27Urlaubsverjährung widerspricht Unionsrecht
Urlaubsverjährung widerspricht Unionsrecht
Art 7 der RL 2003/88/EG und Art 31 Abs 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die eine dreijährige Verjährungsfrist für Urlaubsansprüche vorsehen, sofern der AG den AN nicht tatsächlich in die Lage versetzt hat, diese Ansprüche wahrzunehmen.
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Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage
12 TO war vom 1.11.1996 bis zum 31.7.2017 bei LB beschäftigt.
13 Nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses verlangte TO von LB für die von ihr zwischen 2013 und 2017 nicht genommenen 101 Tage bezahlten Jahresurlaubs eine finanzielle Vergütung.
14 LB lehnte es ab, TO den Jahresurlaub abzugelten.
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16 Gegen diese Entscheidung legte LB Revision beim Bundesarbeitsgericht (Deutschland) ein. Das vorlegende Gericht ist der Ansicht, nach § 7 Abs 3 BUrlG seien die Ansprüche von TO für die Jahre 2013 bis 2016 nicht erloschen, weil LB TO nicht in die Lage versetzt habe, ihren bezahlten Jahresurlaub tatsächlich zur gebotenen Zeit zu nehmen. Unter Heranziehung des Urteils vom 6.11.2018, Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften (C-684/16, EU:C:2018:874), wonach der AG den AN dazu auffordern müsse, seinen Urlaub zu nehmen, und ihn über das mögliche Erlöschen seines Anspruchs informieren müsse, sei dem Abgeltungsbegehren von TO daher grundsätzlich stattzugeben.
17 Das vorlegende Gericht weist jedoch darauf hin, dass LB eine Einrede der Verjährung nach § 194 BGB erhoben hat. Nach § 195 und § 199 BGB verjähren die Ansprüche eines Gläubigers drei Jahre nach dem Schluss des Jahres, in dem sein Anspruch entstanden ist.
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20 Da eine nationale Regelung, der zufolge die Übertragung der vom AN erworbenen Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub einer Beschränkung unterliegen könne oder diese Ansprüche erlöschen könnten, zum einen ein Verhalten billige, das zu einer unrechtmäßigen Bereicherung des AG führe, und zum anderen dem Ziel des Schutzes der Gesundheit des AN zuwiderlaufe, zweifelt das vorlegende Gericht an der Vereinbarkeit der in den §§ 194 ff BGB vorgesehenen Verjährungsregel mit dem in Art 7 der RL 2003/88 und in Art 31 Abs 2 der Charta verankerten Anspruch.
21 Unter diesen Umständen hat das BAG das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Stehen Art 7 der RL 2003/88 und Art 31 Abs 2 der Charta der Anwendung einer nationalen Regelung wie § 194 Abs 1 iVm § 195 BGB entgegen, nach der der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub einer regelmäßigen Verjährungsfrist von drei Jahren unterliegt, deren Lauf unter den in § 199 Abs 1 BGB genannten Voraussetzungen mit dem Schluss des Urlaubsjahres beginnt, wenn der AG den AN nicht durch entsprechende Aufforderung und Hinweise tatsächlich in die Lage versetzt hat, seinen Urlaubsanspruch auszuüben?
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Zur Vorlagefrage
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29 Im vorliegenden Fall ergibt sich aus dem Vorabentscheidungsersuchen, dass der Revisionsbekl des Ausgangsverfahrens entgegengehalten werden könnte, ihr Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub sei nach der allgemeinen Verjährungsregel des § 195 BGB verjährt.
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31 In der Richtlinie selbst wird die Verjährung dieses Anspruchs indessen nicht geregelt.
32 Da das vorlegende Gericht den Gerichtshof nicht nur um Auslegung von Art 7 Abs 1 der RL 2003/88, sondern damit verbunden auch um Auslegung von Art 31 Abs 2 der Charta ersucht, ist zum einen darauf hinzuweisen, dass Art 7 der RL 2003/88 das in Art 31 Abs 2 der Charta verankerte Grundrecht auf bezahlten Jahresurlaub widerspiegelt und konkretisiert. Denn während die letztgenannte Bestimmung jeder AN und jedem AN das Recht auf bezahlten Jahresurlaub garantiert, setzt die erstgenannte Vorschrift diesen Grundsatz um, indem sie die Dauer des Jahresurlaubs festlegt (Urteil vom heutigen Tag, Fraport, C-518/20 und C-727/20, Rn 26 sowie die dort angeführte Rsp).
