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Anspruch auf Pflegekarenzgeld bei Auslandswohnsitz und fehlendem österreichischen Krankenversicherungsschutz der gepflegten Person

JOHANNARACHBAUER
Art 11 Abs 1, Art 17 ff VO (EG) 883/2004

§ 3a Abs 1 BPGG, wonach ein Anspruch ausgeschlossen wird, wenn nach der VO 883/2004 ein anderer Mitgliedstaat für Pflegeleistungen zuständig ist, gilt nach seinem Wortlaut und seiner systematischen Stellung nur für das Pflegegeld und nicht auch für das Pflegekarenzgeld.

Für einen Ausschluss des Pflegekarenzgeldes, weil die Person, für deren Sterbebegleitung die Leistung beantragt wird, über keinen österreichischen Krankenversicherungsschutz verfügt, findet sich weder im nationalen Recht noch im Unionsrecht eine Grundlage.

Sachverhalt

Die Revisionswerberin beantragte die Gewährung von Pflegekarenzgeld gem § 21c Abs 3 Bundespflegegeldgesetz (BPGG) zum Zweck der Sterbebegleitung ihres in Polen lebenden Vaters. Dieser unterlag nicht der österreichischen KV und bezog auch kein 193österreichisches Pflegegeld. Der Antrag wurde vom Sozialministeriumservice mit Bescheid abgewiesen.

Verfahren und Entscheidung

Das BVwG wies die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde als unbegründet ab und führte in seiner rechtlichen Beurteilung aus, dass die VO 883/2004 anzuwenden sei, es sich beim Pflegekarenzgeld um eine „Leistung bei Krankheit“ iSd Art 17 ff der genannten VO handle und dieses nur dann in einen anderen EU-Staat exportiert werden könne, wenn sich eine Zuständigkeit Österreichs für Leistungen bei Krankheit iSd VO 883/2004 in Bezug auf die zu pflegende oder zu begleitende Person ergebe. Das BVwG sprach weiters aus, dass die Revision gem Art 133 Abs 4 B-VG unzulässig sei. Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision.

Der VwGH entschied, dass die Revision zulässig ist, weil keine Rsp des VwGH zu der Frage vorliegt, ob der Anspruch auf Pflegekarenzgeld bei Sterbebegleitung von einem österreichischen Krankenversicherungsschutz der zu begleitenden Person abhängt. Die Revision ist auch berechtigt, weshalb das angefochtene Erkenntnis aufgehoben wurde.

Originalzitate aus der Entscheidung

„[…]

8. Das BPGG, BGBl. Nr. 110/1993, regelte ursprünglich nur den Anspruch auf Pflegegeld. […] § 3a Abs. 1 BPGG bestimmt […], dass Anspruch auf Pflegegeld ohne Grundleistung gem § 3 Abs. 1 und 2 BPGG für österreichische Staatsbürger besteht, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland haben, sofern nach der VO 883/2004 nicht ein anderer Mitgliedstaat für Pflegeleistungen zuständig ist. […]

9. Mit der Novelle BGBl.I Nr. 138/2013BGBl.I Nr. 138/2013wurde in das BPGG ein neuer Abschnitt „Pflegekarenzgeld“ (§§ 21c bis 21f) eingefügt. Beim Pflegekarenzgeld handelt es sich um eine Leistung, die der finanziellen Absicherung von Personen dient, die sich arbeitsrechtlich bzw. nach vergleichbaren dienstrechtlichen Vorschriften in einer Karenz zum Zweck der Pflege oder Betreuung eines nahen Angehörigen (Pflegekarenz, geregelt insb in § 14c AVRAG) oder zum Zweck der Sterbebegleitung eines nahen Angehörigen bzw. der Begleitung von im gemeinsamen Haushalt lebenden, schwersterkrankten Kindern (Familienhospizkarenz, geregelt insb in §§ 14a und 14b AVRAG) befinden, oder die sich zum gleichen Zweck vom Bezug von Leistungen der Arbeitslosenversicherung abgemeldet haben.

