MayerDifferenzierungsklauseln mit Stichtagsregelung im Tarifvertrag
Duncker & Humblot Verlag, Berlin 2022, 411 Seiten, broschiert, € 119,90
MayerDifferenzierungsklauseln mit Stichtagsregelung im Tarifvertrag
Das vorliegende Werk, bei dem es sich um die im Sommersemester 2021 approbierte Dissertation des Autors, Felix Mayer, handelt, widmet sich einer Grundfrage des deutschen Tarifvertragsrechtes: dem Verhältnis zwischen Gewerkschaftsmitgliedern und Außenseitern. Da dem TVG eine umfassende Außenseiterwirkung auf AN-Seite fremd ist, greifen die Arbeitsvertragsparteien vielfach auf ihre privatautonome Gestaltungsmacht zurück, um auch Außenseitern Anspruch auf die tarifvertraglichen Arbeitsbedingungen zu verschaffen (Marhold/Brameshuber/Friedrich, Österreichisches Arbeitsrecht4 [2021] 550). Diese sogenannten „Bezugnahmeklauseln“ mindern naturgemäß den Anreiz, sich für eine Gewerkschaftsmitgliedschaft zu entscheiden und wecken dementsprechend das Bedürfnis der Gewerkschaften, die langwierig ausverhandelten (uU auch erkämpften) tarifvertraglichen Errungenschaften zumindest teilweise ihren Mitgliedern vorzubehalten. Der Streit um die Zulässigkeit von Differenzierungsklauseln im deutschen Tarifvertragsrecht ist freilich alles andere als neu und schien zwischenzeitlich bereits beendet: Der große Senat des BAG erklärte Mitte des letzten Jahrhunderts sämtliche Arten von Differenzierungsklauseln für unzulässig (BAG 29.11.1967, GS 1/67). In einer Vielzahl jüngerer Entscheidungen legt das BAG 343 jedoch einen differenzierteren Maßstab an und unterscheidet zwischen bloß ausnahmsweise unzulässigen schlichten Differenzierungsklauseln (BAG 18.3.2009, 4 AZR 64/08, Rz 47) und generell unzulässigen qualifizierten Differenzierungsklauseln (BAG 23.3.2011, 4 AZR 366/09, Rz 38). Zwar knüpfen beide Arten von Differenzierungsklauseln bestimmte tarifvertragliche Ansprüche an das Bestehen einer Gewerkschaftsmitgliedschaft, im Unterschied zu schlichten Differenzierungsklauseln zielen qualifizierte Differenzierungsklauseln allerdings darauf ab, die Arbeitsvertragsparteien daran zu hindern, Außenseiter den tarifgebundenen AN gleichzustellen.
Im Zentrum der vorliegenden Arbeit steht eine besondere Art einer Differenzierungsklausel: die Kombination einer schlichten Differenzierungsklausel mit einem Stichtag bzw einer Mindestdauer der Gewerkschaftsmitgliedschaft. Der Grund für eine solche Ausgestaltung einer Differenzierungsklausel liegt auf der Hand. Schlichte Differenzierungsklauseln in Tarifverträgen werden nämlich durch die typische Formulierung arbeitsvertraglicher Bezugnahmeklauseln insofern „ausgehebelt“, als sie den Außenseitern im Ergebnis die begehrten tarifvertraglichen Exklusivleistungen verschaffen (S 34). Durch das Abstellen auf die Gewerkschaftsmitgliedschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt oder während eines bestimmten Zeitraumes wird jedoch ein zusätzliches Kriterium zur Anspruchsvoraussetzung erhoben, das durch die bislang gebräuchlichen Bezugnahmeklauseln nicht ausdrücklich erfasst wird (S 77 ff). Das BAG interpretiert diese folglich dahin, dass bloß die Gewerkschaftsmitgliedschaft, nicht aber auch andere Voraussetzungen eines tarifvertraglichen Anspruches substituiert werden (BAG 15.4.2015, 4 AZR 796/13, Rz 53; aA Mayer, der die Notwendigkeit einer Auslegung entsprechend des Parteiwillens betont und zugunsten des AN auf die Zweifelsregel des § 305c Abs 2 BGB verweist [S 297 ff]). Im Ergebnis werden damit neben den „Neumitgliedern“ auch die Außenseiter von tarifvertraglichen Ansprüchen ausgeschlossen. Dementsprechend gelangen Außenseiter nur dann in den Genuss dieser Leistungen, wenn sie entweder der Gewerkschaft beitreten und das „Zeiterfordernis“ erfüllen oder mit ihrem AG eine Vereinbarung treffen, mit der auch das „Zeiterfordernis“ substituiert wird. Vor diesem Hintergrund kritisiert Mayer zu Recht (S 76 ff), dass das BAG das Erfordernis der Gewerkschaftsmitgliedschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt bzw während eines bestimmten Zeitraumes (zumindest terminologisch) nicht als Differenzierungsklausel qualifiziert, sondern dieses in erster Linie unter dem Aspekt der Zulässigkeit einer Binnendifferenzierung zwischen Gewerkschaftsmitgliedern thematisiert (BAG 4 AZR 796/13, Rz 27 und Rz 48). Eine solche verengende Sichtweise birgt nämlich die Gefahr, rechtlich relevante Fragestellungen, welche sich insb im Verhältnis zu den Außenseitern stellen, zu übersehen.