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35 Folglich liegt in der Anwendung der Vorschrift über die regelmäßige Verjährung auf die Ansprüche der Revisionsbekl des Ausgangsverfahrens auch eine Einschränkung des Rechts, das ihr Art 31 Abs 2 der Charta zuerkennt.
36 In der Charta verankerte Grundrechte dürfen nur unter Einhaltung der in Art 52 Abs 1 der Charta vorgesehenen strengen Bedingungen eingeschränkt werden, dh, diese Einschränkungen müssen gesetzlich vorgesehen sein, den Wesensgehalt des betreffenden Rechts achten sowie unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erforderlich sein und von der Europäischen Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen tatsächlich entsprechen (Urteil vom heutigen Tag, Fraport, C-518/20 und C-727/20, Rn 33).
37 Im vorliegenden Fall ist erstens die Einschränkung, der die Ausübung des in Art 31 Abs 2 der Charta geregelten Grundrechts unterliegt und die aus der Anwendung der im Ausgangsverfahren in 263
Rede stehenden Verjährungsfrist folgt, gesetzlich vorgesehen, nämlich in § 195 BGB.
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39 Nach § 195 BGB kann dem AN die Verjährung der Ansprüche, die er aufgrund seines Rechts auf bezahlten Jahresurlaub für einen bestimmten Zeitraum erworben hat, erst nach einem Zeitraum von drei Jahren entgegengehalten werden. [...]
40 Daraus folgt, dass die aufgrund der Einrede des AG erfolgende Anwendung der Vorschrift des nationalen Rechts über die regelmäßige Verjährung insofern den Wesensgehalt des Rechts auf bezahlten Jahresurlaub nicht antastet, als sie, sofern der AN von den seinen Anspruch begründenden Umständen und der Person seines AG Kenntnis erlangt hat, die Möglichkeit für den AN, seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub geltend zu machen, lediglich einer zeitlichen Begrenzung von drei Jahren unterwirft.
41 Drittens hat die deutsche Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen zu der Frage, ob die Einschränkungen für die Ausübung des in Art 31 Abs 2 der Charta verankerten Rechts auf bezahlten Jahresurlaub, die sich aus der Anwendung der in § 195 BGB vorgesehenen Verjährung ergeben, nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung des mit ihnen verfolgten Ziels erforderlich ist, klargestellt, dass diese Bestimmung des BGB als allgemeine Verjährungsregelung ein legitimes Ziel verfolge, nämlich die Gewährleistung der Rechtssicherheit. [...]
48 Die Gewährleistung der Rechtssicherheit darf jedoch nicht als Vorwand dienen, um zuzulassen, dass sich der AG auf sein eigenes Versäumnis, den AN in die Lage zu versetzen, seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub tatsächlich auszuüben, beruft, um daraus im Rahmen der auf diesen Anspruch gestützten Klage des AN einen Vorteil zu ziehen, indem er einredeweise die Anspruchsverjährung geltend macht. [...]
52 Ließe man aber zu, dass sich der AG auf die Verjährung der Ansprüche des AN berufen kann, ohne ihn tatsächlich in die Lage versetzt zu haben, diese Ansprüche wahrzunehmen, würde man unter diesen Umständen im Ergebnis ein Verhalten billigen, das zu einer unrechtmäßigen Bereicherung des AG führt und dem eigentlichen von Art 31 Abs 2 der Charta verfolgten Zweck, die Gesundheit des AN zu schützen, zuwiderläuft (vgl in diesem Sinne Urteil vom 29.11.2017, King, C-214/16, EU:C:2017:914, Rn 64). [...]
53 Es ist zwar richtig, dass der AG ein berechtigtes Interesse daran hat, nicht mit Anträgen auf Urlaub oder finanzielle Vergütung für nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub konfrontiert werden zu müssen, die auf mehr als drei Jahre vor Antragstellung erworbene Ansprüche gestützt werden. Dieses Interesse ist indes dann nicht mehr berechtigt, wenn der AG sich dadurch, dass er davon abgesehen hat, den AN in die Lage zu versetzen, den Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub tatsächlich wahrzunehmen, selbst in eine Situation gebracht hat, in der er mit solchen Anträgen konfrontiert wird und aus der er zulasten des AN Nutzen ziehen könnte; dies wird das vorlegende Gericht im Ausgangsverfahren zu prüfen haben. [...]
