58. Tagung der Österreichischen Gesellschaft für Arbeitsrecht und Sozialrecht
58. Tagung der Österreichischen Gesellschaft für Arbeitsrecht und Sozialrecht
Vom 29. bis zum 31.3.2023 fanden sich Vertreter*innen aus Wissenschaft und Praxis zur 58. Tagung der Österreichischen Gesellschaft für Arbeitsrecht und Sozialrecht im Ferry Porsche Congress Center in Zell am See ein. Die Anmeldezahl erreichte mit fast 500 Teilnehmer*innen beinahe das Niveau vor der Covid-19-Pandemie. Der Präsident der Gesellschaft, Univ.-Prof. Dr. Rudolf Mosler, hob in seinen Eröffnungsworten die Bedeutung einer Präsenzveranstaltung hervor und gedachte der verstorbenen Gründer der Tagung,Hans Floretta und Rudolf Strasser, die beide im Februar dieses Jahres 100 Jahre alt geworden wären. Im Anschluss daran bedankte sich BürgermeisterAndreas Wimmreuter für die jahrelange Kooperation mit der Stadt Zell am See.
Entsprechend der langjährigen Tradition widmete sich der erste Tag der Veranstaltung wieder arbeitsrechtlichen Themen. Nach kurzen Dankesworten der Vizepräsidentin RAin Hon.-Prof.in Dr.inSieglinde Gahleitner (Mitglied des VfGH) eröffnete Univ.-Prof.in Dr.inSusanne Auer-Mayer (Wirtschaftsuniversität Wien) mit ihrem Vortrag „Unionsrecht statt Urlaubsgesetz?“ die Tagung. Die Thematik ist insofern höchst relevant, als der EuGH in den letzten Jahren eine Vielzahl an Entscheidungen zum Urlaubsrecht erlassen hat, die durchaus an den Grundfesten des österreichischen Urlaubsgesetzes (UrlG) rütteln. Aus diesem Grund beschäftigte sich Auer-Mayer in ihrem Vortrag mit der Fragestellung, in welchen Bereichen das Unionsrecht das österreichische UrlG verdrängt. Nach einigen grundlegenden Ausführungen griff die Referentin einzelne Bereiche des Urlaubsrechts heraus, in denen die österreichische und unionsrechtliche Regelung in einem besonderen Spannungsverhältnis stehen. Dass die Probleme vielschichtig sind, beweist bereits die Frage, ob die unionsrechtlichen Vorgaben lediglich bei den von der Arbeitszeit-RL vorgegebenen vier Wochen Mindesturlaub greifen oder auch bei der fünften und sechsten Urlaubswoche, die das UrlG gewährt. Die Referentin differenzierte hierbei danach, ob das nationale Recht noch unionsrechtskonform interpretiert werden könne oder eben nicht (diesfalls komme der Anwendungsvorrang zum Tragen). Darüber hinaus sorgt besonders auch die Bemessung des Urlaubs für Kopfzerbrechen. Die im nationalen Recht geltende kalendarische Bemessung sei aufgrund der freistellungsorientierten Bemessung des EuGH speziell beim Wechsel von Voll- auf Teilzeit unionsrechtswidrig. Eine unionsrechtskonforme Interpretation hielt die Referentin für möglich, diese wurde aber vom OGH bereits ausdrücklich abgelehnt. Weitere diffizile Themengebiete des Vortrags waren die Anrechnung von Vordienstzeiten, Erkrankungen während des Urlaubs, Urlaubsentgelt, Urlaubsersatzleistung und Verjährung des Anspruchs. Im Endeffekt plädierte Auer-Mayer, das UrlG einer umfassenden Überarbeitung zu unterziehen und das Gesetz unionsrechtskonform auszugestalten.208
In der daran anknüpfenden Diskussion wurde zunächst die unionsrechtskonforme Interpretation im Falle einer Erkrankung während des Urlaubs thematisiert. Laut der Referentin könne der hier relevante § 5 UrlG nicht unionsrechtskonform interpretiert werden, weshalb es zum Anwendungsvorrang komme. Außerdem sei der Urlaub während einer Erkrankung zwar national betrachtet Urlaub, unionsrechtlich hingegen nicht. Eine weitere Frage aus dem Publikum beschäftigte sich mit der Aufklärungs- und Informationspflicht der AG bei der Verjährung des Urlaubsanspruchs. Dieser Verpflichtung werde der*die AG wohl nur dann rechtzeitig nachkommen, wenn er*sie den*die AN zu Beginn jenes Jahres informiert, in dem der Anspruch verjähren soll. Dem Vorschlag, bei der Urlaubsbemessung generell vom kalendarischen System auf ein Stundensystem zu wechseln, stimmte Auer-Mayer zu. Insb bei flexiblen Arbeitszeitmodellen stoße das kalendarische System vermehrt an seine Grenzen. Dass viele Anwesende die Vorgangsweise des EuGH sehr kritisch sehen, kam bei der Diskussion jedenfalls deutlich zum Ausdruck. Ob dies etwas an seiner Rechtsprechungslinie ändern wird, scheint aber eher unwahrscheinlich.
