35

Gleichzeitige Inanspruchnahme der Elternkarenz für verschiedene Kinder

FELICIAKAIN (WIEN)
  1. Die Verbote der gleichzeitigen Inanspruchnahme einer Karenz in § 15 Abs 1a MSchG und § 2 Abs 1 VKG können nicht getrennt voneinander betrachtet werden und sind daher gleichlautend auszulegen.

  2. § 15 Abs 1a MSchG ist dahingehend auszulegen, dass sich das Verbot der gleichzeitigen Inanspruchnahme der Karenz auf dasselbe Kind bezieht.

  3. Die gleichzeitige Inanspruchnahme einer Karenz durch beide Elternteile für verschiedene Kinder vernichtet den Anspruch auf einkommensabhängiges Kinderbetreuungsgeld nicht.

[1] Gegenstand des Verfahrens ist der Anspruch der Kl auf (einkommensabhängiges) Kinderbetreuungsgeld für ihre am 1.3.2020 geborene Tochter F* und die daran anschließende Frage, ob gleichgestellte Zeiten iSd § 24 Abs 2 bzw eine gleichgestellte Situation nach Abs 3 KBGG vorliegen, wenn sich sowohl der antragstellende als auch der andere Elternteil in Karenz (einer der Karenz entsprechenden Freistellung zur Erziehung von Kindern) befindet.

[2] Die Kl lebt mit ihrem Ehemann und den gemeinsamen Töchtern M*, geboren am 29.11.2018, F*, geboren am 1.3.2020, und S*, geboren am 10.2.2021, in Deutschland. Sie ist bei der M* GmbH mit Sitz in B* unselbständig beschäftigt; ihr Ehemann ist in Deutschland unselbständig erwerbstätig. Anlässlich der Geburt ihrer Tochter M* traf die Kl mit ihrem AG eine Karenzvereinbarung bis zum 28.11.2020. Ihr Gatte nahm von 24.2.2020 bis 15.7.2020 (für M*) deutsche Elternzeit in Anspruch. Während der Karenz für M* wurde die Kl mit F* schwanger. Sie war noch bis 3.10.2019 in Karenz und ab 4.10.2019 in Mutterschutz; von 4.10.2019 bis 26.4.2020 bezog sie Wochengeld. Aufgrund der Geburt von F* vereinbarte die Kl mit ihrem AG eine Karenz von 27.4.2020 bis 28.2.2022 und beantragte am 27.4.2020 einkommensabhängiges Kinderbetreuungsgeld für die Zeit von 26.4.2020 bis 28.2.2021.

[3] Mit Bescheid vom 21.4.2021 lehnte die bekl Österreichische Gesundheitskasse (ÖGK) den Antrag mit der Begründung ab, dass sich die Kl entgegen §§ 15 Abs 1a, 15a Abs 2 MSchG mehr als einen Monat (zwischen 27.4. und 15.7.2020) gleichzeitig mit ihrem Gatten in Karenz befunden habe. Da eine der Ausübung einer Erwerbstätigkeit gleichgestellte Situation iSd VO (EG) 883/2004 nur vorliege, wenn die Karenz den Bestimmungen des MSchG entspreche, sei Österreich für die Gewährung von Familienleistungen nicht zuständig.

[4] Mit ihrer dagegen gerichteten Klage begehrte die Kl für den Zeitraum von 26.4.2020 bis 28.2.2021 einkommensabhängiges Kinderbetreuungsgeld für F* im gesetzlichen Ausmaß. Zwar sei richtig, dass nach der E des OGH zu10 ObS 81/20i keine gleichgestellte Situation iSd § 24 Abs 3 KBGG iVm VO (EG) 883/2004 gegeben sei, wenn sich die Eltern gleichzeitig in verschiedenen Staaten betreffend dasselbe Kind in Karenz befinden würden. Dieser Fall liege hier jedoch nicht vor, weil ihr Gatte nach der Geburt von M* und sie nach der Geburt von F* Karenz in Anspruch genommen hätten.

[5] Die Bekl hielt dem zusammengefasst entgegen, dass nach § 15 Abs 1a MSchG eine gleichzeitige Karenz beider Elternteile – abgesehen von § 15a Abs 2 MSchG – ausnahmslos unzulässig sei. Die von der Kl angestrebte Einschränkung auf dasselbe Kind lasse sich dem MSchG nicht entnehmen.

[6] Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab.

