Kittner/KlengelDie Entstehung des Kündigungsschutzgesetzes. Eine Nachkriegs-Beziehungs-Geschichte zwischen Staat, Arbeitgebern und Gewerkschaften
Bund-Verlag, Frankfurt am Main 2022, HSI-Schriftenreihe, Bd 44, 411 Seiten, gebunden, € 36,–
Kittner/KlengelDie Entstehung des Kündigungsschutzgesetzes. Eine Nachkriegs-Beziehungs-Geschichte zwischen Staat, Arbeitgebern und Gewerkschaften
Recht verstehen heißt Zusammenhänge verstehen – und diese sind immer auch historische. Wer diffizile Detailfragen einer komplexen Materie sachgerecht und zukunftsorientiert lösen will, muss sich zwingend auch mit der Historie auseinandersetzen! Warum? Weil ohne die regelmäßige Reflexion der Geschichte winzige Entscheidungsmosaiksteinchen allzu leicht summarisch in Richtungen führen können, die man irgendwann später – wiederum in der historischen Retrospektive – als „falsche“ bezeichnen würde. Bücher wie dieses können, was die großräumige Orientierung im Labyrinth von Einzelfragen des arbeitsrechtlichen Alltags betrifft, als „Kompass“ bezeichnet werden. Daher vorab schon so viel: Obwohl Geschichte – ein Buch (auch) für Rechtsanwender!
So viel zum Alltagstauglichen. Wahre Leidenschaft hingegen entbrennt bei der Lektüre, wenn man forschend an sich von der Lust an Historischem getrieben ist. Den Autoren gelingt hier nämlich eine beeindruckende Kombination aus tiefer wissenschaftlicher Durchdringung der Materie und spannender Darstellung, die das Lesen zum Vergnügen macht. Der Zugang zu einer Reihe von Archiven (Auflistung S 409) hat es möglich gemacht, Geheimnisse zu lüften und Überraschungen zu offenbaren. Der Umfang dieser Quellen, die hier den Lesern (zT erstmals) erschlossen werden, wird bei einem Blick auf die Anhänge deutlich: (historische) Gesetzestexte, Entwürfe, Vorentwürfe, Verhandlungsergebnisse und nicht zuletzt sogar der Schriftwechsel Herschel/Nipperdey füllen immerhin die S 251 bis Ende!
Der Beginn ist den unmittelbar auf den Ersten Weltkrieg folgenden Jahren gewidmet und analysiert – vor allem im Kontext mit den zeitgleich in Österreich bestimmenden kollektivrechtlichen Wurzeln des Kündigungsschutzes interessant – den Weg der Individualisierung des deutschen Kündigungsschutzes in einer Zeit, in der aufgrund des geltenden Betriebsverfassungsrechts in 70 % der Betriebe kein BR bestand (S 23). Die Entwicklung zum Arbeitsvertragsgesetz 1923 passiert folgerichtig im engen Konnex mit den Anfängen eines (individuellen) Kündigungsschutzes. Nicht nur das Gesetzeswerk ist Gegenstand der Betrachtung, auch dessen Schöpfer im „Ausschuss für ein einheitliches Arbeitsrecht“ (zB Sinzheimer, Kaskel, Potthoff) (S 28 ff).
Wirklich spannend wird es aber erst in weiterer zeitlicher Abfolge, wenn hier immer wieder die Auseinandersetzung mit der fast schon philosophischen Frage der innigen Vereinigung oder sachlichen Distanz zwischen Wirkenden und Werk angesprochen und auch eingehend erörtert wird. Michael Kittner, der vor allem für diesen Teil verantwortlich zeichnet, analysiert schon im Überblick über die Entwicklung (S 23 ff) die Rolle der Experten – insb Nipperdey und Herschel – bei der Entstehung des KSchG einerseits und in ihrem wechselvollen „Rollenspiel“ im größeren historischen Zusammenhang andererseits (S 32 ff). Wenn hinsichtlich der zwanglosen Metamorphosen in diesem Kontext namentlich Nipperdey als „Chamäleon, das situationsbedingt seine Farben wechselt“
bezeichnet wird, so bezieht sich der Autor hierfür bereits auf ältere Quellen (S 55 FN 146). Beeindruckend zu lesen ist an dieser Stelle, dass offenbar für den bürgerlichen Nipperdey weniger wichtig war, seine NS-Vergangenheit zu verschleiern, als hinsichtlich seiner in diesem Werk nachgewiesenen Tätigkeit im Dienste des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) peinlichste Verschwiegenheit zu wahren (S 58).