Im zweiten Vortrag beschäftigte sich Univ.-Prof. Mag. Dr. Christoph Kietaibl (Universität Klagenfurt) mit einem grundlegenden zivilrechtlichen Problemfeld, nämlich „Irrtum und Aufklärung im Arbeitsverhältnis“. Dass eine Irrtumsanfechtung bei Dauerschuldverhältnissen, wie es das Arbeitsverhältnis ist, problematisch sein kann, liegt auf der Hand, wie auch das sehr vielfältige Meinungsspektrum zu diesem Thema beweist. Nach einigen allgemeinen Ausführungen zum Rechtsinstitut des Irrtums und seinem Zusammenhang mit Aufklärungspflichten ging der Referent auf die bereits viel diskutierte Frage nach der Rückwirkung der Irrtumsanfechtung ein. Dabei strebte er keine Darstellung des gesamten, mittlerweile schon unübersichtlich gewordenen Meinungsstands an, sondern fokussierte sich eher auf wesentliche Grundlagen und allfällige Wertungswidersprüche. Die Position, dass die Irrtumsregeln gänzlich durch die Auflösung aus wichtigem Grund verdrängt werden, lehnteKietaibl jedenfalls ab. Einzige Ausnahme seien gesetzliche Auflösungstatbestände, die ausdrücklich auf Irrtum Bezug nehmen, wie zB § 82 lit a GewO 1859. Die herrschende Meinung, dass eine Irrtumsanfechtung wegen Rückabwicklungsschwierigkeiten im Arbeitsverhältnis keine Rückwirkung entfalten soll, wurde im Vortrag zwar nicht bestritten, aber zumindest hinterfragt. Insb sei es nicht nachvollziehbar, warum bei Arglist und Nichtigkeit des Arbeitsvertrags keine derartigen Rückabwicklungsschwierigkeiten bestehen sollen. Ein weiterer Schwerpunkt der Präsentation war die Beurteilung irrtümlich erbrachter Mehrleistungen. Wesentlich sei hier, ob die Mehrleistung selbst bzw ihr irrtümliches Erbringen für den*die AN erkennbar war oder nicht. Schlussendlich behandelte der Referent die schwer zu fassenden, einzelfallabhängigen Aufklärungspflichten im Arbeitsverhältnis. Dabei ging er speziell auf die Intensität dieser Pflichten, das Fragerecht der AG und die Aufklärungspflicht bei eigenem Fehlverhalten ein.
Die anschließende Diskussion wurde vonMarhold eröffnet, der in diesem Zusammenhang zu Recht die EU-RL 2019/1152 ins Spiel brachte. Tatsächlich sei nämlich unklar, wie ein Rechtsverstoß gegen diese im nationalen Recht noch nicht umgesetzte RL beurteilt werden könne. Besonders praxisrelevant sei in diesem Zusammenhang Art 4 Abs 2 lit j der RL (Unterrichtspflichten im Zuge einer Kündigung). Wohl müsse das nationale Recht in diesem Fall richtlinienkonform ausgelegt werden. Eine nähere Auseinandersetzung konnte aus zeitlichen Gründen allerdings nicht stattfinden. Außerdem wurde von einem Diskutanten infrage gestellt, ob die Nichtaufklärung über einen bevorstehenden Betriebsübergang einen anfechtbaren Irrtum darstellen kann. Der Referent bejahte dies mit der Begründung, dass ein AG-Wechsel für ein Arbeitsverhältnis große Relevanz habe und deswegen durchaus einen aufklärungspflichtigen Umstand darstellen würde. Schlussendlich wurde auch noch hervorgehoben, dass ein Irrtum bei Vertragsabschluss (beispielsweise über das kollektivvertragliche Entgelt) vollkommen anders zu beurteilen sei als ein Irrtum über das ausbezahlte Entgelt im Laufe des Vertragsverhältnisses. Der eine Fall könne einen unbeachtlichen Motivirrtum darstellen, wohingegen der andere Fall mithilfe uns bekannter Rechtsfiguren (zB Vertragsergänzung, Judikat 33 neu, etc) zu beurteilen sei.
