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Invaliditätspension: Zumutbarkeit des Pendelns ist bei Vorliegen einer Gehbehinderung im Einzelfall zu prüfen

KRISZTINAJUHASZ

Ein Versicherter mit einer Gehbehinderung ist so lange nicht vom allgemeinen Arbeitsmarkt ausgeschlossen, als er ohne wesentliche Einschränkung ein öffentliches Verkehrsmittel benützen und die dazu erforderlichen Arbeitswege zurücklegen kann. Dies ist unabhängig vom konkreten Wohnort zu prüfen.

Diese abstrakte Betrachtungsweise schließt jedoch im Einzelfall nicht aus, dass eine Wohnsitzverlegung oder ein Wochenpendeln aus individuellen Umständen nicht zumutbar sein können.

Sachverhalt

Die 1967 geborene Kl war als Reinigungskraft tätig. Im Verfahren wegen Gewährung einer Invaliditätspension wurde ein medizinisch sehr stark eingeschränktes Leistungskalkül festgestellt. Aufgrund einer Unterschenkelamputation waren der Kl seit der Antragstellung bis zur Anpassung der neuen Prothese Arbeiten ausschließlich im Rollstuhl und nach Anpassung der neuen Prothese, fast ausschließlich im Sitzen im Rollstuhl möglich. Mit der verbliebenen Leistungsfähigkeit kann die Kl nur noch eine Teilzeitbeschäftigung als Telefonistin im Ausmaß von 25 Stunden pro Woche und fünf Stunden täglich nachgehen. Am bundesweiten Arbeitsmarkt gibt es ausreichend Arbeitsplätze als Telefonistin, die mit dem Leistungskalkül der Kl vereinbar sind. Ein öffentliches Verkehrsmittel kann benützt werden. Ein Tages- oder Wochenpendeln – nicht aber eine Wohnsitzverlegung – sind möglich. Die Kl lebt in einer typischen Pendlergemeinde. Ausgehend vom Wohnort der Kl existiert kein Arbeitsmarkt von zumindest 30, auch nicht 15 Arbeitsstellen, die nicht kalkülsüberschreitend sind, und auch kein behindertengerechtes öffentliches Verkehrsmittel, das den Arbeitsweg zu einer Arbeitsstelle ermöglichen könnte. Die Kl besitzt den Führerschein, verfügt aber nicht über ein eigenes, behindertengerechtes Fahrzeug.

Verfahren und Entscheidung

Mit Bescheid lehnte die Bekl den Antrag der Kl auf Gewährung einer Invaliditätspension ab. Die Unterinstanzen wiesen das Klagebegehren ab.

Revisionsgegenständlich war die Frage, ob die Kl, die noch eine einzige Verweisungstätigkeit ausüben kann und entsprechende Arbeitsplätze von ihrem (entlegenen) Wohnort mangels Existenz eines behindertengerechten öffentlichen Verkehrsmittels nicht erreichen kann, als invalid iSd § 255 Abs 3 ASVG anzusehen ist.

Der außerordentlichen Revision der Kl wurde Folge gegeben und die Sozialrechtssache zur Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Originalzitate aus der Entscheidung

„[…]

2.1. Grundsätzlich kommt es nach der Rsp für die Beurteilung der Minderung der Arbeitsfähigkeit nicht auf die Verhältnisse am Wohnort der versicherten Person an, sondern auf die Verhältnisse am allgemeinen Arbeitsmarkt, weil die versicherte Person sonst durch die Wahl des Wohnorts die Voraussetzungen für die Gewährung der Pension beeinflussen könnte (10 ObS 107/22s; 10 ObS 47/18m SSV-NF 32/40). […].

2.2.1. Da eine Wohnsitzverlegung für die Kl nach dem festgestellten Sachverhalt aus medizinischen Gründen ausgeschlossen ist, kann eine solche von ihr jedenfalls nicht verlangt werden. Es stellt sich aber die Frage, ob von der Kl, der grundsätzlich die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel möglich ist, gefordert werden kann, die Erreichbarkeit verfügbarer Arbeitsplätze durch Wochenpendeln herzustellen, obwohl ausgehend von ihrem konkreten Wohnort ein behindertengerechtes öffentliches Verkehrsmittel nicht existiert.

2.2.2. Zwar wird ein Versicherter wegen einer Gehbehinderung solange nicht vom allgemeinen Arbeitsmarkt ausgeschlossen, als er ohne wesentliche Einschränkung ein öffentliches Verkehrsmittel benützen (und die dazu erforderlichen Arbeitswege zurücklegen) kann (RS0085049; zur insofern ausreichenden Vorsorge für Behinderte vgl 10 ObS 301/88 SSV-NF 3/10). Dies ist nach den oben wiedergegebenen Grundsätzen (Punkt 2.1.) abstrakt und somit unabhängig vom konkreten Wohnort (oder von konkret verfügbaren öffentlichen Verkehrsmitteln) zu prüfen.

