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Unanwendbarkeit einer diskriminierenden Kollektivvertragsbestimmung nur bei tatsächlicher Benachteiligung

BIRGITSCHRATTBAUER
Art 157 AEUV; Art 2 Abs 1 lit a RL 2006/54/EG; § 5 Abs 1 GlBG

Der am 2.11.1947 geborene Kl war von 15.2.1973 bis 30.11.2021 bei der Bekl als Angestellter beschäftigt. Ab Ende des Abfertigungszeitraums bezog er gem dem „Kollektivvertrag über die neue Regelung der Pensionsrechte in der ab 1.1.1997 geltenden Fassung, abgeschlossen zwischen dem Verband Österreichischer Banken und Bankiers und dem ÖGB“ (im Folgenden: KollV) eine „Besitzstandspension“. Diese Pension steht dem KollV zufolge Männern mit Eintrittsdatum zwischen 1.1.1967 und 1.1.1972 sowie Männern der Geburtsjahrgänge 1947–1951 zu, während Frauen mit selbem Eintrittsdatum bzw derselben Geburtsjahrgänge eine „Übergangspension“ gebührt. Die Pensionshöhe dieser beiden Pensionsarten wird unterschiedlich berechnet. Der OGH hat bereits in einem früheren Verfahren zu diesem KollV (OGH 27.2. 2019, 9 ObA 25/18v; vgl DRdA-infas 2019/100, 186) entschieden, dass die unterschiedliche Berechnung der Pension für Männer und Frauen, die sich hinsichtlich Lebensalter und Eintrittsdatum in einer vergleichbaren Situation befinden, eine unmittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts darstellt; dem damaligen Kl wurde daher ein Anspruch auf Bezahlung einer nach den Regelungen für Frauen berechneten Pension zuerkannt.

Der nunmehrige Kl, der von einem Kollegen auf diese E hingewiesen worden war, wandte sich direkt an den Klagevertreter des vorangegangenen Verfahrens, der mit Schreiben vom 2.12.2019 namens des Kl und unter Hinweis auf das Urteil 27.2. 2019, 9 ObA 25/18v von der Bekl eine geschlechtsneutrale Berechnung der Betriebspension sowie die Nachverrechnung der Differenzbeträge ab 1.12.2018 forderte. Die Vertreterin der Bekl teilte daraufhin mit, dass die Übergangspension beim Kl geringer sei als die von ihm bisher bezogene Besitzstandspension und kündigte die entsprechende Anpassung der Pensionsleistung ab dem folgenden Monat sowie die Rückforderung der zu viel bezahlten Pension für ein Jahr an. Trotz der Replik des Klagevertreters, dass es unter der Voraussetzung der Richtigkeit der Berechnung der Bekl bei der bisherigen Besitzstandspension zu bleiben habe, zahlte die Bekl dem Kl ab 1.2.2020 nur mehr eine Pension nach den Bestimmungen für Übergangspensionen.

Der Kl begehrt mit seiner Klage die Differenz zur bisherigen Besitzstandspension für den Zeitraum Februar bis Dezember 2020 sowie die Feststellung, dass er auch künftig Anspruch auf Betriebspensionszahlungen unter Anwendung der Kollektivvertragsbestimmungen für Besitzstandspensionen habe.

Das Erstgericht gab der Klage statt. Da der Kl gegenüber einer vergleichbaren Frau nicht finanziell benachteiligt worden sei, sei die kollektivvertragliche Bestimmung weiterhin anzuwenden, was dazu führe, dass er einen Anspruch auf die Besitzstandspension habe.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Bekl Folge und wies das Klagebegehren zur Gänze ab. Der Verstoß gegen Art 157 AEUV führe zur absoluten Unwirksamkeit der diskriminierenden Kollektivvertragsbestimmung. Diese dürfe nicht mehr angewendet werden. Die für Frauen existierende kollektivvertragliche Regelung bleibe das einzig gültige Bezugssystem, solange keine geänderte Regelung erlassen sei. Dass dies in Ausnahmefällen mit finanziellen Nachteilen verbunden sei, führe nicht dazu, dass dieses Bezugssystem nicht anzuwenden wäre. Die Revision wurde vom Berufungsgericht zugelassen, weil fraglich sei, ob zu Lasten des AN von einer Unanwendbarkeit der kollektivvertraglichen Regelung über die Besitzstandspension ausgegangen werden könne.

Der OGH sah die Revision des Kl als zulässig und auch als berechtigt an.