Hon.-Prof. Dr. Matthias Neumayr (Vizepräsident des OGH und Universität Salzburg) schloss den ersten Tag der Veranstaltung mit seinem Referat zum Thema „Beweisverwertungsverbote im Arbeitsrecht“ ab. Die Kernfrage seines Vortrags lautete: Führt die Rechtswidrigkeit der Erlangung eines Beweismittels zum Verbot der Verwertung im arbeitsgerichtlichen Verfahren? Prinzipiell gehe das österreichische Recht von der Trennung zwischen materiellem Recht und Zivilprozessrecht aus. Diesem Grundsatz zufolge habe eine materielle Rechtswidrigkeit der Erlangung eines Beweismittels (beispielsweise wegen eines Verstoßes gegen die Datenschutz-Grundverordnung [DSGVO]) keinerlei Einfluss auf dessen prozessuale Behandlung. Die Sanktionen der Rechtswidrigkeit richten sich vielmehr allein nach dem materiellen Recht. Dieses auf den ersten Blick recht einleuchtende Prinzip wurde aber in letzter Zeit vermehrt infrage gestellt. Kürzlich führte die OGH-E 7 Ob 121/22b vom 24.8.2022zu Diskussionen in der Literatur. Auch wenn der OGH hier am Trennungsgrundsatz festhielt, so könne nach Ansicht des Referenten ein gewisses Unbehagen des Gerichts bei der Verwertung derartiger Beweismittel festgestellt werden. Auch nehme die Kritik der Lehre am Prinzip der Nichtbeachtung materieller Gegebenheiten im Prozess zu. Zuletzt äußerte sich auch der EuGH zu dieser Fragestellung (2.3.2023, C-268/21, Norra Stockholm Bygg) und brachte damit den österreichischen Trennungsgrundsatz – wenig überraschend – in Bedrängnis. Bei der Einbringung und Verwertung 209rechtswidrig erlangter Beweismittel handle es sich nämlich um eine Datenverarbeitung iSd Art 4 Z 2 DSGVO, die selbst wieder an den Maßstäben der DSGVO zu messen sei. Der Referent konkludierte aus all dem, dass sich wahrscheinlich immer mehr Beweisverwertungsverbote in der österreichischen Zivilprozessordnung durchsetzen werden. Die weiteren Entwicklungen in diesem Bereich bleiben abzuwarten. „Einfacher wird es nicht, voraussehbarer auch nicht“, meinteNeumayr zum Schluss.
Die darauffolgende Diskussion widmete sich zunächst dem Pouvoir der Betriebsparteien, mittels einer BV auch Beweisverwertungsverbote zu normieren. Nach dem in Österreich (noch) herrschenden Trennungsgrundsatz wäre ein Gericht an derartige Regelungen nicht gebunden. Im Rahmen einer Verhältnismäßigkeitsprüfung könne man sie in einem Verfahren aber doch wieder einbeziehen. Außerdem wurde die Rsp des EGMR thematisiert, die sich zwar bis dato nicht ausdrücklich zur Frage der Verwertung rechtswidrig erlangter Beweismittel geäußert hat, aus der aber doch indirekt geschlossen werden kann, dass die Art der Erlangung im Verfahren eine Rolle spiele. Beendet wurde die Diskussion mit einer Stellungnahme aus Deutschland (Prof. Riesenhuber), die dem Trennungsgrundsatz ebenfalls recht eindeutig eine Absage erteilte. Wegen des Grundsatzes der Einheit der Rechtsordnung, aber auch wegen des Umstandes, dass Gerichte als staatliche Organe sowohl an die Grundrechte als auch die DSGVO gebunden seien, ließe sich das Trennungsprinzip in Zukunft wohl nur mehr schwer aufrechterhalten.
