83Tägliche Ruhezeit ist nicht Teil der wöchentlichen Ruhezeit, sondern tritt zu dieser hinzu
Tägliche Ruhezeit ist nicht Teil der wöchentlichen Ruhezeit, sondern tritt zu dieser hinzu
Art 5 der RL 2003/88 ist im Licht von Art 31 Abs 2 der Charta der Grundrechte der EU dahin auszulegen, dass die in Art 3 dieser RL vorgesehene tägliche Ruhezeit nicht Teil der wöchentlichen Ruhezeit gem Art 5 ist, sondern zu dieser hinzukommt.
Die Art 3 und 5 der RL 2003/88 sind im Licht von Art 31 Abs 2 der Charta dahin auszulegen, dass dann, wenn eine nationale Regelung eine wöchentliche Ruhezeit von mehr als 35 zusammenhängenden Stunden vorsieht, dem AN zusätzlich zu dieser Zeit die durch Art 3 dieser RL gewährleistete tägliche Ruhezeit zu gewähren ist.
Art 3 der RL 2003/88 ist im Licht von Art 31 Abs 2 der Charta dahin auszulegen, dass ein AN, dem eine wöchentliche Ruhezeit gewährt wird, auch Anspruch auf eine tägliche Ruhezeit hat, die dieser wöchentlichen Ruhezeit vorausgeht.
Ein Lokführer, der bei der ungarischen Eisenbahngesellschaft MÁV-START beschäftigt ist, klagte seinen AG, weil ihm dieser keine tägliche Ruhezeit von mindestens elf zusammenhängenden Stunden in Zusammenhang mit einer wöchentlichen Ruhezeit gewährte.
Der mit dem Fall beschäftigte ungarische Gerichtshof setzte das Verfahren aus und legte dem EuGH folgende Fragen zur Vorabentscheidung vor:
1. Ist Art 5 der RL 2003/88/EG (im Folgenden: Arbeitszeit-[AZ-]RL) iVm Art 31 Abs 2 der Charta der Grundrechte der EU (im Folgenden: Charta) dahin auszulegen, dass die tägliche Ruhezeit iS von Art 3 dieser RL Teil der wöchentlichen Ruhezeit ist?
2. Ist Art 5 der AZ-RL iVm Art 31 Abs 2 der Charta dahin auszulegen, dass er – im Einklang mit dem Ziel der RL – nur die wöchentliche Mindestruhezeit festlegt, dh, dass die wöchentliche Ruhezeit mindestens 35 zusammenhängende Stunden betragen muss, sofern keine objektiven, technischen oder arbeitsorganisatorischen Bedingungen vorliegen, die dies ausschließen?
3. Ist Art 5 der AZ-RL iVm Art 31 Abs 2 der Charta dahin auszulegen, dass auch dann, wenn das Recht des Mitgliedstaats und der anwendbare Tarifvertrag die Gewährung einer 42-stündigen zusammenhängenden wöchentlichen Mindestruhezeit vorsehen, eine durch das betreffende mitgliedstaatliche Recht und durch den anwendbaren Tarifvertrag garantierte tägliche Ruhezeit von zwölf Stunden nach der der wöchentlichen Ruhezeit vorangehenden Arbeitsleistung des Arbeitstags obligatorisch zu gewähren ist, sofern keine objektiven, technischen oder arbeitsorganisatorischen Bedingungen vorliegen, die dies ausschließen?
4. Ist Art 3 der AZ-RL iVm Art 31 Abs 2 der Charta dahin auszulegen, dass ein AN auch dann das Recht auf eine innerhalb eines Zeitraums von 24 Stunden zu gewährende Mindestruhezeit hat, wenn ihm während des folgenden 24-Stunden-Zeitraums – unabhängig von den Gründen – keine Arbeitsleistung zugewiesen wird?
5. Falls die Frage 4 bejaht wird: Sind die Art 3 und 5 der AZ-RL iVm Art 31 Abs 2 der Charta dahin auszulegen, dass die tägliche Ruhezeit vor der wöchentlichen Ruhezeit gewährt werden muss?
Der EuGH entschied zugunsten des AN (siehe oben angeführte Leitsätze).
„Zur ersten und zur zweiten Frage
29 Mit seiner ersten und seiner zweiten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 5 der Richtlinie 2003/88 im Licht von Art. 31 Abs. 2 der 171Charta dahin auszulegen ist, dass die in Art. 3 dieser Richtlinie vorgesehene tägliche Ruhezeit Teil der wöchentlichen Ruhezeit gemäß Art. 5 ist oder ob Art. 5 nur die Mindestdauer der wöchentlichen Ruhezeit festlegt.