54 Eine solche Situation ist nämlich nicht mit derjenigen vergleichbar, für die der Gerichtshof, wenn die längere Abwesenheit des AN auf eine krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit zurückzuführen ist, ein berechtigtes Interesse des AG daran anerkannt hat, sich nicht der Gefahr einer Ansammlung von zu langen Abwesenheitszeiträumen und den Schwierigkeiten gegenüberzusehen, die sich daraus für die Arbeitsorganisation ergeben können (vgl in diesem Sinne Urteil vom 22.11.2011, KHS, C-214/10, EU:C:2011:761, Rn 38 und 39).
55 In einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens ist es Sache des AG, gegen späte Anträge wegen nicht genommenen bezahlten Jahresurlaubs dadurch Vorkehrungen zu treffen, dass er seinen Hinweis- und Aufforderungsobliegenheiten gegenüber dem AN nachkommt, womit die Rechtssicherheit gewährleistet wird, ohne dass das in Art 31 Abs 2 der Charta verankerte Grundrecht eingeschränkt würde.
56 In Anbetracht dessen ist festzustellen, dass es, wenn ein AG den AN nicht tatsächlich in die Lage versetzt hat, seinen in einem Bezugszeitraum erworbenen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub wahrzunehmen, über dasjenige hinausgeht, was zur Gewährleistung der Rechtssicherheit erforderlich ist, wenn auf die Ausübung dieses in Art 31 Abs 2 der Charta verankerten Anspruchs die in § 195 BGB vorgesehene regelmäßige Verjährung Anwendung findet.
57 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art 7 der RL 2003/88 und Art 31 Abs 2 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub, den ein AN für einen Bezugszeitraum erworben hat, nach Ablauf einer Frist von drei Jahren verjährt, deren Lauf mit dem Schluss des Jahres beginnt, in dem dieser Anspruch entstanden ist, wenn der AG den AN nicht tatsächlich in die Lage versetzt hat, diesen Anspruch wahrzunehmen. [...]
Der EuGH hatte sich in den letzten Jahren mehrfach mit Fragen der Zulässigkeit des Verfalls von Urlaubsansprüchen und finanziellen Ersatzleistungen auseinanderzusetzen (Niksova, Das Urlaubsrecht im europäischen Wandel, wbl 2022, 481). Er erkannte dabei eine Unionsrechtswidrigkeit in nationalen Systemen, die Urlaubsansprüche bzw – im Falle der Beendigung – finanzielle Ersatzleistungen erlöschen lassen, wenn eine Urlaubskonsumation krankenstandsbedingt nicht im vorgesehenen Zeitraum möglich war (EuGH 20.1.2009, C-350/06, Schultz-Hoff, Rn 49, 52, 61; EuGH 10.9.2009, C-277/08, Pereda, Rn 22). Um den AG „vor der Gefahr der Ansammlung von zu langen Abwesenheitszeiträumen“ zu schützen, schränkte er die verfallshemmende Wirkung jedoch in Fällen ein, in denen nationale Regelungen einen (mehr als einjährigen) Übertragungszeitraum für offene Urlaube 264 vorsahen (EuGH 22.11.2011, C-214/10, KHS, Rn 39; neun Monate erachtete er als zu kurz: EuGH 3.5.2012, C-337/10, Neidel, Rn 41 f). Darin wurde in der Literatur eine Form der „Missbrauchsprüfung“ des AN-Urlaubskonsums erkannt (Kozak, Der OGH als Retter des Gesetzgebers, DRdA 2015, 90 [97]).
In weiterer Folge setzte der EuGH aber vor allem dem Missbrauch durch AG Schranken: Hat der Nichtkonsum einen vom Willen des AN unabhängigen Grund, so tritt der Urlaubsverfall nicht ein (Risak/Grossinger, Verjährung des Urlaubsanspruchs bei Scheinselbständigkeit, JAS 2018, 140 [149]). Ein als Scheinselbständiger beschäftigter AN kann daher für das gesamte Arbeitsverhältnis eine finanzielle Abgeltung des Urlaubs durchsetzen. Das gilt selbst dann, wenn der AG die rechtliche Fehlqualifikation „irrtümlich“ vorgenommen hätte, weil es diesem obliegt, sich umfassend über seine Verpflichtungen als AG zu informieren (EuGH 29.11.2017, C-214/16, King, Rn 52, 61). In der Rs Max-Planck-Gesellschaft setzte der EuGH diese Rechtsprechungslinie fort: Als „schwächere Partei“ könne nicht vom AN verlangt werden, den Urlaub einzufordern, um einen Verfall zu verhindern. Vielmehr liegt es am AG, den AN auf den Urlaubsanspruch und einen drohenden Verfall hinzuweisen. Den AG trifft – als Voraussetzung für einen Urlaubsverfall – die Beweislast dafür, dass er den AN damit faktisch in die Lage versetzt hat, seine Rechte (auf bezahlten Urlaub) wahrzunehmen (EuGH 6.11.2018, C-684/16, Max-Planck-Gesellschaft, Rn 41, 44, 46).
