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Begünstigte Behinderung (vorläufig) auch durch Bescheid über Behindertenpass

MANFREDTINHOF

Die Zugehörigkeit zum Kreis der begünstigten Behinderten kann grundsätzlich auf zwei Wegen erworben werden, nämlich durch eine Entscheidung einer Behörde iSd § 14 Abs 1 BEinstG („Ex-lege-Begünstigung“) oder nach Abs 2 leg cit durch einen über Antrag zu erlassenden Bescheid des Bundesamts für Soziales und Behindertenwesen (Sozialministeriumservice).

Unter Zugrundelegung des § 45 Abs 2 Bundesbeamtengesetz (BBG) idgF stellt der – hier aufgrund eines eigenen Verfahrens ausgestellte – Behindertenpass einen Bescheid iSd § 14 Abs 1 lit a BEinstG dar, der die Zugehörigkeit zum Kreis der begünstigten Behinderten nachweist.

Sachverhalt

Die Kl war bei der Bekl, einer Ärztin, vom 8.6.2020 bis 15.5.2021 als Angestellte beschäftigt. Bereits am 23.3.2020 war aufgrund eines Antrags der Kl durch Bescheid des Sozialministeriumservice nach § 40 BBG festgestellt worden, dass bei ihr ein Grad der Behinderung von 50 % vorliege. Es wurde ihr ein unbefristeter Behindertenpass ausgestellt. Einen weiteren Bescheid über ihre Eigenschaft als begünstigte Behinderte erhielt die Kl nicht, weshalb sie nicht davon ausging, zu diesem Kreis zu gehören.

In ihrer Bewerbung wies die Kl auf ihre gesundheitlichen Einschränkungen, die ihr bestimmte Tätigkeiten nicht mehr möglich machten, auf den Behinderungsgrad von 50 % und das Vorhandensein eines Behindertenpasses hin. Für die Bekl war klar, dass die Kl mit ihrem Behinderungsgrad von 50 % zum Kreis der begünstigten Behinderten gehörte.

Nach Beginn des Dienstverhältnisses forderte der Steuerberater der Bekl die Vorlage eines Bescheids hinsichtlich der Begünstigung der Kl. Diese erkundigte sich daraufhin beim Sozialministeriumservice und erfuhr, dass sie für die Anerkennung der Begünstigteneigenschaft einen eigenen Antrag stellen müsse. Dies tat die Kl am 15.6.2020, worauf ihr mit Bescheid vom Folgetag bestätigt wurde, dass sie ab 15.6.2020 dem Kreis der begünstigten Behinderten angehöre und der Grad der Behinderung 50 % betrage.

Am 11.4.2021 kündigte die Bekl die Kl zum 15.5.2021 ohne vorherige Befassung des Behindertenausschusses, weil sie davon ausging, dass der Ausnahmetatbestand nach § 8 Abs 6 lit b BEinstG erfüllt wäre. Die Kl ließ die Kündigung gegen sich gelten, begehrte mit ihrer Klage jedoch ua Kündigungsentschädigung wegen der rechtswidrigen Kündigung.

Verfahren und Entscheidung

Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt. Die Feststellung der Zugehörigkeit der Kl zum Kreis der begünstigten Behinderten sei erst durch den Bescheid vom 16.6.2020 und damit nach Beginn des Dienstverhältnisses erfolgt. Einem Behindertenpass komme diese Wirkung nicht zu. Nach dem Ablauf von sechs Monaten ab Beginn des Dienstverhältnisses hätte die Kl deshalb nur mit Zustimmung des Behindertenausschusses wirksam gekündigt werden können. Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung.

Der OGH erachtete die Revision der Bekl als zulässig, weil die über den Einzelfall hinaus erhebliche Rechtsfrage, ob ein Bescheid über die Ausstellung eines Behindertenpasses nach § 40 BBG, mit der Feststellung eines Grades der Behinderung von mindestens 50 % als Nachweis gem § 14 Abs 1 BEinstG gilt, in der höchstgerichtlichen Rsp noch nicht entschieden wurde. Die Revision wurde vom OGH auch als berechtigt angesehen.