[…]
38 Hierzu ist erstens festzustellen, dass diese Richtlinie das Recht auf tägliche Ruhezeit und das Recht auf wöchentliche Ruhezeit in zwei gesonderten Bestimmungen, nämlich in ihrem Art. 3 und in ihrem Art. 5, vorsieht. Dies weist darauf hin, dass es sich um zwei autonome Rechte handelt, mit denen, wie der Generalanwalt in den Nrn. 49 bis 51 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, unterschiedliche Ziele verfolgt werden, wobei die tägliche Ruhezeit es dem Arbeitnehmer ermöglichen soll, sich für eine bestimmte Anzahl von Stunden, die nicht nur zusammenhängen, sondern sich auch unmittelbar an eine Arbeitsperiode anschließen müssen, aus seiner Arbeitsumgebung zurückzuziehen, und die wöchentliche Ruhezeit es dem Arbeitnehmer ermöglichen soll, sich pro Siebentageszeitraum auszuruhen.
39 Folglich ist den Arbeitnehmern die tatsächliche Inanspruchnahme beider Rechte zu gewährleisten.
[…]
44 Nach alledem ist Art. 5 der Richtlinie 2003/88 im Licht von Art. 31 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen, dass die in Art. 3 dieser Richtlinie vorgesehene tägliche Ruhezeit nicht Teil der wöchentlichen Ruhezeit gemäß Art. 5 ist, sondern zu dieser hinzukommt.
Zur dritten Frage
[…]
46 In der Vorlageentscheidung weist das Gericht zum einen darauf hin, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung den Begriff „wöchentliche Ruhezeit“, die sie grundsätzlich auf 48 Stunden festsetze und die nicht unter 42 Stunden liegen dürfe, verwende, und zum anderen darauf, dass diese Regelung weder auf die tägliche Ruhezeit noch auf deren Dauer Bezug nehme. Diese „wöchentliche Ruhezeit“ habe allerdings eine Dauer, die über die 35 Stunden hinausgehe, die sich aus der Addition der in Art. 5 der Richtlinie 2003/88 vorgesehenen Mindestruhezeit von 24 Stunden und der in ihrem Art. 3 vorgesehenen Mindestruhezeit von elf Stunden ergäben.
47 In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, dass Art. 5 der Richtlinie 2003/88 keinerlei Verweisung auf das nationale Recht der Mitgliedstaaten enthält. Daher sind die darin verwendeten Begriffe als autonome Begriffe des Unionsrechts aufzufassen und unabhängig von den Wertungen in den Mitgliedstaaten im Gebiet der Union einheitlich auszulegen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. November 2017, Maio Marques da Rosa, C-306/16, EU:C:2017:844, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).
48 Daraus folgt, dass der Begriff „wöchentliche Ruhezeit“ in der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung keine Auswirkung auf die Auslegung von Art. 5 der Richtlinie 2003/88 hat.
49 Sodann ist darauf hinzuweisen, dass die in dieser Bestimmung vorgesehene wöchentliche kontinuierliche Mindestruhezeit 24 Stunden beträgt. Art. 15 dieser Richtlinie ermächtigt die Mitgliedstaaten jedoch, für die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer günstigere Vorschriften anzuwenden oder zu erlassen oder die Anwendung von für die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer günstigeren Tarifverträgen oder Vereinbarungen zwischen den Sozialpartnern zu fördern oder zu gestatten. So wurde dem betreffenden Arbeitnehmer gemäß dem auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Tarifvertrag eine wöchentliche Ruhezeit von mindestens 42 Stunden gewährt. In solchen Fällen werden die auf diese Weise über das in Art. 5 der Richtlinie 2003/88 geforderte Minimum hinaus gewährten Stunden wöchentlicher Ruhezeit nicht durch die Richtlinie geregelt, sondern durch das nationale Recht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. November 2019, TSN und AKT, C-609/17 und C-610/17, EU:C:2019:981, Rn. 34 und 35).
50 Dass im Zusammenhang mit der wöchentlichen Ruhezeit solche günstigeren Bestimmungen als die, die die Richtlinie 2003/88 als Mindestschwelle verlangt, vorgesehen werden, kann dem Arbeitnehmer jedoch nicht andere Rechte nehmen, die ihm diese Richtlinie gewährt, insbesondere nicht das Recht auf tägliche Ruhezeit.
[…]
52 Um den Arbeitnehmern die tatsächliche Inanspruchnahme des in Art. 31 Abs. 2 der Charta und in Art. 3 der Richtlinie 2003/88 verankerten Rechts auf tägliche Ruhezeit zu gewährleisten, muss dieses Recht daher unabhängig von der Dauer der in der anwendbaren nationalen Regelung vorgesehenen wöchentlichen Ruhezeit gewährt werden.
53 Nach alledem ist auf die dritte Frage zu antworten, dass die Art. 3 und 5 der Richtlinie 2003/88 im Licht von Art. 31 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen sind, dass dann, wenn eine nationale Regelung eine wöchentliche Ruhezeit von mehr als 35 zusammenhängenden Stunden vorsieht, dem Arbeitnehmer zusätzlich zu dieser Zeit die durch Art. 3 dieser Richtlinie gewährleistete tägliche Ruhezeit zu gewähren ist.