Weil Art 31 Abs 2 GRC eine Berufung des AN auf dieses Grundrecht gestattet, kommt das Unionsrecht auch in Streitigkeiten zwischen Privaten zur Anwendung (EuGH Rs Max-Planck-Gesellschaft, Rn 74 f; Mair, Nichtverbrauch von Urlaub – Verantwortlichkeit des Arbeitgebers, DRdA 2019, 416; Erler, Der EuGH bewirkt massive Änderungen im österreichischen Urlaubsgesetz, ÖZPR 2019, 4). Die grundrechtskonforme Auslegung privatrechtlicher Normen des Grundrechts bewirkt, dass widersprechendes nationales Recht unangewendet zu bleiben hat (Holoubek/Oswald in Holoubek/Lienbacher, GRC-Kommentar2 Art 51 Rz 57), wenn keine richtlinienkonforme Interpretation nationaler Bestimmungen möglich sein sollte.
Im aktuellen Anlassfall hatte sich der AG im arbeitsgerichtlichen Verfahren auf die allgemeinen zivilrechtlichen Verjährungsfristen berufen, um die Ansprüche für eine finanzielle Abgeltung jahrelang nicht konsumierter Urlaube der AN abzuwehren. Das deutsche BAG fasste einen Vorlagebeschluss, weil es vom EuGH ausgelegt wissen wollte, ob eine Verjährung des Urlaubs als Ausdruck des gesetzgeberischen Ziels der Rechtssicherheit unionsrechtlich gerechtfertigt werden könne (BAG 29.9.2020, 9 AZR 266/20, Rz 48 f). Zudem erachtete es das BAG als bislang ungeklärt, ob nicht auch die nach § 204 BGB eröffnete Möglichkeit des AN, die Verjährung durch Erhebung gerichtlicher Klage zu hemmen, ausreiche, um den unionsrechtlichen Vorgaben zu genügen (BAG 29.9.2020, 9 AZR 266/20, Rz 44).
Der EuGH wiederholt in seiner E, dass bereits Art 31 Abs 2 das Recht auf bezahlten Jahresurlaub garantiert und Art 7 RL 2003/88/EG dieses Recht lediglich konkretisiert, indem die Dauer des bezahlten Jahresurlaubs festgelegt wird (Rn 32). Weil die Verjährungsbestimmungen daher ein Grundrecht beschränken, prüft der EuGH, ob diese Einschränkungen gesetzlich gedeckt sind, den Wesensgehalt des Urlaubsrechts achten, erforderlich und verhältnismäßig sind. Keinen Anstoß nimmt der EuGH an der durch § 194 BGB zweifellos vorhandenen gesetzlichen Grundlage der Verjährung und daran, dass eine dreijährige Verjährungsfrist den Wesensgehalt des Urlaubsrechts unberührt lässt (Rn 37 f). Dem Argument, der durch die Verjährungsbestimmungen ausgedrückte Grundsatz der Rechtssicherheit rechtfertige den Urlaubsentfall, folgt er jedoch nicht. Versäumt es ein AG über Jahre, seine Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten wahrzunehmen, dürfe er keinen Vorteil aus seinem eigenen Versäumnis ziehen, indem er einredeweise die Anspruchsverjährung geltend mache (Rn 48). Damit zielt der EuGH offensichtlich auf den Einwand des Rechtsmissbrauchs ab (Risak/Grossinger, JAS 2018, 140 [152]): Eine Berufung auf das berechtigte Interesse, nicht für überlange Resturlaube in Anspruch genommen zu werden, ist dem AG zu verwehren, wenn er sich selbst in diese Situation gebracht hat (Rn 53). Die Rechtssicherheit könne nämlich auch unter Wahrung des Grundrechts gewährleistet bleiben, wenn der AG schlicht seinen Hinweispflichten nachkomme (Rn 55).