Diesem sonderbaren Umgang mit der Geschichte ist wohl auch geschuldet, dass es zur Entwicklung des KSchG so gut wie keine wissenschaftliche Auseinandersetzung gab (übrigens auch nicht in der von Nipperdey 1948 gegründeten Fachzeitschrift „Recht der Arbeit“, S 103 ff). Auch was spätere Publikationen anbelangte, hatte sich Nipperdey zurückgehalten und diese Aufgabe Hueck überlassen (S 128).
Das Herzstück dieses Buches, das Kapitel III (S 41 ff), ist in weitem Umfang der eingehenden Darstellung des Tauziehens zwischen DGB und Wirtschaftsrat gewidmet. Wer sich jemals für wirtschaftliche 340 Mitbestimmung begeistert hat und hier insb auch die Parallelen und Abweichungen in den Entwicklungen zwischen Österreich und Deutschland im Blick hatte, wird sich über die Ausführungen zur Verschränkung des Kündigungsschutzthemas mit der konfliktbeladenen Geschichte der Montan-Mitbestimmung (S 183 ff) freuen.
Von historischer Bedeutung, jedoch für das Verständnis des KSchG hochinteressant, sind die von Ernesto Klengel ausgeführten Hintergründe des Kündigungsschutzrechtes der DDR (S 215). Die Auseinandersetzung mit diesem (naturgemäß) streng kollektivistischen Kündigungsschutz vermag aber nicht nur einen wichtigen Beitrag zum Verständnis des geltenden individualistischen deutschen Kündigungsschutzsystems zu leisten – die Betrachtung der seinerzeitigen „deutschdeutschen“ Gegenpole hilft auch rechtsvergleichend, das österreichische mittlerweile aufgesplittert herangewachsene Systemgemisch besser zu verstehen.
Gelegentlich sagt man, das Beste käme am Schluss. Dieses Prinzip verwirklicht sich hier im Resümee. Nicht nur die Aufdeckungen unter dem Titel „Konzertierte ‚Geschichtsklitterung‘„ (S 229) sind für sich allein schon wert, dieses Buch gründlich zu lesen – vor allem das folgende, weit über die konkrete Thematik hinausreichende Kapitel über den Umgang mit juristischen Experten mit NS-Vergangenheit sollte man sich aus ganz grundsätzlichen Erwägungen zu Gemüte führen. Nur selten liest man nämlich eine derart sachliche und analytische Auseinandersetzung mit der Diskrepanz zwischen der Person des Handelnden einerseits und dessen Werk andererseits. In voller Kenntnis deren unbestrittener NS-Vergangenheit wird am Beispiel der Experten Hueck, Nipperdey, Nikisch, Steinmann und Erdmann hier in beispielgebender Weise vorgeführt, dass es möglich – und ich wage zu behaupten auch wünschenswert – ist, das Werk von Experten (und wohl auch Künstlern, Sportlern oä), unabhängig von deren Gesinnung in bestimmten Phasen ihres Lebens sachlich zu betrachten und zu beurteilen, anstatt ungeprüft summarisch zu verteufeln. Der kritische Blick des Autors offenbart hier Überraschendes: Die handelnden Akteure hatten von einer Phase ihres Lebens zur nächsten offenbar keine Gesinnungsspuren hinter sich hergezogen! Es war ein jeder von ihnen zur jeweiligen Zeit – ohne Rücksicht auf vorher und nachher – getreuer Diener des jeweiligen Herrn (so etwa besonders eindrucksvoll am Beispiel von Hueck 1923, 1934 und 1951, S 239). Kittner verwendet zur Beschreibung dieses Phänomens wunderbar plastische Vokabel, wie beispielsweise „stromlinienförmig“ (S 235) oder „geschmeidig“ (S 240). Auf der Suche nach einer verlässlichen Begründung für diese beeindruckende Wandlungsfähigkeit stößt der Autor auf eine einzige Gemeinsamkeit: Alle genannten Experten waren dem „bürgerlichen Mainstream“ zuzuordnen (S 239).
Summa summarum: In vieler Hinsicht haben mir Kittner und Klengel mit diesem Buch die Augen geöffnet und mich zum Staunen gebracht. In einem Punkt habe ich etwas sehr allgemein Brauchbares dazugelernt: Ich werde in Zukunft mit noch mehr Argwohn betrachten, was mir als „bürgerlicher Mainstream“ serviert wird.