Originalzitate aus der Entscheidung

„[…]

4. Die Zugehörigkeit zum Kreis der begünstigten Behinderten kann grundsätzlich auf zwei Wegen erworben werden, nämlich durch eine Entscheidung einer Behörde iSd § 14 Abs 1 BEinstG („ex-lege-Begünstigung“) oder nach Abs 2 leg cit durch einen über Antrag zu erlassenden Bescheid des Bundesamts für Soziales und Behindertenwesen (nunmehr gemäß Art 13 ARÄG 2013, BGBl 2013/138: Sozialministeriumservice). […]

5. Bei Beginn des Dienstverhältnisses der Klägerin verfügte sie unstrittig nicht über einen Bescheid iSd § 14 Abs 2 BEinstG des Sozialministeriumservice, sondern nur über einen von derselben Behörde gemäß § 40 BBG ausgestellten Behindertenpass. […]

Dem Behindertenpass kommt gemäß § 45 Abs 2 BBG idF BGBl I 66/2014, in Kraft getreten am 12.8.2014, Bescheidcharakter zu, er kann mit Beschwerde nach dem VwGVG angefochten werden und ist der Rechtskraft fähig.

Der rechtskräftig zuerkannte Behindertenpass erfüllt damit alle Voraussetzungen des Wortlauts des § 14 Abs 1 lit a BEinstG. Grad der Behinderung und Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit sind sowohl im Anwendungsbereich des § 14 Abs 1 BEinstG als auch nach § 40 BBG einander gleichzuhalten. […]

8. Die Zugehörigkeit zum Kreis der begünstigten Behinderten aufgrund eines Nachweises nach § 14 157Abs 1 BEinstG erlischt nach dessen letztem Satz mit Ablauf des dritten Monats, der dem Eintritt der Rechtskraft der Entscheidung folgt, sofern nicht der begünstigte Behinderte innerhalb dieser Frist gegenüber dem Sozialministeriumservice erklärt, weiterhin dem Personenkreis der nach diesem Bundesgesetz begünstigten Personen angehören zu wollen.

Es ist daher zu prüfen, ob die Begünstigteneigenschaft der Klägerin zum Zeitpunkt der Begründung ihres Dienstverhältnisses einerseits bereits wirksam begründet und andererseits noch nicht wieder durch Zeitablauf erloschen war.

Der Behindertenpass wurde der Klägerin mit Datum vom 26.3.2020 ausgestellt. Eine Beschwerde wurde nicht erhoben. Bei Beginn des Dienstverhältnisses am 8.6.2020 waren die Wirkungen des § 14 Abs 1 BEinstG begründet (vgl 9 ObA 72/14z; 9 ObA 86/06x).

Durch ihren am 15.6.2020 – und damit jedenfalls vor Ablauf des dritten Monats – gestellten Antrag auf Ausstellung eines Bescheids nach § 14 Abs 2 BEinstG hat die Klägerin gegenüber dem Sozialministeriumservice auch erklärt, dem Kreis der begünstigten Behinderten weiter angehören zu wollen. Dies führt zu dem Ergebnis, dass die Begünstigung der Klägerin lückenlos ab Rechtskraft ihres Behindertenpasses aufrecht war und bei Begründung des Dienstverhältnisses zur Beklagten bereits bestanden hat.

9. Nach § 8 Abs 6 lit b BEinstG war die innerhalb von weniger als vier Jahren ab Beginn des Dienstverhältnisses ausgesprochene Kündigung der Klägerin daher an die Voraussetzungen der Abs 2 bis 4 leg cit, insbesondere an die vorherige Anhörung des Behindertenausschusses, nicht gebunden. […]“

Erläuterung

Thema des vorliegenden Judikats ist der Status der begünstigten Behinderung und der damit einhergehende (oder vielmehr hier nicht damit einhergehende) besondere Kündigungsschutz. Als begünstigte Behinderte gelten die in § 2 Abs 1 und 2 BEinstG definierten Personen mit einem Grad der Behinderung von mindestens 50 %. Die Kündigung solcher Personen darf nach § 8 Abs 2 bis 4 BEinstG bei sonstiger Rechtsunwirksamkeit nur nach Zustimmung des Behindertenausschusses ausgesprochen werden. Hat das Dienstverhältnis zum Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung noch nicht länger als vier Jahre bestanden, ist dieser Kündigungsschutz nicht anzuwenden, es sei denn, die Feststellung der Begünstigteneigenschaft erfolgt innerhalb dieses Zeitraums. Bei Feststellung der begünstigten Behinderung in den ersten sechs Monaten des Arbeitsverhältnisses greift der Kündigungsschutz nur bei Arbeitsunfall oder Arbeitsplatzwechsel im Konzern.