Zutreffend wurde in der Literatur bereits seit der Rs King das unionsrechtliche Spannungsverhältnis zur Verjährung des Urlaubsanspruchs nach § 4 Abs 5 UrlG bzw der Ersatzleistung hervorgehoben (Drs, Urlaubsrecht11 § 4 Rz 208 f; Risak/Grossinger, JAS 2018, 140 [150 f]; Auer-Mayer, [Keine] Verjährung arbeitsrechtlicher Ansprüche? DRdA 2018, 299 [302 f]; Kopetzki, Das Grundrecht auf Jahresurlaub: Neues zur Charta und ihrer Drittwirkung, ecolex 2019, 97 [98]; Mair, DRdA 2019, 416 [419]). Der OGH hielt an der Zulässigkeit der Verjährung zuletzt dennoch fest, weil dem AN durch die Unterbrechung der Verjährung im Fall der Klagsführung ohnehin ein effizienter Rechtsbehelf zur Verfügung stünde. Der Verjährungseinrede könne der AN nur mit der Arglist-Replik erfolgreich begegnen, wenn es der AG geradezu darauf angelegt habe, die Anspruchsdurchsetzung zu verhindern (OGH 29.8.2019, 8 ObA 62/18b). Mit guten Argumenten wurde in der Literatur in Frage gestellt, dass diese Rechtsansicht bereits mit der bisherigen Rsp des EuGH vereinbar ist (Auer-Mayer, Keine unionsrechtlichen Auswirkungen auf die Verjährung des Urlaubsanspruchs nach § 4 Abs 5 UrlG? DRdA 2020, 378; Drs, Urlaubsverjährung bei Scheinselbständigkeit, JAS 2020, 225; Kietaibl, Urlaubsverjährung bei Scheinselbständigkeit, ZAS 2021, 83).265
Die vorliegende E sollte diesbezüglich endgültig Klarheit schaffen: Eine gesetzliche Urlaubsverjährung ist als unionsrechtswidrig zu beurteilen, wenn es der AG unterlassen hat, den AN auf seine Ansprüche und eine drohende Verjährung aufmerksam zu machen. In Fällen einer Umqualifizierung von Werkverträgen und freien Dienstverträgen ist daher regelmäßig davon auszugehen, dass eine Urlaubsverjährung nicht eintritt (Kietaibl, ZAS 2021, 83 [86]). Eine Verweisung des AN auf die verjährungshindernde Klagsführung, wie sie auch das BAG im Vorlagebeschluss ins Treffen geführt hatte, wird vom EuGH nicht akzeptiert. Zutreffend argumentiert schon Auer-Mayer, dass der AN zur Vermeidung der Verjährung nicht auf die Klagsführung verwiesen werden könne, wenn nicht einmal der Mangel an Eigeninitiative bei der Stellung eines Urlaubsantrags für sich den Verfall unionsrechtlich begründet (Auer-Mayer, DRdA 2020, 378 [382]).
Weniger eindeutig erscheint allerdings, wie die nationalen Gerichte methodisch vorzugehen haben, um die Unionsrechtskonformität zu sichern. Grundsätzlich sind interpretationsbedürftige nationale Normen richtlinienkonform auszulegen (Vcelouch in Jaeger/Stöger [Hrsg], EUV/AEUV Art 288 AEUV Rz 60). Dabei darf nach stRsp des OGH der normative Gehalt der Gesetzesregelung aber nicht grundlegend neu bestimmt oder eine Auslegung contra legem vorgenommen werden (RIS-Justiz RS0114158, T9). Der EuGH hat allerdings beginnend mit der Rs Dansk Industriklargestellt, dass das Erfordernis einer unionsrechtskonformen Auslegung die Verpflichtung der nationalen Gerichte mitumfasst, eine gefestigte Rsp gegebenenfalls abzuändern, wenn sie auf einer Auslegung des nationalen Rechts beruht, die mit den Zielen einer Richtlinie nicht vereinbar ist (EuGH 19.4.2016, C-441/14, Dansk Industri, Rn 33).
