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Keine Neuaufrollung abschließend erledigter Streitpunkte im fortgesetzten Verfahren nach einem Aufhebungsbeschluss

ELISABETHBISCHOFREITER

Das Erstgericht ist im Falle eines Aufhebungsbeschlusses an die Rechtsansicht des OGH gebunden. Abschließend erledigte Streitpunkte können in einem nach einem Aufhebungsbeschluss fortgesetzten Verfahren nicht wieder aufgerollt werden. Nicht ausgeschlossen ist allenfalls eine Wiederaufnahmeklage gegen den Aufhebungsbeschluss eines Berufungsgerichts.

Sachverhalt

Aus dem ersten Rechtsgang steht folgender Sachverhalt fest: Am Donnerstag, 27.6.2019, hatte der Kl einen Bürotag und arbeitete zu Hause. Für den Nachmittag war ein Beratungsgespräch mit einer Kollegin vereinbart. Überdies erwartete er einen dringenden dienstlichen Anruf eines Kollegen. Gegen 16:00 Uhr klingelte es an der Tür. Der Kl verließ daher sein Büro, ging hinunter zur Haustür, öffnete diese und empfing seine Kollegin. Unmittelbar nach der Begrüßung klingelte das Telefon im Büro im ersten Stock. Der Kl bat die Kollegin in die Wohnküche, um dort auf ihn zu warten, und lief die Treppe hinauf, um das Gespräch entgegenzunehmen. Auf der obersten Stufe trat er mit dem linken Fuß ins Leere und verletzte sich.

Verfahren und Entscheidung

Der OGH hatte in seiner E vom 27.4.2021 zu 10 ObS 15/21k den Unfall als Dienstunfall nach § 90 B-KUVG qualifiziert. Die (das Klagebegehren abweisenden) Urteile der Vorinstanzen wurden zur Klärung aufgehoben, ob die Erwerbsfähigkeit des Kl durch die Folgen des Dienstunfalls über drei Monate nach dem Eintritt des Versicherungsfalls hinaus um mindestens 20 vH vermindert ist.

Das Erstgericht führte im zweiten Rechtsgang ein Beweisverfahren über den Unfallhergang durch und wies das auf Anerkennung eines Dienstunfalls und Gewährung einer Versehrtenrente gerichtete Klagebegehren mit der Begründung ab, dass ein dienstlicher Zusammenhang des vom Kl über die Treppe geführten Wegs nicht feststellbar sei, daher kein Dienstunfall vorliege.

Im Hinblick auf die Bindungswirkung des Aufhebungsbeschlusses des OGH gab das Berufungsgericht der Berufung des Kl teilweise Folge und änderte das Urteil des Erstgerichts dahin ab, dass es das Klagebegehren auf Gewährung einer Versehrtenrente für den Zeitraum 11.9. bis 10.12.2019 im Ausmaß von 20 vH der Vollrente als dem Grunde nach zu Recht bestehend feststellte, das Begehren auf Erbringung einer höheren Versehrtenrente bzw einer Versehrtenrente über den 10.12.2019 hinaus abwies.

Die außerordentliche Revision der Bekl wurde wegen Fehlens einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung als unzulässig zurückgewiesen.

Originalzitate aus der Entscheidung

1. Die bekl Partei bekämpft die vom Berufungsgericht für den zweiten Rechtsgang angenommene Bindung an den Aufhebungsbeschluss des OGH vom 27.4.2021. Sie habe bereits im ersten Rechtsgang eine Zeugeneinvernahme zum Beweisthema der Unfallfolgen beantragt. Allerdings sei sie im ersten Rechtsgang noch nicht in der Lage gewesen, die Namen der Zeugen bekanntzugeben, weil sich der Kl geweigert habe, diese zu nennen. In der im ersten Rechtsgang erstatteten Berufungsbeantwortung seien weder die erstgerichtlichen Feststellungen bekämpft noch sei ein Verfahrensmangel geltend gemacht worden. Eine Rügepflicht habe aber nicht bestanden, weil es sich um sekundäre Feststellungsmängel – nämlich zu den Unfallfolgen – gehandelt habe. Wegen der damals herrschenden Rsp des OGH hätten die Parteien auch nicht mit der Notwendigkeit, Feststellungen zu rügen, rechnen müssen. Die „neuen“ Feststellungen des Erstgerichts seien erst als Folge der Beweisaufnahmen zu den Unfallfolgen hervorgekommen und könnten unter den Voraussetzungen des § 530 ZPO im zweiten Rechtsgang verwertet werden. Darüber hinaus habe der Kl den Verstoß gegen die Bindungswirkung in der Berufung nicht gerügt.

2. Wie die bekl Partei zugesteht, konnte der OGH in seinem Aufhebungsbeschluss von einem unbekämpften Sachverhalt ausgehen. Welche Feststellungsrüge sie in ihrer Berufungsbeantwortung erhoben hätte, wäre sie nicht von der Rechtsansicht des OGH überrascht worden, lässt sie offen. Sie hat auch explizit klargestellt, dass die von ihr (ohne namentliche Nennung) beantragten Zeugen nicht zum Grund des Anspruchs, sondern zu den Unfallfolgen geführt wurden.