Dieser Gefahr begegnet Mayer in seiner Arbeit und untersucht Differenzierungsklauseln mit Stichtagsregelungen eingehend unter einer Vielzahl rechtlicher Aspekte (insb Koalitionsfreiheit, Arbeitsvertragsfreiheit, Gleichbehandlungsgebot, Tarifvertragsrecht, Betriebsverfassungsrecht, Wettbewerbsrecht). Dabei vertritt er die Auffassung, dass weder eine schlichte Differenzierungsklausel an sich (S 38 f) noch deren Kombination mit einer Stichtagsregelung (S 112 ff, 312 f, 323 f) einen Verstoß gegen die negative Koalitionsfreiheit darstellen: Nicht nur, dass aus der negativen Koalitionsfreiheit kein Anspruch der Außenseiter auf Gleichbehandlung erwachse, vielmehr halte diese die Tarifvertragsparteien auch nicht dazu an, auf die Belange der Außenseiter Rücksicht zu nehmen. Zur Begründung stellt Mayer auf die immanenten Systementscheidungen des deutschen Verfassungsrechtes ab. Eine Rücksichtnahmepflicht würde im Widerspruch zur Aufgabe der Koalitionen stehen, eine „mitgliederorientierte Interessenvertretung“ zu betreiben (S 130 ff), gleichzeitig sei die Gefahr, dass Außenseiter ungünstigeren Arbeitsbedingungen unterliegen, nichts anderes als die Konsequenz der negativen Koalitionsfreiheit als Willensbildungsfreiheit hinsichtlich des Betritts zu einer Gewerkschaft bzw des Fernbleibens von einer Gewerkschaft (S 126 ff). Diese vordergründig bestechende Argumentation erweist sich mE allerdings als überschießend. Zwar ist zuzugestehen, dass nicht jeder Unterschied in Bezug auf die Arbeitsbedingungen von tarifgebundenen AN und Außenseitern einen unzulässigen Beitrittsdruck bewirkt. Der EGMR sieht die zulässige Grenze jedoch überschritten, wenn das Fernbleiben von der Gewerkschaft schwerwiegende Konsequenzen nach sich zieht (EGMR 13.8.1981, 7601/76, 7806/77, Young, James and Webster/United Kingdom, Rz 55: Arbeitsplatzverlust samt Verlust der Existenzgrundlage); EGMR [GK] 11.1.2006, 52562/99, 52620/99, Sørensen and Rasmussen/Denmark, Rz 61: Arbeitsplatzverlust). Trotz der durch den EGMR bislang nur unzureichend geklärten Grenzen der negativen Koalitionsfreiheit (vgl Felten, Koalitionsfreiheit und Arbeitsverfassung [2015] 175 f) dürfte jedenfalls dann, wenn die wirtschaftliche Existenz des Außenseiters bedroht ist, ein Eingriff in den Wesensgehalt dieses Grundrechtes vorliegen (Mair, Dimensionen der Koalitionsfreiheit, ZIAS 2006, 158 [193]; ders, Differenzierungsklauseln in Kollektivverträgen – revisited, in FS Pfeil [2022] 203 [207]). Gegen die Maßgeblichkeit der Vorgaben der EMRK für die negative Koalitionsfreiheit gem Art 9 Grundgesetz (GG) könnte nunmehr zwar eingewendet werden, dass diese in der deutschen Rechtsordnung nicht im Verfassungsrang, sondern lediglich im Rang eines einfachen Bundesgesetzes steht. Allerdings müssen auch die Grundrechte des GG im Lichte der durch die BRD eingegangenen völkerrechtlichen Verpflichtungen interpretiert werden (vgl BVerfG 12.6.2018, 2 BvR 1738/12 ua, Rz 132 ff). Entgegen Mayer erweist sich damit der Unterschied zwischen den Arbeitsbedingungen der tarifgebundenen AN und der Außenseiter für die Zulässigkeit von Differenzierungsklauseln sehr wohl als relevant.