Niksova bezweifelt aufgrund des Wortlauts des § 4 Abs 5 UrlG, der keine Mitwirkungspflichten des AG vorsieht, die Möglichkeit einer unionsrechtskonformen Auslegung (Niksova, wbl 2022, 481 [487]). Auer-Mayer sieht hingegen einen Weg zur unionsrechtskonformen Auslegung darin, eine Hemmung von Verjährungsfristen anzunehmen, bis der AG dem AN iSd EuGH-Rsp die Inanspruchnahme des Urlaubs „ermöglicht“ hat (Auer-Mayer, Unionsrechtliche Auswirkungen auf das Urlaubsrecht, ZAS 2018, 12 [20]). Auch GA Richard de la Tour argumentiert in seinen Schlussanträgen in diese Richtung: Nicht die Verjährungsfrist des BGB sei problematisch, sondern der Umstand, dass der Fristenlauf beginne, bevor der AG seine Hinweisobliegenheit wahrgenommen hat (Schlussanträge des GA Richard de la Tour, 5.5.2022, C-120/21, Rn 49). Zuzustimmen ist dieser Überlegung insofern, als eine richtlinienkonforme Interpretation keine (unzulässige) Ergänzung des § 4 Abs 5 UrlG erfordert, sondern lediglich eine Anpassung der Rsp zur Verjährung. Der EuGH hat den Gedanken der Verjährungshemmung in seinem Urteil allerdings nicht aufgegriffen, sondern zielt mit seiner Argumentation darauf ab, dass die Verletzung der Hinweisobliegenheit den Verjährungseinwand rechtsmissbräuchlich macht.
Überzeugend und von der aktuellen E gestützt erscheint damit die von Risak/Grossinger vorgeschlagene Lösung, den Verjährungseinwand des AG als sittenwidrig zu verwerfen (Risak/Grossinger, JAS 2018, 140 [152]). Das erfordert keine Auslegung contra legem, sondern lediglich eine judikative Berücksichtigung der unionsrechtlichen Hinweisobliegenheit des AG. Missachtet der AG diese Hinweisobliegenheit, büßt er die ihm zustehende Verjährungseinrede ein. Dieser Gedanke ist auch auch auf die Ansprüche auf Urlaubsersatzleistung nach § 10 Abs 3 UrlG zu übertragen. Die Verjährung ist nur über Einwendung und nicht von Amts wegen zu berücksichtigen (Reissner in Neumayr/Reissner [Hrsg], ZellKomm3 § 4 UrlG Rz 35). Auch im Prozess um die Urlaubsersatzleistung müsste der AG daher die Verjährungseinrede einwenden und wäre dies als rechtsmissbräuchlich zu qualifizieren.
Bei unmittelbarer Anwendung des GRC-Grundrechts mangels richtlinienkonformer Interpretierbarkeit geht der OGH davon aus, dass nur der unionsrechtlich geschützte Urlaubsanspruch im Ausmaß von vier Wochen zusteht (OGH 17.2.2022, 9 ObA 150/21f). Eine direkte Anwendung des Grundrechts scheint aber nicht erforderlich, da eine richtlinienkonforme Auslegung möglich und geboten ist. Überzeugend argumentiert Niksova, dass das Gesetz bei möglicher richtlinienkonformer Interpretation aber keine Unterscheidung zwischen unionsrechtlichem und nationalem Urlaubsanspruch zulässt (Niksova, wbl 2022, 481 [487]). Ist die Verjährungseinrede als rechtsmissbräuchlich zu qualifizieren oder ist von einer Hemmung der Verjährung auszugehen, ist eine sachliche Differenzierung schwer denkbar (Auer-Mayer, DRdA 2018, 299 [303]). Verletzt der AG daher seine Hinweis- und Aufforderungspflichten, schließt das eine Verjährung für den gesamten unverbrauchten Jahresurlaub im Ausmaß von fünf bzw sechs Wochen aus.
Der EuGH setzt seine Judikaturlinie fort und macht die tatsächliche Ermöglichung des Urlaubsverbrauchs des AN durch Hinweis- und Aufforderungsobliegenheiten des AG auch zur Voraussetzung für die Verjährungseinrede. Die Unionsrechtskonformität der Bestimmungen zur Urlaubsverjährung nach § 4 Abs 5 iVm § 10 Abs 3 UrlG könnte durch eine unionsrechtskonforme Auslegung der Sittenwidrigkeit bzw des Rechtsmissbrauchs iZm der Verjährungseinrede in der österreichischen Rsp gesichert werden: Verletzt der AG seine Obliegenheiten, ist die Verjährungseinrede bei der Geltendmachung der Urlaubsersatzleistung als sittenwidrig zu verwerfen. 266