In seiner Begründung weist der OGH auf einen maßgeblichen Unterschied zur Vorentscheidung hin: Während es dort nicht strittig war, dass die Männer, die anders als Frauen in einer vergleichbaren Position Anspruch auf eine Besitzstandspension und keine Übergangspension haben, deshalb eine geringere Betriebspension als Frauen beziehen, trifft dies auf den Kl im nunmehrigen Verfahren ebenfalls unstrittig nicht zu. Er hat zwar Anspruch auf eine Besitzstandspension, bezieht aber dessen ungeachtet eine höhere Pension als eine Frau in einer vergleichbaren Situation, die Anspruch auf eine Übergangspension hat. Der Kl wird durch die Ungleichbehandlung daher nicht benachteiligt, somit liegt auch keine Diskriminierung des Kl vor.

Die vom Berufungsgericht vorgenommene Umstellung der Besitzstandspension des Kl auf eine niedrigere Übergangspension ist vor diesem Hintergrund nach Ansicht des OGH nicht gerechtfertigt. Der OGH sieht zwar die vom Berufungsgericht vorgenommene Darlegung der Rsp des EuGH zu den Rechtsfolgen einer unionsrechtswidrigen Diskriminierung durch eine kollektivvertragliche Bestimmung als zutreffend an. Wird eine Diskriminierung festgestellt, aber noch keine Maßnahme zur Wiederherstellung der Gleichbehandlung erlassen, so kann dieser Judikatur zufolge die Wahrung des Grundsatzes der Gleichbehandlung dadurch gewährleistet werden, dass den Benachteiligten dieselben Vorteile gewährt werden, wie die, die den Angehörigen der privilegierten Gruppe zugutekommen. Solange das Unionsrecht nicht richtig durchgeführt ist, bleibt diese Regelung das einzig gültige Bezugssystem. Umgekehrt verbietet es das 148Unionsrecht nach der Rsp des EuGH zu Betriebspensionssystemen, eine Diskriminierung im Rahmen der Anpassung dadurch zu beenden, dass den Angehörigen der bevorzugten Gruppe ihre Vergünstigungen für die Vergangenheit entzogen werden (vgl EuGH 7.10.2019, C-171/18, Safeway Ltd). Dem EuGH zufolge tritt also nach dem Unionsrecht, solange keine „Maßnahmen“ zur Wiederherstellung der Gleichbehandlung erlassen worden sind, keine Veränderung des Betriebspensionssystems eines KollV ein, sondern haben nur die Benachteiligten Anspruch darauf, dass die sie benachteiligenden Regelungen „unangewendet“ bleiben und sich ihre Ansprüche nach dem Bezugssystem für die Bessergestellten richten.

Der Grundsatz der Entgeltgleichheit nach Art 157 Abs 1 AEUV stellt ein subjektives Recht der einzelnen AN dar (EuGH 8.4.1976, C-43/75, Defrenne II, Rn 40), die aber dann nicht als diskriminiert erachtet werden können, wenn die bestehenden – nicht angepassten – Regelungen zu gar keiner Benachteiligung führen. Der von der Bekl gewünschten Angleichung „nach unten“ unter Berufung auf die Wirkungen des Unionsrechts erteilt der OGH somit eine Absage.

In welcher Weise innerstaatlich Maßnahmen zur Anpassung des Betriebspensionssystems zu erfolgen haben und welche weiteren Wirkungen sich aus dem Anwendungsvorrang ergeben, richtet sich dem OGH zufolge nach der jeweiligen Art der Rechtsquelle. Alleine das Begehren eines sich ohne Kenntnis der konkreten unterschiedlichen Pensionshöhe als benachteiligt einstufenden AN habe jedenfalls nicht die Wirkung, dass ihn begünstigende kollektivvertragliche Regelungen nicht weiter wirksam wären. Auch aus dem Schreiben des Klagevertreters vom 2.12.2019 ist laut OGH für die Bekl nichts zu gewinnen. Aus diesem ergibt sich eindeutig, dass der Kl davon ausgeht, durch die Besitzstandspension benachteiligt zu sein und eine Änderung der Pensionsberechnung nur für den Fall zu wünschen, dass es zu einer Nachverrechnung, also einer finanziellen Besserstellung, kommt. Der redliche Erklärungsempfänger könne dieses Schreiben nicht anders verstehen. Eine Vereinbarung über eine geringere Pension sei daher auch nicht durch das „Anerkenntnis“ der Bekl zustande gekommen. Die Frage, ob ein solches „Verlangen“ nach Angleichung nach unten trotz des Bestehens eines KollV rechtlich überhaupt zulässig wäre, konnte der OGH deshalb offenlassen.

Im Ergebnis hat der Kl somit entgegen der Rechtsauffassung des Berufungsgerichts Anspruch auf eine Weiterzahlung der Besitzstandspension. Die klagsstattgebende erstinstanzliche E war daher wiederherzustellen.