Ungeachtet dieses (zu) großzügigen Maßstabes in Bezug auf die negative Koalitionsfreiheit gelangt Mayer dennoch zu engen Schranken, welche für Differenzierungsklauseln mit Stichtagsregelung gelten sollen. Diese ergeben sich sE insb aus der Ungleichbehandlung zwischen „Altmitgliedern“ und „Neumitgliedern“. Trotz der anfänglichen Kritik an der Fokussierung des BAG auf die Binnendifferenzierung (S 76 ff) stimmt Mayer damit zumindest im Ergebnis mit diesem weitgehend überein. Bemerkenswert ist allerdings, dass Mayer nach ausführlicher Erörterung alle bisherigen Ansätze, die darauf abzielen, den Tarifvertragsinhalt einem Gleichbehandlungsgebot zu unterstellen, verwirft 344 (S 156 ff) und stattdessen ein Willkürverbot aus „den rechtsgeschäftlichen Legitimationserklärungen der Koalitionsmitglieder in ihrer gebündelten Form“
ableitet (S 188 ff). Dieser neuartige Ansatz hätte es jedoch mE erfordert, näher zu beleuchten, weshalb die begrenzte Legitimation nicht bloß verbandsintern wirkt, sondern auch auf den mit dem sozialen Gegenspieler geschlossenen Tarifvertrag durchschlägt (Unwirksamkeitssanktion). Ob die von Mayer konstatierte (entfernte) Verwandtschaft zwischen dem tarifvertraglichen Gleichbehandlungsgebot und dem allgemeinen Gleichheitssatz, die beide Spielarten der ius distributiva seien (S 213 f), auch ein Gleichsetzen der Rechtsfolgen zu tragen vermag (S 227 f), ist zumindest hinterfragenswert. Dessen ungeachtet gelingt es Mayer, die Anforderungen, welche an eine zulässige Binnendifferenzierung zu stellen sind, näher zu konkretisieren: Differenzierungsklauseln mit Stichtag in der Vergangenheit sind aufgrund des legitimen Interesses an kalkulatorischer Sicherheit dann zulässig, wenn lediglich ein beschränktes Verteilungsvolumen (zB bei Betriebsstilllegungen) zur Verfügung stehe (S 230 ff). Demgegenüber sollen Differenzierungsklauseln mit individuellen Wartefristen dem organisationspolitischen Bedürfnis der Gewerkschaften dienen, Kurzmitgliedschaften hintanzuhalten, welche bloß bezwecken, tarifvertragliche Sonderleistungen zu erlangen (S 316 ff). Diese Ausführungen tragen wesentlich zu einer vertieften Durchdringung der durch die Judikatur aufgestellten Vorgaben bei (vgl nur BAG 4 AZR 796/13, Rz 34 ff).
Das vorliegende Werk zeichnet sich dadurch aus, dass es das Verständnis der Koalitionsfreiheit als kollektiv ausgeübte Privatautonomie konsequent auf die aus Differenzierungsklauseln mit Stichtagsregelung resultierenden Fragestellungen anwendet und auf dieser Grundlage zu teils innovativen Lösungsansätzen gelangt. Damit erweist es sich auch für den österreichischen Rechtsanwender als lesenswert: Denn es lädt dazu ein, die tradierte Auffassung, nach der Differenzierungsklauseln stets im Widerspruch zur negativen Koalitionsfreiheit stehen, zu überdenken (so bereits Jabornegg/Resch, Arbeitsrecht5 [2014] Rz 945; Mair in FS Pfeil 206 ff) und uU sogar eine neue Lesart der Außenseiterwirkung des § 12 ArbVG zu erwägen (dazu insb Mair in FS Pfeil 208 ff).