Zur vierten und fünften Frage
[…]
55 Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass im vorliegenden Fall MÁV-START eine tägliche Ruhezeit nur gewährt hat, wenn innerhalb von 24 Stunden nach dem Ende einer bestimmten Arbeitsperiode eine neue Arbeitsperiode vorgesehen war. Wenn keine neue Arbeitsperiode vorgesehen war, z. B. wenn eine wöchentliche Ruhezeit oder ein Urlaub gewährt wurde, bestand nach Ansicht von MÁV-START keine Verpflichtung mehr, die tägliche Ruhezeit zu gewähren.
56 Hierzu geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervor, dass ein Arbeitnehmer, damit er sich tatsächlich ausruhen kann, sich für eine bestimmte Zahl von Stunden, die nicht nur zusammenhängen, sondern sich auch unmittelbar an eine 172Arbeitsperiode anschließen müssen, aus seiner Arbeitsumgebung zurückziehen können muss, um sich zu entspannen und von der mit der Wahrnehmung seiner Aufgaben verbundenen Ermüdung zu erholen (Urteil vom 14. Oktober 2010, Union syndicale Solidaires Isère, C-428/09, EU:C:2010:612, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung).
57 Daraus folgt, dass jeder Arbeitnehmer nach einer Arbeitsperiode sofort eine tägliche Ruhezeit erhalten muss, und zwar unabhängig davon, ob sich an diese Ruhezeit eine Arbeitsperiode anschließt oder nicht. Werden die tägliche und die wöchentliche Ruhezeit zusammenhängend gewährt, darf die wöchentliche Ruhezeit darüber hinaus erst dann beginnen, wenn der Arbeitnehmer die tägliche Ruhezeit in Anspruch genommen hat.
58 Unter diesen Umständen ist auf die vierte und die fünfte Frage zu antworten, dass Art. 3 der Richtlinie 2003/88 im Licht von Art. 31 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen ist, dass ein Arbeitnehmer, dem eine wöchentliche Ruhezeit gewährt wird, auch Anspruch auf eine tägliche Ruhezeit hat, die dieser wöchentlichen Ruhezeit vorausgeht.“
Im gegenständlichen Verfahren ging es darum, ob die tägliche Ruhezeit von der wöchentlich einzuhaltenden Ruhezeit „verschluckt“ wird, also in dieser aufgehen kann oder zur wöchentlichen Ruhezeit hinzukommen muss, um so einen entsprechend längeren Ruhezeitraum zu gewährleisten. Der EuGH stellt nun klar, dass jeder AN unmittelbar nach einer Arbeitsperiode eine tägliche Ruhezeit erhalten muss, egal ob am nächsten Tag weitergearbeitet wird oder die Wochen(end)ruhe geplant ist. Sollte nach einem Arbeitstag die wöchentliche Ruhezeit vorgesehen sein, so hat sich diese an die tägliche Ruhezeit anzuschließen. Die tägliche Ruhezeit darf nicht in die wöchentliche Ruhezeit integriert werden. Als Begründung werden die unterschiedlichen Zielsetzungen der beiden Ruhezeiten angegeben, die nacheinander zu gewähren sind, um den durch die AZ-RL verfolgten wirksamen Schutz der Lebens- und Arbeitsbedingungen der AN sowie einen besseren Schutz der Sicherheit und der Gesundheit der AN zu gewährleisten.
Der EuGH hatte weiters die Frage zu beantworten, ob dann, wenn eine nationale Regelung eine wöchentliche Ruhezeit von mehr als 35 zusammenhängenden Stunden vorsieht, dem AN zusätzlich zu dieser Zeit die durch Art 3 dieser Richtlinie gewährleistete tägliche Ruhezeit zu gewähren ist.
Art 3 („Tägliche Ruhezeit“) der AZ-RL bestimmt:
„Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit jedem Arbeitnehmer pro 24-Stunden-Zeitraum eine Mindestruhezeit von elf zusammenhängenden Stunden gewährt wird.“
Art 5 („Wöchentliche Ruhezeit“) der AZ-RL sieht vor:
„Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit jedem Arbeitnehmer pro Siebentageszeitraum eine kontinuierliche Mindestruhezeit von 24 Stunden zuzüglich der täglichen Ruhezeit von elf Stunden gemäß Artikel 3 gewährt wird […].“
Der EuGH entschied, dass das in Art 3 der AZ-RL verankerte Recht auf tägliche Ruhezeit unabhängig von der Dauer der in der anwendbaren nationalen Regelung vorgesehenen wöchentlichen Ruhezeit gewährt werden muss, also selbst dann, wenn schon die Dauer der wöchentlichen Ruhezeit nach nationalem Recht für sich genommen die bei Addition der in der AZ-RL vorgesehenen Mindestdauer einer täglichen und einer wöchentlichen Ruhezeit (= 35 Stunden) übersteigt.