ter Haar/Kun (Hrsg)EU Collective Labour Law

Edward Elgar Publishing, Cheltenham 2021, 488 Seiten, gebunden, € 46,–

MARTINGRUBER-RISAK (WIEN)

Das kollektive Arbeitsrecht auf Unionsrechtsebene ist nicht unbedingt der Schwerpunkt der Unionsgesetzgebung, fallen doch dessen Kernaspekte, dh die Vereinigungsfreiheit, das Recht auf Kollektivverhandlungen und kollektive Maßnahmen eigentlich nicht in die Zuständigkeit der EU. Auch zeigt sich in rechtsvergleichender Hinsicht, dass die überbetrieblichen Arbeitsbeziehungen, das Kollektivvertragswesen sowie die betriebliche Mitbestimmung in den einzelnen Mitgliedstaaten sowohl rechtlich-konzeptionell als auch in der Praxis sehr unterschiedlich ausgestaltet sind. Es stellt sich daher schon eingangs die grundsätzliche Frage, was eine Publikation über das kollektive Arbeitsrecht der EU eigentlich behandelt und insb, ob hier eigentlich ein in sich geschlossenes Rechtsgebiet vorliegt oder doch nur ein eher bruchstückhaft geregelter Rechtsbereich. Die beiden Herausgeber:innen, Beryl ter Haar (Universität Warschau/Universität Groningen) und Attila Kun (Károli Gáspár Universität Budapest), nehmen gleich eingangs zu dieser Problematik Stellung und gehen von einem möglichst weiten Begriff aus, der die vielschichtigen Beziehungen von AN- und AG-Vereinigungen und die aus diesen resultierenden Rechte und Pflichten umfasst und auch den sozialen Dialog auf Unionsebene inkludiert. Gerade letzterer hat in der (Berufungs-)Entscheidung EPSU des Gerichtshofes der EU (C-928/19 P) einen Dämpfer erfahren, als dieser festhielt, dass die Kommission nicht verpflichtet ist, einem Antrag der Sozialpartner auf Durchführung einer von ihnen geschlossenen Vereinbarung auf Unionsebene in Form einer Richtlinie stattzugeben (dazu noch weiter unten). Das schränkt nun die Rolle der Sozialpartner auf Unionsebene doch erheblich ein, ein Aspekt, der an unterschiedlicher Stelle durchaus kritisch behandelt wird.

Das Buch selbst besteht aus 27 Kapiteln (inklusive der ausführlichen Einleitung), die von 36 Autor:innen verfasst sind, die in unterschiedlichen EU-Mitgliedstaaten und darüber hinaus (Georgien, Russland, Schweiz, UK) tätig sind. Sie sind, mit einigen Ausnahmen, in der Regel jüngere, im EU-Arbeitsrecht tätige Kolleg:innen; die Auswahl ist von erstaunlicher regionaler Diversität und ein beeindruckendes Zeugnis der Umtriebe und der Vernetzung der Herausgeber:innen. Es zeigt sich aber auch, dass Rechtswissenschaften in den unterschiedlichen Staaten doch sehr unterschiedlich praktiziert werden und dass sich daher die Kapitel deutschsprachiger Autor:innen in ihrem doch stärker rechtsdogmatischen Zugang österreichischen Leser:innen oft leichter erschließen als andere, die zumindest dem Rezensenten weniger konkret und bisweilen sehr abstrakt erscheinen.

Inhaltlich sind die Kapitel in vier große Teile gruppiert: Teil I beschäftigt sich – wie bei englischsprachigen Werken üblich – vorerst einmal mit konzeptionellen Fragen. Gibt es denn eigentlich ein eigenes Rechtsgebiet des kollektiven EU-Arbeitsrechts? Ales kommt zu dem Schluss, dass das der Fall ist, sich die rechtlichen Grundlagen aber an unterschiedlichen Orten des Unionsrechts finden und es sich daher um ein komplexes Geflecht ohne klares Gesamtkonzept handelt. Daraus ergibt sich eine gewisse Anfälligkeit für Disruptionen, wie die bereits erwähnte EPSU-Entscheidung zeigt. Breiter Raum ist in diesem I. Teil auch den relevanten Rechtsquellen außerhalb des Unionsrechts (ILO, EMRK, ESC) und deren Einfluss auf dieses gewidmet. Eigene Kapitel beschäftigen sich mit dem seit den EuGH-Rechtssachen Viking und Laval überaus relevanten Streikrecht (Grzebyk) und dem Kollektivvertrag (Pietrogiovanni).