[7] Das Berufungsgericht gab der (lediglich) gegen die Abweisung des Klagebegehrens für den Zeitraum von 27.4.2020 bis 18.9.2020 erhobenen Berufung der Kl Folge, sprach nach § 89 Abs 2 ASGG aus, dass das Klagebegehren für den gesamten begehrten Zeitraum (von 26.4.2020 bis 28.2.2021) dem Grunde nach zu Recht bestehe und verpflichtete die Bekl, eine vorläufige Zahlung von 20 € täglich an die Kl zu leisten. Für die kollisionsrechtliche Anknüpfung sei § 24 Abs 2 und 3 KBGG maßgeblich. Die Kl habe demnach nur dann Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld, wenn sie gleichgestellte Zeiten in Form der Unterbrechung ihrer vorherigen Erwerbstätigkeit während eines Beschäftigungsverbots oder einer Karenz nach den Bestimmungen des MSchG vorweisen könne. Im Anlassfall sei unstrittig, dass sich die Kl in den letzten 182 Tagen vor der Geburt von F* in Karenz (für M*) und dann in Mutterschutz befunden habe. Fraglich sei nur, ob die Karenzzeiten den Bestimmungen des MSchG entsprochen hätten, zumal nur dann eine Gleichstellungskette vorliege. Dies sei hier zu bejahen, weil § 15 Abs 1a MSchG nicht losgelöst von der korrespondierenden Regelung des § 2 VKG gesehen werden könne, der sich eindeutig auf ein und dasselbe Kind beziehe. Das gelte ebenso für § 15 MSchG, der in gleicher Weise zu interpretieren sei. Dieses Ergebnis decke sich auch damit, dass Karenz für jedes Kind in vollem Ausmaß gebühre und der Karenzanspruch des Vaters von jenem der Mutter unabhängig sei. Der Umstand, dass die Kl und ihr Gatte für unterschiedliche Kinder gleichzeitig Karenz in Anspruch genommen haben, verstoße daher nicht gegen § 15 Abs 1a MSchG. Darauf aufbauend liege die notwendige lückenlose Aneinanderreihung von gleichgestellten Zeiten vor, was zur subsidiären Zuständigkeit Österreichs führe.

[8] Die Revision ließ das Berufungsgericht zu, weil sich der OGH mit der Frage der Zulässigkeit der gleichzeitigen Karenz für unterschiedliche Kinder bislang noch nicht befasst habe.

[9] Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der Bekl, mit der sie die Abweisung der Klage anstrebt. Hilfsweise stellt sie einen Aufhebungsantrag. 306

[10] In ihrer Revisionsbeantwortung beantragt die Kl, die Revision zurückzuweisen, eventualiter ihr keine Folge zu geben.

[11] Die Revision ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig. Aus Anlass der Revision ist eine dem Berufungsgericht unterlaufene Nichtigkeit aufzugreifen. Im Übrigen ist die Revision nicht berechtigt.

I. Zur Nichtigkeit:

[12] Auch im Rechtsmittelverfahren ist das Gericht an den Sachantrag der Partei gebunden (RISJustiz RS0041059; RS0041333). Geht das Berufungsgericht bei seiner Entscheidung über die Berufungsanträge hinaus, verwirklicht das (einen nicht in § 477 ZPO genannten) Nichtigkeitsgrund (RS0041170; RS0107779), der vom OGH aus Anlass einer zulässigen Revision amtswegig aufzugreifen ist (RS0042973 [T3]). Anderes gilt nur, wenn der unangefochten gebliebene Teil bloß scheinbar formell, inhaltlich aber gar nicht selbständig in Rechtskraft erwachsen könnte, sondern in einem untrennbaren Zusammenhang mit der noch überprüfbaren Entscheidung steht. Davon kann aber nicht gesprochen werden, wenn – wie hier – eine quantitative Scheidung des unangefochten gebliebenen und des angefochtenen Teils der Entscheidung möglich ist (RS0007269 [T4]).

[13] Indem das Berufungsgericht dem Klagebegehren zur Gänze (dem Grunde nach) stattgab, überging es, dass die Kl die erstgerichtliche (den Zeitraum von 26.4.2020 bis 28.2.2021 betreffende) Abweisung nur insoweit bekämpft hat, als ihr Kinderbetreuungsgeld für die Zeit von 27.4.2020 bis 18.9.2020 nicht gewährt worden war. Im Umfang des unbekämpft gebliebenen Zeitraums ist das Urteil des Berufungsgerichts daher als nichtig aufzuheben und der in diesem Umfang in Rechtskraft erwachsene Teil des Ersturteils wiederherzustellen.