3. Der Umstand, dass sich bei der Beweisaufnahme im zweiten Rechtsgang aus Sicht des Erstgerichts die Unrichtigkeit der seinerzeit von ihm im ersten Rechtsgang getroffenen Feststellungen herausge201stellt hat, ändert nichts an der bereits gemäß § 499 Abs 2 iVm § 513 ZPO eingetretenen Bindung des Erstgerichts an die Rechtsansicht des OGH, dass der Unfall des Kl vom 27.6.2019 ein Dienstunfall nach § 90 Abs 1 B-KUVG war. Abschließend erledigte Streitpunkte können in einem nach einem Aufhebungsbeschluss fortgesetzten Verfahren nicht wieder aufgerollt werden ([…] RS0042014; RS0042031). Neu vorgebracht werden können nur mehr Tatsachen, die erst nach Schluss der mündlichen Verhandlung im ersten Rechtsgang entstanden sind (RS0042458 […]). Nicht ausgeschlossen wird von der Rsp die Wiederaufnahmeklage gegen den Aufhebungsbeschluss eines Berufungsgerichts (RS0042323;A. Kodek in Rechberger/Klicka, ZPO5 § 530 Rz 2). Eine solche ist aber hier nicht zu beurteilen.

4. Wie bereits das Berufungsgericht ausgeführt hat, hatte es im Hinblick auf die gesetzmäßig ausgeführte Berufung die materiell-rechtliche Richtigkeit der angefochtenen Entscheidung nach allen Richtungen zu prüfen (RS0043352) und konnte daher die eingetretene Bindungswirkung aufgreifen, auch wenn der Kl in seiner Berufung deren Verletzung nicht gerügt hatte.

Erläuterung

Der OGH befasste sich in seiner E 10 ObS 15/21k vom 27.4.2021aufgrund einer Revision des Kl bereits einmal mit dem vorliegenden Fall. Gegenstand war die Frage des Vorliegens eines Dienstunfalles im Homeoffice bei Sturz über eine nicht überwiegend zu betrieblichen Zwecken benutzten Innentreppe. Bis zu dieser E vertrat der OGH die Ansicht, dass bei Unfällen im Wohnbereich einer versicherten Person auf das Überwiegen der betrieblichen Nutzung des konkreten Unfallorts abzustellen sei. Auf Grundlage des im ersten Rechtsgang festgestellten und von der Bekl nicht bekämpften Sachverhalts ging der OGH von dieser Rsp ab, indem er ausführte, dass ein Sturz auf einer nicht überwiegend zu betrieblichen Zwecken benutzten Innentreppe des Wohngebäudes dem Schutz der gesetzlichen UV unterliegt, wenn die Fortbewegung ausschließlich von der objektivierten Handlungstendenz in Richtung einer dienstlichen Tätigkeit getragen ist (vgl Pfeil, Dienstunfall eines Personalvertreters im Homeoffice, DRdA 2022/1, 28).

Auch im zweiten Rechtsgang wurde der OGH befasst – nunmehr von der bekl Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter, Eisenbahnen und Bergbau (BVAEB). Diese bekämpfte die vom Berufungsgericht in Abänderung des klagsabweisenden Urteils des Erstgerichts angenommene Bindung an den Aufhebungsbeschluss des OGH vom 27.4.2021, da im zweiten Rechtsgang im Zuge der Beweisaufnahmen zu den Unfallfolgen „neue“ Feststellungen zum Unfallhergang hervorgekommen seien, denen zu Folge kein dienstlicher Zusammenhang vorliege.

Da die neuen Feststellungen, die gegen das Vorliegen einer objektivierten Handlungstendenz in Richtung einer dienstlichen Tätigkeit sprechen, erst als Folge der Beweisaufnahmen zu den Unfallfolgen im zweiten Rechtsgang hervorgekommen sind, war die BVAEB im ersten Rechtsgang noch nicht in der Lage, diese in der Berufungsbeantwortung bekanntzugeben und die für sie nachteiligen Feststellungen über den Unfallhergang gem § 468 Abs 2 ZPO zu rügen. Der Beschluss des OGH im ersten Rechtsgang fußte daher auf der Feststellung, dass der Kl die Treppe hinauflief, um einen dringenden dienstlichen Anruf eines Kollegen entgegenzunehmen. Dies ändert allerdings nichts daran, dass im ersten Rechtsgang abschließend erledigte Streitpunkte in einem nach einem Aufhebungsbeschluss fortgesetzten Verfahren nicht erneut aufgerollt werden können – die Bindung an die Rechtsansicht des OGH wird dadurch nicht beseitigt.

Der OGH weist darauf hin, dass nach Bekanntwerden neuer Tatsachen bzw Beweismittel allenfalls eine Wiederaufnahmsklage nach § 530 ZPO gegen den Aufhebungsbeschluss denkbar wäre. Die hierfür gesetzlich vorgeschriebene Notfrist von vier Wochen beginnt mit jenem Tag, an welchem der/die Wiederaufnahmswerber/in imstande ist, die ihm/ihr bekannt gewordenen Tatsachen und Beweismittel bei Gericht vorzubringen. Eine solche Wiederaufnahmeklage war allerdings im vorliegenden Fall nicht von der BVAEB eingebracht worden, sodass sie vom OGH auch nicht zu beurteilen war.202