Teil II behandelt den Sozialen Dialog auf Unionsebene in seinen sehr unterschiedlichen Dimensionen. Hier gibt es ja tatsächlich ein klares genuin unionsrechtliches Konzept, das aber, da es im Wesentlichen nur einen Prozess vorgibt, für die bloß rechtsdogmatischen Betrachtungen aber weniger geeignet ist. Gerade hier zeigt sich, dass bei der Beschäftigung mit dem Unionsarbeitsrecht die in Österreich häufig hochgehaltene Trennung der verschiedenen akademischen Disziplinen ihre Nachteile hat und hier eigentlich nur ein transdisziplinärer Zugang zu neuen Erkenntnissen führt. Im Ergebnis fallen die Analysen der Autor:innen dabei eher weniger positiv aus und es wird durchgängig von einer abnehmenden Bedeutung des Sozialen Dialogs auf EU-Ebene ausgegangen, wenngleich ihm eigentlich großes Potenzial zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen beigemessen wird.

Teil III ist dem Kern des „traditionellen“ kollektiven Arbeitsrechts gewidmet, in concreto der AN-Mitbestimmung und den kollektiven Verhandlungen. Dabei geht es neben den naheliegenden Themen wie Information und Beratung (Brameshuber) und dem Euro-Betriebsrat (Senatori/Rauseo) auch um auf den ersten Blick eher weiter hergeholt wirkende, sich aber stimmig einfügende Fragen, wie den Einfluss von Betriebsübergängen auf Kollektivverträge und AN-Vertretung (Pisarczyk/Wieczorek) oder kollektivarbeitsrechtliche Aspekte des AN-Schutzes (Haas/Kothe). Beim Kapitel zu Kollektivverträgen im öffentlichen Sektor (De Becker) fragt man sich zunächst, worin dabei eigentlich die unionsrechtliche Dimension besteht, wird dann aber gleich eingangs sehr kundig darüber in Kenntnis gesetzt, dass es eine Sozialpartnervereinbarung vom 21.12.2015 ist, die die Information und Konsultation auch für öffentlich Bedienstete vorsieht. Diese hat über die Thematik selbst eine grundlegende Bedeutung erfahren, als diese mangels entsprechendem Antrag der Kommission nicht als Richtlinie erlassen wurde, wenngleich die Sozialpartner dies beantragten. Der Gerichtshof der EU stellte dann in der bereits erwähnten Rs EPSU klar, dass die Kommission dennoch keine Handlungspflicht trifft. Das schwächt die Rolle der Sozialpartner auf Unionsebene – ein Trend, der in dem Buch mehrfach kritisiert wird.

Der abschließende Teil IV umfasst zwei „reflexive“ Kapitel: Das eine behandelt die Entwicklung des 338 kollektiven Arbeitsrechts in der EU (Petrylaité), das andere die Zukunft des kollektiven Arbeitsrechts der EU (Novitz) und inwieweit die kollektive Dimension des Arbeitsrechts zum „menschlichen Antlitz“ (human face) der EU beitragen kann.

Das Werk schließt jedenfalls eine Lücke in der Literatur und arbeitet in umfassender Weise die unterschiedlichen kollektivrechtlichen Aspekte des EU-Arbeitsrechts auf. Es beschreibt diese dabei nicht nur, sondern reflektiert auch über sie und denkt sie gewissermaßen weiter. Damit ist das Buch (oder zumindest einzelne Teile) nicht nur in der Lehre bei Speziallehrveranstaltungen, die das EU-Arbeitsrecht vertiefen, gut einsetzbar, sondern ist zugleich auch für Wissenschafter:innen ein „Research Handbook“, das einen guten Überblick über den aktuellen Stand der Forschung zu den einzelnen Fragen des kollektiven Arbeitsrechts bietet.