Das traditionell am ersten Veranstaltungstag stattfindende Seminar wurde von MMag. Dr. Christoph Wiesinger, LL.M. (Wirtschaftskammer Österreich) zum Lohn- und Sozialdumping-Bekämpfungsgesetz (LSD-BG) abgehalten. Wie gewohnt hatte das Seminar auch in diesem Jahr einen interaktiven Charakter. Anders als in den Jahren davor war es allerdings nicht als Judikaturseminar aufgebaut. Der Referent stellte den Tagungsteilnehmer*innen gleich zu Beginn vier „Mythen“ zum LSD-BG vor, welche zunächst als wahr oder falsch identifiziert und im Laufe des Seminars inhaltlich diskutiert wurden. Der erste Mythos, das LSD-BG kenne einen einheitlichen Entgeltbegriff, sei Wiesinger zufolge falsch, da sich der Entgeltbegriff des § 3 LSD-BG von jenem in § 29 leg cit unterscheide. Dem zweiten Mythos lag die Frage zugrunde, ob Aufwandersatzansprüche als Entgelt iSd LSD-BG zu qualifizieren sind. Unter Bezugnahme auf die E des EuGH in der Rs Sähköalojen ammattiliitto ry (12.2.2015, C-396/13) sei dieser Mythos nach der Meinung des Referenten nur teilweise richtig, da er nur auf bestimmte Lohnbestandteile zutreffe. Anschließend wurde im Rahmen des dritten Mythos die Deliktskategorie des Unterentlohnungstatbetands gem § 29 LSD-BG behandelt, welchen der Referent nicht als Ungehorsamsdelikt, sondern als Erfolgsdelikt (Unterlassungs-, Erfolgs- und Dauerdelikt) einstufte. Zur Tathandlung trete eben ein Erfolg (Unterentlohnung) hinzu. Des Weiteren sei die Unterentlohnung als Unterlassungs- und Dauerdelikt zu qualifizieren. Zum vierten Mythos vertrat Wiesinger – entgegen der hM – die Auffassung, dass eine Unterentlohnung mit einer Überbezahlung nicht nur im selben Lohnzahlungszeitraum gegengerechnet werden könne, sondern auch über mehrere Lohnzahlungszeiträume. Begründend führte er mit Hilfe eines Beispiels an, dass ein AG, der bloß in einem Lohnzahlungszeitraum unterentlohnt, bei einer Durchrechnung über mehrere Lohnzahlungszeiträume in Summe aber mehr als den Mindestlohn bezahlt, unter Umständen strenger bestraft wird als ein AG, der permanent (wenn auch nur jedes Mal minimal) unterentlohnt § 29 Abs 1 LSD-BG sei daher rechtspolitisch problematisch und – im Hinblick auf Art 7 B-VG – wohl auch verfassungswidrig. Diese These führte anschließend zu einer lebhaften Diskussion. Sie wurde von mehreren Wortmeldungen hinterfragt. Ua wurde darauf hingewiesen, dass damit der Unterschied zwischen dem Vorliegen einer Unterentlohnung und dem Vorliegen einer Nachzahlung obsolet wäre und dem Gesetzgeber auch zugestanden werden müsse, eine leicht handhabbare Regelung für die Behörden zu treffen. Außerdem würden gewisse Faktoren (wie zB eine vorsätzliche Tatbegehung über einen längeren Zeitraum) letztlich ohnehin in der Strafbemessung berücksichtigt werden, womit es sich auf jeden Fall um eine sachliche Regelung handle.