2.2.3. Dies schließt jedoch im Einzelfall nicht aus, dass eine Wohnsitzverlegung oder ein Wochenpendeln aus individuellen Umständen nicht zumutbar sein können (vgl 10 ObS 107/22s; 10 ObS 168/13y SSV-NF 27/81; 10 ObS 72/10a SSV-NF 24/41 zur Berücksichtigung des erzielbaren Entgelts bei Verweisung auf Teilzeitarbeitsplätze). Insoweit kommt es auf die Besonderheiten des Einzelfalls an.

2.2.4. Dieses Zumutbarkeitskriterium findet sich in § 255 Abs 3 ASVG […]. Die – von der rein abstrakten Prüfung abweichende – Zumutbarkeitsprüfung im Einzelfall stellt ein Korrektiv dar, das in Ausnahmefällen (vgl RS0084991) eine Berücksichtigung verschiedener vom gesundheitlichen Befinden unabhängiger Umstände erlaubt und einen unzumutbaren Einkommensverlust verhindern soll (10 ObS 107/22s; 10 ObS 128/20a; 10 ObS 168/13y SSV-NF 27/81; 10 ObS 72/10a SSV-NF 24/41).

2.3. Die dargestellte Zumutbarkeitsprüfung ergibt im vorliegenden Fall, dass der Kl ein Wochenpendeln nicht zuzumuten ist. […]

2.4. Der vorliegende Fall ist daher jenen gleichzuhalten, in denen Wohnsitzverlegung und Wochenpendeln gleichermaßen unmöglich sind. Dann ist auf 183eine entsprechende Zahl von im Umkreis der möglichen Gehstrecke – allenfalls erweitert um benützbare Massenverkehrsmittel – erreichbaren adäquaten Arbeitsplätzen abzustellen (vgl RS0084994). […]

3.1.1. Grundsätzlich ist ein Versicherter, der nicht in der Lage ist, ein öffentliches Verkehrsmittel zu benützen, nicht verpflichtet, den Weg zum Arbeitsplatz mit dem eigenen Kraftfahrzeug zurückzulegen (RS0085083). Ist hingegen der Wohnort des Versicherten abgelegen und daher durch öffentliche Verkehrsmittel kaum oder nur schlecht erschlossen, sodass die Wege zum und vom Arbeitsplatz bzw zum und vom nächsten öffentlichen Verkehrsmittel üblicherweise mit dem privaten Fahrzeug zurückgelegt werden, ist auch zu berücksichtigen, ob der Versicherte die Wege zwischen seiner Wohnung und der Arbeitsstätte, gegebenenfalls zur Haltestelle eines öffentlichen Verkehrsmittels, in zumutbarer Weise mit einem privaten Fahrzeug zurücklegen kann (RS0085083 [T1]; RS0084907).

3.1.2. Die Kl lebt nach dem festgestellten Sachverhalt in einer typischen Pendlergemeinde. Die Wege zum oder vom Arbeitsplatz bzw zum oder vom nächsten öffentlichen Verkehrsmittel werden somit üblicherweise mit dem privaten Fahrzeug zurückgelegt, weswegen die Kl verpflichtet ist, ein ihr zur Verfügung stehendes Kraftfahrzeug zu benützen, um adäquate Arbeitsplätze zu erreichen.

3.1.3. Die Kl stützte sich bereits in erster Instanz darauf, dass sie nicht über ein eigenes Fahrzeug verfüge und […] die Anschaffung eines solchen auch nicht zumutbar sei (ON 26 Seite 2 [Punkte 1. und 2.]). […] Den getroffenen Feststellungen ist […] zu entnehmen, dass die Kl nicht über ein eigenes behindertengerechtes Fahrzeug verfügt, sodass die Frage, ob sie zur Erreichung adäquater Arbeitsplätze ein (etwa im Familienverband vorhandenes und ihr tatsächlich überlassenes) Fahrzeug nutzen könnte, daraus nicht abschließend beantwortet werden kann.

3.1.4. Es liegt daher ein sekundärer Feststellungsmangel vor, der […] aufgrund der gesetzmäßig ausgeführten Rechtsrüge von Amts wegen aufgegriffen werden muss (RS0043304 [T4]).

3.2.1. Die von der Bekl außerdem geforderte Anschaffung eines Kraftfahrzeugs für die Erreichung des Arbeitsplatzes wird einem Pensionswerber hingegen in der Rsp nur dann zugemutet, wenn die Anschaffungskosten zur Gänze oder fast zur Gänze von einem Sozialversicherungsträger übernommen werden (10 ObS 110/21f; 10 ObS 121/09f SSV-NF 23/62). Eine dahingehende Hilfestellung (vgl 10 ObS 49/04k SSV-NF 18/80) hat die Bekl der Kl im Verfahren nicht angeboten. Es bleibt im vorliegenden Fall daher bei der generellen Regel, dass der Klägerin die Anschaffung eines Kraftfahrzeuges für die Erreichung möglicher Arbeitsplätze nicht zuzumuten ist. […]

4.1. Der Kl ist eine Verlegung des Wohnsitzes nicht möglich und von ihr ist auch ein Wochenpendeln nicht zu verlangen. Die in der Revision weiters aufgeworfene Frage, ob der Kl Wohnsitzverlegung oder Wochenpendeln im Hinblick auf das durch die mögliche Teilzeitbeschäftigung erzielbare Entgelt nicht zumutbar ist, stellt sich bei dieser Sachlage nicht. […]