[…]

11. Für den Anspruch auf Pflegekarenzgeld – sei es zur Pflege und Betreuung eines erkrankten, sei es zur Begleitung eines sterbenden Angehörigen – ist […] nach § 21c Abs. 2 BPGG ein mindestens dreimonatiger durchgehender (österreichischer) Krankenversicherungsschutz der pflegenden bzw. begleitenden Person erforderlich. In Bezug auf den zu pflegenden bzw. zu begleitenden Angehörigen enthält das BPGG hingegen keine weiteren Voraussetzungen. Es wird lediglich an die Karenzierung nach dem AVRAG (oder vergleichbaren Regelungen) angeknüpft, die ihrerseits einen bestimmten Pflegebedarf des Angehörigen bzw. die […] Notwendigkeit der Sterbebegleitung oder die „schwerste“ Erkrankung eines Kindes voraussetzt.

12. Das BVwG und das Sozialministeriumservice nehmen zusätzlich an, dass Österreich unionsrechtlich für die Gewährung der Leistung zuständig sein muss, damit ein Anspruch auf Pflegekarenzgeld nach dem BPGG begründet werden kann. § 3a Abs. 1 BPGG, wonach ein Anspruch ausgeschlossen wird, wenn nach der VO 883/2004 ein anderer Mitgliedstaat für Pflegeleistungen zuständig ist, gilt nach seinem Wortlaut und seiner systematischen Stellung aber nur für das Pflegegeld und nicht auch für das Pflegekarenzgeld. Dass der Anspruch auf Pflegekarenzgeld nach dem BPGG nicht besteht, wenn sich aus der VO 883/2004 die Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaats ergibt, könnte also nur unmittelbar aus dem Unionsrecht folgen.

13. Insoweit bestimmt Art. 11 Abs. 1 der VO 883/2004, dass Personen, für die diese Verordnung gilt, den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats unterliegen […]. Der EuGH hat von diesem Grundsatz der Einheitlichkeit in seiner […] Rechtsprechung allerdings bereits Ausnahmen anerkannt […]. Demnach kann der genannte Grundsatz einem Mitgliedstaat, der nach den Bestimmungen der Verordnung nicht zuständig ist, nicht die Möglichkeit nehmen, einem Wanderarbeitnehmer unter bestimmten Bedingungen Familienbeihilfen oder eine Altersrente nach seinem nationalen Recht zu gewähren (vgl. EuGH 19.4.2019, C-95/18 und C-96/18Van den Berg u. a., Rn. 53). Die Gewährung der Leistungen darf jedoch nicht zu einem Zusammentreffen von Leistungen desselben Typs für denselben Zeitraum führen (vgl. EuGH 23.4.2015, C-382/13Franzen u. a., Rn. 63 ff). Es ist nicht zweifelhaft, dass die zunächst zu Familienleistungen ergangene und dann […] ohne weiteres auch auf Altersrenten angewandte Rechtsprechung ebenso für andere Leistungen der sozialen Sicherheit maßgeblich ist.

14. In diesem Sinn hat der OGH unter Berufung auf die Rechtsprechung des EuGH […] ausgesprochen, es stehe einem Anspruch auf Pflegegeld nicht entgegen, dass nach Unionsrecht ein anderer Mitgliedstaat der für Geldleistungen bei Krankheit zuständige Staat sei (vgl. RIS-Justiz RS0129521). Als Reaktion auf diese Rechtsprechung wurde mit der Novelle BGBl. I Nr. 12/2015BGBl. I Nr. 12/2015§ 3a Abs 1 BPGG um die schon genannte negative Anspruchsvoraussetzung ergänzt, dass nicht ein anderer Mitgliedstaat nach der VO 883/2004 für Pflegeleistungen zuständig sein darf […]. Diese Voraussetzung gilt aber, wie bereits ausgeführt, ausdrücklich nur für das Pflegegeld und nicht auch für das Pflegekarenzgeld. 194

