuleiten. Erst wenn feststeht, dass mehrere Ansprüche aus unterschiedlichen Mitgliedstaaten bestehen und daher eine Rangfolge der Zuständigkeit bzw des anzuwendenden Rechts nach Art 68 Abs 2 VO (EG) 883/2004 aufzustellen ist, werden sämtliche vergleichbare Familienleis tungen der betroffenen Mitgliedstaaten iSd Familienbetrachtungsweise berücksichtigt. Dementsprechend auch der Wortlaut des Art 60 Abs 1 Satz 2 DVO (EG) 987/2009, welcher sich explizit auf die Prioritätsregeln des Art 68 VO (EG) 883/2004 und somit auf die Kumulierung von Familienleistungen bezieht (vgl auch EuGH Rs Moser, Rn 33, 34) bezieht.
Personen im Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004 – wie Grenzgänger:innen – unterliegen den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaates. Welche Rechtsvorschriften für Anspruchswerber:innen anwendbar sind, richten sich nach Art 11 der VO (EG) 883/2004. Dies ist primär jener, in dem eine selbständige oder unselbständige Beschäftigung ausgeübt wird (Beschäftigungsstaatprinzip). Subsidiär ist die Zuständigkeit des Wohnmitgliedstaats gem Art 11 Abs 3 lit a e VO (EG) 883/2004 gegeben. Somit spielt eine Beschäftigung bei grenzüberschreitenden Fällen für die Feststellung der Zuständigkeit eines Mitgliedstaates eine Rolle. Diese kollisionsrechtliche Relevanz einer Beschäftigung darf jedoch nicht als eine zusätzliche Anspruchsvoraussetzung für das pauschale Kinderbetreuungsgeld interpretiert und herangezogen werden.
Gem Art 1 lit a a VO (EG) 883/2004 ist unter einer Beschäftigung jede Tätigkeit oder gleichgestellte Situation zu verstehen die nach nationalem Recht als solche zu qualifizieren ist. Für das Kinderbetreuungsgeld (für die einkommensabhängige und die pauschale Variante) ist § 24 Abs 2 KBGG einschlägig. Der Umstand, dass Art 1 lit a a VO (EG) 883/2004 auf das innerstaatliche Recht verweist, ändert aber nichts daran, dass der Begriff der Beschäftigung unionskonform auszulegen ist. Somit ist die ausschließliche Berücksichtigung von Tätigkeiten in Österreich nach § 24 Abs 2 KBGG unionsrechtswidrig (vgl Felten in Spiegel [Hrsg], Zwischenstaatliches Sozialrecht, Art 60 VO 987/2009 Rz 3; OGH 22.10.2015, 10 ObS 148/14h; OGH 15.10.2019, 10 ObS 137/19y).
Die Verwaltungskommission hat mit Beschluss Nr F1 vom 12.6.2009 eine Konkretisierung des Beschäftigungsbegriffs des Art 68 VO (EG) 883/2004 vorgenommen. Demnach werden Ansprüche auf Familienleistungen iSd Art 68 VO (EG) 883/2004 auch dann als aufgrund einer Beschäftigung ausgelöst angesehen, wenn Zeiten einer vorübergehenden Unterbrechung der Beschäftigung wegen Mutterschaft oder eines unbezahlten Urlaubs zum Zweck der Kindererziehung vorliegen, solange diese nach den einschlägigen Rechtsvorschriften einer Beschäftigung gleichgestellt sind. Gem § 24 Abs 2 KBGG sind Zeiten einer vorübergehenden Unterbrechung einer zuvor 182 Kalendertage andauernden Erwerbstätigkeit wegen eines Beschäftigungsverbots oder einer Mutter- bzw Väterkarenz nach dem MSchG bzw VKG einer Erwerbstätigkeit gleichzuhalten. Damit gelten Karenzzeiten gem § 15 MSchG als eine Beschäftigung und sind bei der Festlegung der Zuständigkeiten vorrangig zu behandeln (Felten in Spiegel [Hrsg], Zwischenstaatliches Sozialrecht, Art 68 VO 883/2004 Rz 6). Der OGH hat zudem im Wege einer unionsrechtskonformen Interpretation nicht nur die gesetzliche Mutterschaftskarenz, sondern auch die einer vereinbarten Karenz als „Beschäftigung“ angesehen (OGH 15.3.2016, 10 ObS 117/14z).
