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Verlängerung der Dreijahresfrist für die Rückforderung von Arbeitslosengeld bei Beschwerde gegen den die Versicherungspflicht feststellenden Bescheid

BIRGITSDOUTZ

Die Beschwerdeführerin bekämpft im vorliegenden Fall mit ihrer Beschwerde den Bescheid des Arbeitsmarktservice (AMS) vom 15.7.2022, mit dem das zuerkannte Arbeitslosengeld widerrufen bzw dessen Bemessung rückwirkend berichtigt und die Beschwerdeführerin zur Rückzahlung des unberechtigt empfangenen Arbeitslosengeldes verpflichtet wurde. Die Beschwerdeführerin hatte nach Beendigung ihres bisherigen Beschäftigungsverhältnisses mit 31.3.2017 Arbeitslosengeld bezogen, war aber – vermeintlich auf freiberuflicher Basis – weiterhin für ihre bisherige DG tätig. Dem AMS gegenüber meldete sie im Zuge der Antragstellung eine aufrechte selbständige Erwerbstätigkeit und gab in den Monaten April bis September 2017 auch die von der DG bezogenen Beträge bekannt. Im Zuge einer gemeinsamen Prüfung aller lohnabhängigen Abgaben (GPLA) bei der DG wurde die Beschäftigung jedoch als Scheinselbständigkeit und die Beschwerdeführerin als freie DN qualifiziert.

Am 30.12.2019 langte beim AMS eine Überlagerungsmeldung durch den Hauptverband der Sozialversicherungsträger ein, wonach die Beschwerdeführerin ab 1.5.2017 als freie DN angemeldet sei. Mit Bescheid vom 23.11.2021 stellte die Österreichische Gesundheitskasse (ÖGK) fest, dass die Beschwerdeführerin hinsichtlich der für die DG ausgeübten Tätigkeit (ua) von 1.4. bis 30.4.2017 der (Teil-)Pflichtversicherung in der UV und (ua) von 1.5. bis 30.11.2017 der Pflichtversicherung in der KV, UV und PV unterliegt. Mit Erk des BVwG vom 8.6.2022 (W145 2250474-1) wurde die dagegen gerichtete Beschwerde der DG als unbegründet abgewiesen. Das AMS begründete seinen Bescheid im Wesentlichen damit, dass aufgrund der Feststel177lung des BVwG, dass in den genannten Zeiträumen ein freies vollversichertes Dienstverhältnis vorliege, die Leistung widerrufen und zurückgefordert bzw für den Zeitraum 8.3. bis 25.7.2019 neu bemessen werden müsse. In der dagegen eingebrachten Beschwerde führt die Beschwerdeführerin aus, dass sie bei dem betreffenden Dienstverhältnis davon ausgegangen sei, dass es sich um eine selbständige Erwerbstätigkeit handelte und dass weiters für die Zeiträume bis inklusive 14.7.2019 bereits eine Verjährung vorliege. Mit Beschwerdevorentscheidung vom 30.9.2022 änderte das AMS den Bescheid iS einer Reduktion des Rückforderungsbetrages ab und begründet dies ua damit, dass der Beschwerdeführerin nicht bekannt sein musste, dass sie während ihrer geringfügigen Beschäftigung im April 2017, welche sie binnen eines Monats nach einer vollversicherten Beschäftigung bei derselben DG aufgenommen hat, nicht als arbeitslos galt. Der Bescheid vom 15.7.2022 sei jedoch rechtzeitig, und zwar binnen drei Monaten nach dem rechtskräftigen Erk des BVwG vom 8.6.2022, worin die Versicherungspflicht festgestellt wurde, erlassen worden.