Der zweite Veranstaltungstag, moderiert von RA o.Univ.-Prof Dr. Franz Marhold, hatte auch in diesem Jahr einen sozialrechtlichen Schwerpunkt. Den Einstieg lieferte Univ.-Prof. i. R. Dr. Walter Pfeil (Universität Salzburg), der in seinem Vortrag neue Entwicklungen in der Pflegevorsorge thematisierte. Mit besonderem Fokus auf die aktuelle Pflegereform wurden drei große Themenblöcke – Maßnahmen im Hinblick auf die Pflege- und Betreuungsbedürftigen, die pflegenden Angehörigen und das Pflegepersonal – behandelt. Im ersten Themenblock hob er die Erhöhung des Erschwerniszuschlags von 25 auf 45 Stunden pro Monat grundsätzlich positiv hervor. Dadurch werde allerdings nur ein Teil des Problems gelöst, da die Änderung des zeitlichen Ausmaßes nichts an den Anspruchsvoraussetzungen des Erschwerniszuschlags ändere. Das Grundproblem, die tatsächliche Erfassung der pflegeerschwerenden Faktoren bei Personen mit einer schweren geistigen oder schweren psychischen Behinderung, bleibe unberührt. In Anlehnung anRudda (ÖZPR 2021/66, 114 [116]) schlugPfeil ein Staffelungsmodell vor, bei dem der Erschwerniszuschlag an die Erfüllung bestimmter Kriterien gekoppelt wird. Im zweiten Themenblock widmete sich der Vortragende den Reformen im Hinblick auf pflegende Angehörige. Besonderes Augenmerk legte er dabei auf den Angehörigenbonus, der mit 1.7.2023 in Kraft tritt und auf Grundlage von zwei unterschiedlichen Modellen (§§ 21g und 21h BPGG) umgesetzt wird.Pfeil erläuterte diesbezüglich zunächst detailliert die Anspruchsvoraussetzungen und zeigte 210in weiterer Folge die Unterschiede der beiden Modelle auf. Problematisch sei in dieser Hinsicht vor allem die Zweigleisigkeit der Bestimmungen. Ob die strengen Anspruchsvoraussetzungen des Angehörigenbonus nach § 21h Bundespflegegeldgesetz (BPGG), vor allem die Einkommensgrenze gem Z 3 leg cit, sachlich gerechtfertigt sind, sei aufgrund der ähnlichen Zwecksetzung höchst fraglich. Im Rahmen des letzten Themenblocks behandelte der Vortragende die aktuellen Reformen im Hinblick auf das Pflegepersonal, welche, durch eine Verbesserung der arbeitsrechtlichen Bedingungen, eine Attraktivierung der 24-Stunden-Betreuung ermöglichen sollen. Davon sei – abgesehen von der Erhöhung der Förderung nach § 21b BPGG – bislang aber noch nichts umgesetzt worden. Für die tatsächliche Umsetzung dieses Ziels müsse bei der in vielen Fällen bestehenden Scheinselbstständigkeit angesetzt werden. Zumindest kurzfristig könnte eine Attraktivierung der 24-Stunden-Pflege nach Pfeil durch eine Anstellung der Pflegekräfte bei den Trägern herbeigeführt werden, was zudem ein höheres Maß an Professionalität und Qualität bewirken würde.
In der anschließenden Diskussion wurde zunächst die Abstimmung zwischen Langzeitpflege und Gesundheitsversorgung thematisiert. Aufgrund der Unterschiedlichkeit der beiden Systeme gestalte sich eine gemeinsame Umsetzung von Maßnahmen als schwierig. Pfeil äußerte allerdings Bedenken hinsichtlich der Schaffung eines Apparats zur Steuerung der Pflegeversorgung, wobei er auf die komplexen Problemstellungen in der Zielsteuerung der Gesundheitsversorgung verwies. Stattdessen wäre es sinnvoll, mehr finanzielle Anreize für die Länder zu schaffen, um eine Steuerung auf diesem Wege zu ermöglichen. Außerdem wurde von einer Tagungsteilnehmerin, nach der Schilderung einiger Fälle aus der Praxis, der Wunsch nach mehr Zeit für die Ermittlung des Pflegebedarfs durch die beteiligten Akteur*innen geäußert.