15. Für das Pflegekarenzgeld nach § 21c Abs. 3 BPGG dürfte die Revisionswerberin nach der Aktenlage alle Anspruchsvoraussetzungen […] erfüllt haben. Es wurde ihr nur deswegen nicht gewährt, weil ihr Vater, für dessen Sterbebegleitung sie die Leistung beantragt hatte, über keinen österreichischen Krankenversicherungsschutz verfüge und Österreich daher für diese […] Leistung nicht zuständig sei. Für diesen Ausschlussgrund findet sich aber, wie dargestellt, weder im nationalen Recht noch im Unionsrecht eine Grundlage, wurde doch auch nicht festgestellt, dass der Vater der Revisionswerberin bzw. sie selbst auf Grund der nach dem Kollisionsrecht anzuwendenden Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats im selben Zeitraum Anspruch auf eine dem Pflegekarenzgeld vergleichbare Leistung gehabt hätte.

16. Unabhängig davon, ob das Pflegekarenzgeld bei Familienhospizkarenz – wie von der belangten Behörde und vom BVwG angenommen und von Österreich gem Art. 9 der VO 883/2004 notifiziert – tatsächlich als (Geld-)Leistung bei Krankheit im Sinn der Verordnung einzustufen ist […], wäre es der Revisionswerberin daher bei Erfüllung der Anspruchsvoraussetzungen nach § 21c Abs. 2 und 3 BPGG zu gewähren gewesen.“

Erläuterung

Der VwGH klärt in der vorliegenden E die Frage des Anspruches auf Pflegekarenzgeld in grenzüberschreitenden Familienkonstellationen. Konkret handelt es sich um Fälle, in denen die Pflegeperson der österreichischen KV unterliegt – meist aufgrund eines Dienstverhältnisses in Österreich –, während die pflegebedürftige Person nicht der österreichischen KV unterliegt, weil sie zB im Ausland lebt und auch keine Pension aus Österreich bezieht. Für die Zeit der Pflegekarenz bzw Familienhospizkarenz möchte nun die Pflegeperson die staatliche Unterstützungsleistung zur finanziellen Absicherung während dieser Zeit beziehen. Bisher war strittig, ob in solchen Fällen Anspruch auf Pflegekarenzgeld besteht. Auch die Rsp des BVwG war dahingehend nicht einheitlich:

2018 sprach das BVwG (3.7.2018, W228 2169770-1) einer in Österreich beschäftigten Grenzgängerin, die eine Pflegekarenz zur Pflege ihrer in Deutschland wohnhaften Tochter vereinbarte, das Pflegekarenzgeld zu und sprach aus, dass es sich um eine Leistung bei Krankheit iSd VO 883/2004 handle. Dies deshalb, weil der EuGH auch das Pflegegeld (EuGH 5.3.1998, C-160/96, Molenaar) oder die Übernahme der Rentenversicherungsbeiträge des eine pflegebedürftige Person pflegenden Dritten durch die Pflegeversicherung (EuGH 8.7.2004, C-502/01 und 31/02, Gaumain-Cerri und Barth) als Leistungen bei Krankheit eingestuft hat. Ferner entschied das BVwG, dass es sich beim Pflegekarenzgeld um eine Geldleistung handle, weil es akzessorisch zum Pflegegeld sei. Darauf baute das BVwG 2020 in zwei Erkenntnissen auf. Bei der ersten E (26.8.2020, W228 2232397-1) handelte es sich um eine in Österreich wohnhafte Person, die zur Sterbebegleitung ihrer in Italien lebenden Mutter eine Familienhospizkarenz vereinbarte. Hier sprach das BVwG die Leistung zu und entschied, dass die VO 883/2004 nicht anwendbar sei, da es sich um keine Grenzgängerin handle. Es sei § 21c BPGG nicht zu entnehmen, dass die pflegebedürftige Person der österreichischen KV zu unterliegen habe. Weiter sei in der E W228 2169770-1 die im Einzelfall festgestellte Akzessorietät des Pflegekarenzgeldes zum Pflegegeld als Grundlage für die europarechtliche Einordnung als Leistung aus Krankheit verwendet worden, jedoch sei nicht festgestellt worden, dass diese Akzessorietät eine innerstaatliche Anspruchsvoraussetzung darstelle. Im zweiten Erkenntnis dieses Jahres (6.11.2020, W217 2235570-1) entschied das BVwG in einem Fall einer Grenzgängerin, die in Österreich arbeitete, in Deutschland wohnte und zur Sterbebegleitung ihres dort wohnhaften Lebensgefährten in Familienhospizkarenz war, ebenso zuerkennend, obwohl es hier den Anwendungsbereich der VO 883/2004 eröffnet sah. Denn da die Pflegeperson in Österreich tätig sei, habe sie auch dann Anspruch auf Geldleistungen iSd Art 21 VO 883/2004 von den österreichischen Trägern, wenn sie in einem anderen Mitgliedstaat wohne.