4.2. Im fortgesetzten Verfahren wird das Erstgericht zu prüfen und Feststellungen darüber zu treffen haben, ob der Kl, der Tagespendeln an sich medizinisch möglich wäre, für die an jedem Arbeitstag zurückzulegenden Strecken ein ihren gesundheitlichen Einschränkungen entsprechendes (wenn auch nicht eigenes) Kraftfahrzeug tatsächlich zur Verfügung steht (s 10 ObS 145/14t SSV-NF 28/77 [Pkt 2.6]; 10 ObS 121/09f SSV-NF 23/62). […]“

Erläuterung

Der Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit tritt bei Versicherten, die nicht überwiegend in erlernten (angelernten) Berufen tätig waren, nur dann ein, wenn diese – durch eine Tätigkeit welche auf dem Arbeitsmarkt noch bewertet wird und die unter billiger Berücksichtigung der ausgeübten Tätigkeiten zumutbar ist – nicht die Hälfte des Entgeltes erwerben können, das ein körperlich und geistig gesunder Versicherter durch eine solche Tätigkeit regelmäßig erzielt (§ 255 Abs 3 ASVG).

Für Versicherte ohne Berufsschutz wird als Verweisungsfeld der gesamte österreichische Arbeitsmarkt herangezogen. Die Erreichbarkeit des Arbeitsplatzes soll mitberücksichtigt werden, wobei nach der Judikatur die Prüfung der Verweisbarkeit abstrakt zu erfolgen hat. Demnach ist ein Versicherter wegen einer Gehbehinderung so lange nicht vom allgemeinen Arbeitsmarkt ausgeschlossen, als er ohne wesentliche Einschränkung ein öffentliches Verkehrsmittel benützen kann. Persönliche Momente, wie die Lage des Wohnorts, sind für die Beurteilung der Invalidität irrelevant, weil sonst der Versicherte durch die Wahl seines Wohnorts die Voraussetzungen für die Gewährung einer Pension beeinflussen könnte (ua OGH 17.4.2018, 10 ObS 28/18t).

Im vorliegenden Fall war die Herstellung der Bedingungen für die Erreichung eines Arbeitsplatzes, die für AN im Allgemeinen gegeben sind, der Kl nicht möglich, weil sie die öffentlichen Verkehrsmittel, die sie für ein Wochenpendeln heranziehen könnte, aus medizinischen Gründen nicht benutzen kann. Dieser Umstand begründet aber noch keine Invalidität, denn wenn die Erreichbarkeit des Arbeitsplatzes nicht mehr möglich ist, stellt sich die Frage einer Wohnsitzverlegung.

Die Prüfung der Zumutbarkeit einer Wohnsitzverlegung oder Wochenpendeln erfolgt gem § 255 Abs 3 ASVG, der die Berücksichtigung der verschiedenen Umstände im Einzelfall ermöglicht. Ein Tages- oder Wochenpendeln – nicht aber eine Wohnsitzverlegung – sind im vorliegenden Fall möglich. In Fällen, in denen eine Wohnsitzverlegung oder Wochenpendeln nicht zumutbar ist, ist dennoch zu prüfen, ob – statt auf dem allgemeinen – auf dem regionalen Arbeitsmarkt ausreichend geeignete Arbeitsplätze 184zur Verfügung stehen. Von der Rsp wurden 20 Arbeitsplätze als zu wenig befunden, bei zwei Verweisungsberufen je 15 bzw bei drei Verweisungsberufen zumindest 30 als ausreichend angesehen (RS0084415). Die Kl lebt in einer Pendlergemeinde. Ausgehend vom Wohnort der Kl existiert kein Arbeitsmarkt von zumindest 30, auch nicht von 15 Arbeitsstellen, die nicht kalkülsüberschreitend sind. Da nach den getroffenen Feststellungen der Kl weder benützbare Massenverkehrsmittel noch ausgehend vom Wohnort eine ausreichende Anzahl an Arbeitsstellen als Telefonistin zur Verfügung standen, war die Kl als nicht verweisbar anzusehen.

Die Kl könnte allerdings mit einem eigenen Fahrzeug große Teile des oberösterreichischen Zentralraumes erreichen, wo jedenfalls zumindest 30 Arbeitsplätze als Telefonistin, die mit ihrem Leistungskalkül vereinbar sind, existieren. Der OGH hat daher ausgeführt, dass zur abschließenden Prüfung der Invalidität Feststellungen zur Frage der Erreichbarkeit von Arbeitsplätzen mit einem privaten Kraftfahrzeug erforderlich sind, was viele weitere Fragen für eine abschließende Beurteilung aufwirft. Somit war die Rechtssache nicht spruchreif.

Diese Entscheidung zeigt einmal mehr die für die Betroffenen nur schwer nachvollziehbare abstrakte Entscheidung in den Versicherungsfällen der geminderten Arbeitsfähigkeit.