Assoz. Univ.-Prof.in Dr.inBarbara Födermayr (Universität Linz) referierte im abschließenden Vortrag der Tagung zu Strukturfragen des Unfallversicherungsrechts nach Covid-19. Den Tagungsteilnehmer*innen wurde dabei zunächst ein Überblick zur Entwicklung der gesetzlichen UV geboten. Anschließend widmete sich die Referentin der Frage, ob Covid-19 als Berufskrankheit anzuerkennen ist. Dies bejahte sie, da es sich bei Covid-19 um eine „Infektionskrankheit“ gem Nr 38 der in Anlage eins des ASVG angeführten Berufskrankheitenliste (BK-Liste) handle. Allerdings müsse die Ansteckung mit dem Covid-19-Virus bei Ausübung der versicherten Tätigkeit in einem sogenannten „Listenunternehmen“ oder in einem Unternehmen, in dem eine vergleichbare Gefährdung besteht, erfolgen. Die Prüfung, ob in einem Unternehmen eine vergleichbare Gefährdung besteht, sei aber keine rechtliche, sondern eine medizinische Frage. In weiterer Folge behandelte Födermayr die Frage, ob eine Covid-19-Erkrankung neben einer Berufskrankheit zugleich auch einen Arbeitsunfall darstellen könne. Da nach der Rsp des OGH unter bestimmten Umständen auch eine Infektion ein plötzliches Ereignis sein könne, bejahte sie dies unter der Voraussetzung, dass sich die Infektion innerhalb einer Arbeitsschicht und im Betrieb ereignet hat. Bei einer Covid-19-Erkrankung könne daher sowohl eine Berufskrankheit als auch ein Arbeitsunfall vorliegen. Im letzten Teil ihres Referats thematisierte die Referentin Unfälle im Zuge von Homeoffice. Sie vertrat die Ansicht, dass die im Zuge der Novelle BGBl 2002/23 eingeführten Ergänzungsbestimmungen des § 175 Abs 1a und 1b ASVG nur als Klarstellung des Gesetzgebers zu werten sind und diese keine Änderungen im geltenden Recht bewirken. Bereits vor Einführung dieser Sonderbestimmungen sei aus der Rsp des OGH hervorgegangen, dass bei Unfällen im Homeoffice ein Versicherungsschutz besteht, sofern ein sachlicher Zusammenhang zur Tätigkeit hergestellt werden kann und diese von der inneren Handlungstendenz getragen wird, die betrieblichen Interessen zu fördern. Zudem führte Födermayr aus, dass § 175 Abs 2 Z 7 ASVG teleologisch reduziert werden müsse, sodass auch bei der Befriedung von lebensnotwendigen Bedürfnissen im Homeoffice ein Versicherungsschutz besteht. Als Begründung führte sie an, dass es andernfalls zu unauflösbaren Wertungswidersprüchen kommen würde.
Im Mittelpunkt der darauffolgenden Diskussion stand die Unterscheidung von Berufskrankheit und Arbeitsunfall. In mehreren Wortmeldungen wurde angemerkt, dass es zwar eine schmale Überschneidung von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten gebe, das sei jedoch nur in Ausnahmefällen und unter besonderen Umständen der Fall. Die Vermischung von Berufskrankheit und Arbeitsunfall würde eine Flut an Problemstellungen im geltenden Recht verursachen, weshalb an der grundsätzlichen Unterscheidung von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten dezidiert festgehalten werden sollte. R. Müller problematisierte in seiner Wortmeldung ua die – an sich rechtmäßige – Anerkennung von Covid-19 als Berufskrankheit, denn das Charakteristikum einer Berufskrankheit sei, dass sie Menschen in bestimmten Tätigkeiten stärker gefährde als andere. Eine Pandemiekrankheit gefährde jedoch die Allgemeinheit gleichermaßen wie Personen, die in einem einschlägigen Listenunternehmen beschäftigt sind. In der Praxis spiele das vor allem bei Covid-Erkrankungen mit schweren Dauerschäden eine Rolle, da nur die in einem Listenunternehmen beschäftigten Personen Anspruch auf Versehrtenrente haben.
Wie gewohnt hatten auch in diesem Jahr aufstrebende Nachwuchswissenschaftler*innen die Möglichkeit, Ausschnitte ihres Dissertationsvorhabens einem Fachpublikum zu präsentieren. Das Nachwuchsforum fand am späteren Nachmittag des 21129.3.2023 statt und stellte mit den ausgezeichneten Vorträgen von Univ.-Ass. Conrad Greiner, LL.M. (Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, Überlassene Arbeitnehmer bei Massenkündigungen im Beschäftigerbetrieb), Univ.-Ass.inHelena Palle, LL.M., BSc (Universität Wien, Die Insolvenzausnahme bei Betriebsübergang) und Univ.-Ass. Mag. Peter C. Schöffmann (Wirtschaftsuniversität Wien, Verwaltungskooperation im Europäischen Sozialrecht) einen mehr als gelungenen Einstieg in die Tagung dar.
Der Präsident, Univ.-Prof. Dr. Rudolf Mosler, dankte in seinen Schlussworten allen Vortragenden, Diskutant*innen und ganz besonders den vielen an der Organisation beteiligten Personen, die – wie jedes Jahr – für einen reibungslosen Ablauf der Tagung sorgten. Die nächste Tagung der Gesellschaft für Arbeitsrecht und Sozialrecht wird von 10. bis 12.4.2024, wie üblich im Ferry Porsche Congress Center Zell am See, stattfinden.