Diese Rsp des BVwG änderte sich mit einer weiteren E (26.4.2021, W201 2213248-1), in der der Anspruch auf Pflegekarenzgeld im Fall einer in Österreich wohnhaften und beschäftigten Person, die eine Familienhospizkarenz zur Sterbebegleitung ihres in Polen lebenden Vaters vereinbarte, abgelehnt wurde. Erstmals argumentierte das BVwG, dass die pflegebedürftige Person weder der österreichischen KV unterlegen sei noch ein österreichisches Pflegegeld bezogen habe. Da deshalb keine Zuständigkeit Österreichs für Leistungen bei Krankheit iSd VO 883/2004 in Bezug auf die zu pflegende oder zu begleitende Person vorliege, könne das Pflegekarenzgeld nicht exportiert werden.

In der nun vorliegenden E löst der VwGH das Problem auf andere Weise. Er geht dabei von den in § 21c BPGG und in § 14a ff AVRAG festgelegten Anspruchsvoraussetzungen aus, welche im Anlassfall erfüllt sind. In der Folge erkennt er, dass die unionsrechtliche Zuständigkeit Österreichs für einen Anspruch auf Pflegekarenzgeld nicht erforderlich ist. Dies wird zum einen durch das nationale Recht begründet, denn das BPGG schließt einen Anspruch auf Pflegekarenzgeld für den Fall, dass ein anderer Mitgliedstaat für Pflegeleistungen zuständig ist, nicht aus. § 3a Abs 1 BPGG, der diese negative Anspruchsvoraussetzung für das Pflegegeld vorsieht, gilt nämlich nicht für das Pflegekarenzgeld. Zum anderen steht auch das Unionsrecht einem Anspruch auf Pflegekarenzgeld nicht entgegen, wenn ein anderer Mitgliedstaat zuständig ist. Denn obwohl nach Art 11 Abs 1 VO 883/2004 Personen im 195Anwendungsbereich der VO grundsätzlich den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats unterliegen, wurden von dieser Regel bereits Ausnahmen anerkannt. Voraussetzung dafür ist, dass es dadurch nicht zum Zusammentreffen von Leistungen desselben Typs für denselben Zeitraum kommt. Auch der OGH hat dies unter Berufung auf die Rsp des EuGH (12.6.2012, C-611/10 und C-612/10, Hudzinski und Wawrzyniak) zum Pflegegeld ausgesprochen (woraufhin § 3a Abs 1 BPGG eingeführt wurde). Da die Revisionswerberin alle Anspruchsvoraussetzungen für das Pflegekarenzgeld erfüllt und weder im nationalem Recht noch im Unionsrecht ein Ausschluss mangels Zuständigkeit für Leistungen bei Krankheit geregelt ist, steht die Leistung zu. Als interessantes Detail soll noch angemerkt werden, dass sich der VwGH nicht dazu äußert, ob das Pflegekarenzgeld tatsächlich als Leistung bei Krankheit zu qualifizieren ist. Vielmehr erkennt er, dass es „unabhängig davon“ zu gewähren gewesen wäre.