II. Zur Revision:

[14] In der Revision argumentiert die Bekl, dass der Wortlaut des § 15 Abs 1a MSchG eindeutig sei und für die Interpretation des Berufungsgerichts keinen Raum lasse: Eine gleichzeitige Karenz sei nur im Zuge des erstmaligen Wechsels der Bezugsperson und nur für einen Zeitraum von einem Monat zulässig (§ 15a Abs 2 MSchG), was unstrittig nicht erfüllt sei. Soweit das Berufungsgericht auf § 2 VKG verweise, sei das schon deshalb nicht stichhältig, weil umgekehrt auch § 2 VKG iSd Wortlauts des § 15 MSchG verstanden werden könne. Träfe dagegen die Ansicht des Berufungsgerichts zu, könnten Eltern für mehr als ein Jahr und allenfalls sogar noch länger gleichzeitig Karenz in Anspruch nehmen, was der Intention des § 15 Abs 1a MSchG, nicht beide Elternteile gleichzeitig dem Arbeitsmarkt zu entziehen, zuwiderlaufe. Ab dem Zeitpunkt, ab dem hier die gleichzeitige Karenz die Dauer von einen Monat überschritten habe, sei sie somit nicht mehr subsidiär leistungszuständig. Der Kl stehe (ab 27.4.2020) nur für 35 Tage eine Ausgleichszahlung zu. Da dieser Zeitraum die Mindestbezugsdauer des § 3 Abs 5 KBGG unterschreite, bestehe letztlich kein Anspruch nach dem KBGG.

Dazu ist auszuführen:

[15] 1. Im Verfahren ist unstrittig, dass die Definition des Begriffs „Beschäftigung“ in Art 1 lit a der VO (EG) 883/2004 (indirekt auch die allgemeine Regelung in Art 11 Abs 2 VO [EG] 883/2004) auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist. Maßgeblich für die kollisionsrechtliche Anknüpfung ist demnach die nationale Definition des Begriffs der „Beschäftigung“ sowie des Begriffs der „einer Beschäftigung gleichgestellten Situation“ in § 24 Abs 2 und 3 KBGG (RS0130043 [T9]). Ebenso wenig ziehen die Parteien die darauf aufbauenden Ausführungen des Berufungsgerichts in Zweifel, dass demnach die Zuständigkeit Österreichs nur dann ausgelöst wird, wenn die nationalen Gleichstellungserfordernisse des § 24 Abs 2 KBGG, also die Voraussetzungen und Bedingungen des MSchG (und VKG), eingehalten werden. Da mit § 24 Abs 2 KBGG gleichzeitig die Anspruchsvoraussetzungen für das (einkommensabhängige) Kinderbetreuungsgeld festgelegt werden (vgl RS0130043), bedarf es im Anlassfall daher einer lückenlosen Aneinanderreihung von den nationalen Vorschriften entsprechenden Zeiten der Beschäftigung (einschließlich Mutterschutz- und Karenzzeiten), um zum einen die Leistungszuständigkeit Österreichs zu begründen und zum anderen die Voraussetzungen für den Bezug von Kinderbetreuungsgeld zu erfüllen (10 ObS 81/20i SSV-NF 34/54).

[16] 2. Der Bekl ist zuzustimmen, dass nach § 15 Abs 1a MSchG iVm § 15a Abs 2 MSchG sowie § 2 VKG die gleichzeitige Inanspruchnahme von Karenz durch beide Elternteile für länger als einen Monat nicht zulässig ist (10 ObS 115/16h; 10 ObS 148/14h SSV-NF 29/59; Wolfsgruber-Ecker in Neumayr/Reissner, ZellKomm3 § 2 VKG Rz 6; Bauer in Burger-Ehrnhofer/Schrittwieser/Bauer, MSchG und VKG3 § 15 MSchG Rz 33). Ihr ist auch darin zu folgen, dass § 15 Abs 1a MSchG isoliert betrachtet nur auf eine gleichzeitige Inanspruchnahme „von Karenz“ abstellt, ohne klarzustellen, ob damit die Karenz für dasselbe oder auch für verschiedene Kinder gemeint ist. Der (äußerste) Wortsinn der Bestimmung lässt die Auslegung der Bekl zwar zu. Sowohl eine systematische Betrachtung als auch ein Blick auf die historische Entwicklung der Bestimmung(en) sprechen jedoch dagegen:

[17] 2.1. Wie schon das Berufungsgericht ausgeführt hat, ist die Parallelbestimmung des § 2 Abs 1 VKG eindeutig: In dessen erstem Halbsatz ist davon die Rede, dass dem AN auf sein Verlangen für „sein Kind“ Karenz zu gewähren ist, sofern er mit „dem Kind“ im gemeinsamen Haushalt lebt. Wenn im folgenden (zweiten) Halbsatz sodann eine gleichzeitige Inanspruchnahme „von Karenz“ durch beide Elternteile ausgeschlossen wird, ist klar, dass damit die unmittelbar zuvor angesprochene Karenz für dieses – und nicht für ein anderes – Kind gemeint ist (Ercher/Stech in Ercher/Stech/Langer, MSchG und VKG § 2 VKG Rz 13).