Wie erlangt man nun begünstigten Behindertenstatus? Wie der OGH darlegt, ist dies auf zwei Wegen möglich:

1. Der seit 1.1.2015 in dieser Fassung geltende § 14 Abs 1 BEinstG nennt hier ua die letzte rechtskräftige Entscheidung über die Einschätzung des Grades der Minderung der Erwerbsfähigkeit mit mindestens 50 % des Bundesamtes für Soziales und Behindertenwesen, nunmehr als Sozialministeriumservice bezeichnet. Im Regelfall wird hier ein rechtskräftiger Bescheid, der nach einem Antrag auf Ausstellung eines Behindertenpasses ergeht, diese Wirkung auslösen. Die solcherart erworbene Zugehörigkeit zum Personenkreis der begünstigten Behinderten ist jedoch eine vorübergehende, erlischt sie doch drei Monate nach Eintritt der Rechtskraft des Bescheides, sofern nicht die betroffene Person innerhalb dieser Frist gegenüber dem Sozialministeriumservice erklärt, weiterhin dem Personenkreis der begünstigten Behinderten angehören zu wollen.

2. Die gängige Art und Weise zur Erlangung des begünstigten Behindertenstatus ist der in § 14 Abs 2 BEinstG vorgesehene und beim Sozialministeriumservice einzubringende Antrag auf Feststellung der Zugehörigkeit zum Personenkreis der begünstigten Behinderten. Die Begünstigungen erlöschen in diesem Fall nur dann, wenn der Wegfall der Voraussetzungen für die Zugehörigkeit zum Kreis der begünstigten Behinderten rechtskräftig ausgesprochen wird.

Die Möglichkeit, auf dem unter Pkt 1. angeführten Weg zu einer begünstigt behinderten Person zu werden, war nicht nur der Kl, sondern auch den Vorinstanzen nicht bewusst. Tatsächlich besteht diese Möglichkeit erst seit dem Jahr 2014, als dem Behindertenpass Bescheidcharakter zugesprochen wurde. Das Berufungsgericht hatte noch ausgesprochen, dass die Ausstellung eines Behindertenpasses nach § 40 BBG keinen der in § 14 Abs 1 BEinstG aufgezählten Tatbestände erfülle und daher nicht die daran geknüpften Rechtsfolgen nach sich ziehen könne. Dieser Rechtsmeinung hat sich der OGH aber nicht angeschlossen.

Im konkreten Fall bedeutete das, dass die Kl ab Rechtskraft des Bescheides über den Behindertenpass (23.3.2020) dem Personenkreis der begünstigten Behinderten angehörte und somit auch zu Beginn des Arbeitsverhältnisses, das innerhalb von drei Monaten am 8.6.2020 aufgenommen wurde, diese Eigenschaft innehatte. Durch ihren Antrag vom 15.6.2020 auf Feststellung der Zugehörigkeit zum Personenkreis der begünstigten Behinderten, der ebenfalls – wie gesetzlich vorgesehen – noch innerhalb von drei Monaten nach Rechtskraft des Bescheides eingebracht wurde, hat die Kl erklärt, weiterhin dem Personenkreis der begünstigten Behinderten angehören zu wollen und ist daher seit 23.3.2020 durchgehend begünstigte Behinderte. Da somit die Begünstigung 158schon bei Beginn des Arbeitsverhältnisses vorlag und in der Folge „verlängert“ wurde, greift die in § 8 Abs 6 lit b BEinstG normierte Ausnahme vom besonderen Kündigungsschutz, weil das Arbeitsverhältnis zum Zeitpunkt der Kündigung noch nicht vier Jahre gedauert hat. Die AN konnte somit ohne Zustimmung des Behindertenausschusses gekündigt werden.

Hätte die Kl über den 23.6.2020 hinaus – also noch zumindest neun Tage – mit der Antragstellung auf Feststellung der Zugehörigkeit zum Kreis der begünstigten Behinderten zugewartet, wäre mE die ursprüngliche Begünstigung durch Zeitablauf erloschen und die Zugehörigkeit bei aufrechtem Arbeitsverhältnis neu festgestellt worden, was wiederum zum Eintritt des besonderen Kündigungsschutzes geführt hätte. Die Kl hätte in diesem Fall nur mit Zustimmung des Behindertenausschusses gekündigt werden können.