Der Gesetzgeber reagierte mit der Änderung des KBGG (für Geburten nach dem 28.2.2017, BGBl I 2016/53; § 50 Abs 14 und Abs 15 KBGG) auf die Judikatur des OGH zu unionsrechtlichen Fragen. Mit der Novelle wurde § 24 KBGG mit einem dritten Absatz ergänzt und damit gleichzeitig eine einschränkende Regelung getroffen. § 24 Abs 3 KBGG begrenzt die „Beschäftigungsfiktion“ betreffend Karenzzeiten des § 24 Abs 2 KBGG mit dem zweiten Lebensjahr des Kindes und lässt freiwillige oder kollektivvertragliche Karenzvereinbarungen über den zweiten Geburtstag hinaus unberücksichtigt. Diskrepanz besteht auch zur höchstmöglichen Bezugsdauer des pauschalen Kinderbetreuungsgeldes, welche ab der Geburt des Kindes bis zum 851. Tag (bei partnerschaftlicher Teilung sogar bis zum 1.063. Tag) mit § 5 KBGG ermöglicht wird.
In den Materialien (ME 181 BlgNR 25. GP 11) beruft sich der Gesetzgeber auf das Recht, die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Familienleistungen autonom festzulegen. Dem ist zuzustimmen, dennoch kann die gesetzgeberische Selbstbestimmtheit nicht zur Normierung von diskriminierenden Anspruchsvoraussetzungen führen. Daher wird der Beschäftigungsbegriff vom OGH weit ausgelegt, denn § 24 Abs 3 KBGG benachteiligt insb Personen, die von ihren Freizügigkeitsrechten Gebrauch machen.
Die weisungsgebundene Revisionswerberin ging entsprechend den Erläuterungen (ErläutRV 1110 BlgNR 25. GP 15) zum § 24 Abs 3 KBGG davon aus, dass eine gleichgestellte Zeit nach dem zweiten Geburtstag des Kindes grundsätzlich nicht vorliegen kann, sowie dass zwingende Zuständig-219keitsregeln der VO (EG) 883/2004 von den nationalen Regelungen im KBGG verdrängt und somit nicht anwendbar wären. Diese Annahme, wonach nicht auf die europarechtlichen Zuständigkeitsregeln, sondern auf die jeweiligen nationalen Voraussetzungen nach dem KBGG abzustellen ist, ist rechtlich verfehlt. Der innerstaatliche Gesetzgeber kann zwar den Beschäftigungsbegriff des Art 1 lit a a VO (EG) 883/2004 definieren, nicht jedoch durch eine solche Definition die zwingenden Zuständigkeitsregeln der VO [EG] 883/2004 verändern (OGH 19.2.2019,10 ObS 101/18b). Wie § 24 Abs 2 KBGG hat daher auch § 24 Abs 3 KBGG insofern unangewendet zu bleiben, als er gegen zwingende unionsrechtliche Zuständigkeitsregelungen verstößt (vgl RS0109951 [T3]). Die Unionsrechtskonformität des § 24 Abs 3 KBGG wurde nachvollziehbar auch von der Literatur in Zweifel gezogen (Felten in Spiegel [Hrsg], Zwischenstaatliches Sozialrecht, Art 68 VO [EG] 883/2004 Rz 6/1; Sonntag, Unions-, verfassungs- und verfahrensrechtliche Probleme der KBGG-Novelle 2016 und des Familienzeitbonusgesetzes, ASoK 2017, 2 [7]).
Nach stRsp ist im Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004 eine an die zweijährige gesetzliche Karenz anschließende freiwillige Karenz kein Hindernis für die kollisionsrechtliche Gleichstellung dieser Zeit mit einer Beschäftigung und ist als einheitlicher Sachverhalt zu qualifizieren (OGH 19.10.2021, 10 ObS 104/21y; OGH 20.12.2017, 10 ObS 96/17s). Der OGH nimmt bei Anschlusskarenzen über das zweite Lebensjahr hinaus weiterhin eine fiktive Beschäftigung an, wenn das Beschäftigungsverhältnis für die Karenzierung unterbrochen wurde und eine Teilversicherung (nach § 8 Abs 1 Z 1 lit a f oder nach § 8 Abs 1 Z 2 lit a g ASVG) besteht (RS0130045). Im vorliegenden Fall war die Kl gem § 28 KBGG bzw § 8 Abs 1 Z 1 lit a f ASVG für die Dauer des Bezugs von Kinderbetreuungsgeld in der KV teilversichert. Somit wäre die österreichische primäre Zuständigkeit – selbst bei einem grenzüberschreitenden Sachverhalt – aufgrund der Beschäftigungsfiktion über das zweite Lebensjahr hinaus aufrecht.
Ziel der Kollisionsnormen ist, dass AN sowie ihre Familienangehörigen, die im EU-Raum zuund abwandern, lückenlos von den mitgliedstaatlichen Systemen der sozialen Sicherheit erfasst werden. Da eine Änderung des KBGG in der nahen Zukunft nicht in Aussicht steht und gleichzeitig die Gewährung von Familienleistungen für die Antragsteller:innen – insb für Alleinerzieher:innen – existenziell ist, sind die zahlreichen Judikate und Klarstellungen der Höchstgerichte, insb des OGH zum KBGG – (auch) iS einer unionsrechtskonformen Interpretation – von essentieller Bedeutung.