Das BVwG gab der Beschwerde teilweise Folge und änderte die Beschwerdevorentscheidung dahingehend ab, dass die Beschwerdeführerin nicht zum Rückersatz des unberechtigt empfangenen Arbeitslosengeldes verpflichtet ist. Zum Vorbringen der Verjährung führt das BVwG aus, dass es grundsätzlich zutrifft, dass die Dreijahresfrist gem § 24 Abs 2 bzw § 25 Abs 6 AlVG hinsichtlich des überwiegenden Teils der in Frage stehenden Bezugszeiträume bereits verstrichen war. Allerdings verlängert sich die Frist von drei Jahren nach dem Anspruchs- oder Leistungszeitraum, wenn die zur Beurteilung des Leistungsanspruches erforderlichen Nachweise nicht vor Ablauf von drei Jahren vorgelegt werden (können), bis längstens drei Monate nach dem Vorliegen der Nachweise (vgl § 24 Abs 2 letzter Satz und § 25 Abs 6 letzter Satz AlVG). Die Verlängerung der Frist nach dem letzten Satz des § 24 Abs 2 AlVG und dem letzten Satz des § 25 Abs 6 AlVG ist allein davon abhängig, dass die Nachweise nicht innerhalb der Zeitspanne von drei Jahren vorliegen. Das Gesetz stellt weder darauf ab, ob das AMS sich durch eigene Abfragen schon früher entsprechende Kenntnisse verschaffen hätte können, noch normiert es eine weitere Fristverlängerung, wenn die Nachweise dem AMS zwar vorliegen, die arbeitslose Person aber ihrer (sonstigen) Mitwirkungspflicht nicht nachgekommen ist (vgl VwGH 20.12.2022, Ra 2021/08/0036).

Für die Beurteilung der Rechtzeitigkeit entscheidungswesentlich und strittig ist die Frage, was im gegenständlichen Fall „erforderlicher Nachweis“ iSd genannten Bestimmungen ist, nach dessen Vorliegen die belangte Behörde binnen dreier Monate zu entscheiden hatte. Die Überlagerungsmeldung stellt laut BVwG jedenfalls keinen solchen Nachweis dar: Eine Bindung an die beim Hauptverband der Sozialversicherungsträger tatsächlich geführten Versichertendaten kann dem Gesetz nämlich nicht entnommen werden und wäre schon aus Rechtsschutzgründen nicht zulässig (VwGH 20.12.2022, Ra 2021/08/0036). Nach der zuletzt genannten E des VwGH ist bei Vorliegen eines rechtskräftigen, die Versicherungspflicht feststellenden Bescheides dieser der Beurteilung zugrunde zu legen und das Vorliegen von Arbeitslosigkeit für den gleichen Zeitraum schon deswegen zu verneinen. Der Bescheid über die Versicherungspflicht ist insofern als Entscheidung einer Vorfrage gem § 38 AVG zu werten. Demnach gilt ein die Versicherungspflicht feststellender Bescheid im Hinblick auf dessen Bindungswirkung als Nachweis iSd §§ 24 Abs 2 und 25 Abs 6 AlVG.

Im gegenständlichen Fall wurde die Versicherungspflicht mit Bescheid der Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK) vom 23.11.2021 festgestellt, erwuchs aufgrund der dagegen eingebrachten Beschwerde der DG jedoch noch nicht in Rechtskraft. Mit abweisendem Erk des BVwG vom 8.6.2022, W145 2250474-1/ wurde diese E rechtskräftig. Sohin erlangte das AMS erst durch Übermittlung dieses Erk Kenntnis von der rechtskräftigen Feststellung der Versicherungspflicht, sodass sich der Widerruf bzw die Berichtigung mit Bescheid vom 15.7.2022 laut BVwG daher im Ergebnis als zulässig erweisen, da die zur Beurteilung des Leistungsanspruches erforderlichen Nachweise nicht vor Ablauf von drei Jahren vorgelegt werden konnten und die Erlassung des Bescheides binnen dreier Monate nach dem Vorliegen der Nachweise erfolgte.

Dass die Beschwerdeführerin zum Rückersatz nicht verpflichtet ist, begründet das BVwG damit, dass das AMS selbst ausführte, dass die ursprüngliche Zuerkennung des Arbeitslosengeldes für den Zeitraum 11.4. bis 3.7.2017 und vom 14.7. bis 30.9.2017 aufgrund einer rollierenden Berechnung des Einkommens aus selbständiger Tätigkeit erfolgte und von der Beschwerdeführerin nicht verlangt werden könne, dass sie bereits vor Feststellung des vollversicherungspflichtigen Dienstverhältnisses mit Bescheid der ÖGK vom 23.11.2021 bzw dem Erk des BVwG erkennen hätte müssen, dass es sich bei ihr um eine Tätigkeit als freie DN handelt, bei der eine rollierende Berechnung des Einkommens – anders als bei einer selbständigen Erwerbstätigkeit – nicht in Betracht kommt. Die für eine korrekte Qualifikation des Beschäftigungsverhältnisses erforderliche Rechts- und Judikaturkenntnis, insb der relevanten Unterscheidungskriterien, kann von einer juristischen Laiin nicht erwartet werden.178