[18] 2.2. Das Berufungsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass die Regelung des § 15 Abs 1a MSchG nicht unabhängig von § 2 Abs 1 VKG betrachtet werden kann.

[19] 2.2.1. Denn Fragen einer gleichzeitigen Karenz beider Eltern stellten sich erst mit der Möglichkeit 307 einer Väterkarenz. Konsequenterweise erfolgte die entsprechende Regelung ursprünglich daher im VKG und nicht im MSchG. In der Stammfassung des VKG (BGBl 1989/651) hatten Väter nur dann und soweit Anspruch auf Karenz, wenn der Mutter ein solcher Anspruch zukam (§ 2 Abs 1 Z 1 VKG) und die Mutter diesen nicht in Anspruch nahm (§ 2 Abs 1 letzter Satz VKG). Konsequenz des Umstands, dass der (von der Mutter bloß abgeleitete) Anspruch des Vaters nur für jene Zeiträume bestand, für die die Mutter darauf verzichtet hatte, war die Unmöglichkeit einer gleichzeitigen Inanspruchnahme der Karenz durch beide Eltern. Da sich die Eltern die Karenzzeit (der Mutter) nur untereinander aufteilten, musste sich die Karenz auch (zwingend) auf dasselbe Kind beziehen (so auch die Erläuterungen zum IA 298/A 17. GP 53). [20] 2.2.2. Der letzte Satz des § 2 Abs 1 VKG (idF BGBl 1989/651) wurde zwar mit der Novelle BGBl I 1999/153 gestrichen, unter einem aber in § 2 Abs 1 Z 1 VKG klargestellt, dass die Eltern nicht gleichzeitig Karenz in Anspruch nehmen können. Mit der Novellierung sollte (bloß) den Vorgaben der (damals in Geltung stehenden) RL 96/34/EG Rechnung getragen und (anstatt des nur abgeleiteten) ein eigenständiger Anspruch des Vaters geschaffen werden. Weiterhin sollte der Vater – abgesehen vom Überlappungszeitraum gem § 15a Abs 2 MSchG – aber keine Karenz für Zeiten in Anspruch nehmen können, für die schon die Mutter Karenz in Anspruch nahm (ErläutRV 1768 BlgNR 20. GP 23). Daran, dass die Karenz für dasselbe Kind bloß aufgeteilt und die (aufgeteilten) Zeiten nicht gleichzeitig konsumiert werden konnten, änderte sich nichts.

[21] 2.2.3. Der nunmehrige § 15 Abs 1a MSchG (eingefügt durch die Novelle BGBl I 2004/123) als auch der zweite Halbsatz des § 2 Abs 1 VKG (geändert mit der Novelle BGBl I 2004/124) gehen auf Initiativanträge aus Anlass der Regierungsvorlage zur Änderung der als Bundesgesetz geltenden Verordnung über den Schutz des Lebens und der Gesundheit der AN bei Arbeiten in Druckluft sowie bei Taucherarbeiten und des MSchG 1979 (BlgNR 504 22. GP) zurück. In den Materialien (Berichte des Gesundheitsausschusses BlgNR 632 und 633 22. GP) wird dazu jeweils ausgeführt, dass Anlass der Änderungen ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Österreich war, weil die Europäische Kommission (trotz der Änderungen durch die Novelle BGBl I 1999/153) das Bestehen eines individuellen, nicht hinter das Recht der Mutter zurücktretenden Anspruchs des Vaters auf Karenz bezweifelte. Durch § 15 Abs 1a MSchG sollte daher nur der – nach dem Standpunkt Österreichs – ohnehin bereits geltende Grundsatz der nicht gleichzeitigen Inanspruchnahme der Karenz durch beide Eltern auch in § 15 MSchG ausdrücklich normiert und somit eine inhaltliche Angleichung von § 2 VKG und § 15 MSchG vorgenommen werden. Mit der Änderung des § 2 Abs 1 VKG sollte erklärtermaßen nur die sprachliche Angleichung an den neuen § 15 Abs 1a MSchG erfolgen. Inhaltlich sollte die bisherige Rechtslage ausdrücklich nicht geändert werden.

[22] 2.2.4. Aus der Genese der Bestimmungen und aus den Gesetzesmaterialien ergibt sich somit kein Anhaltspunkt für die Annahme, dass die ursprüngliche, auf die Karenz für dasselbe Kind abzielende Regelung auf die gleichzeitige Karenz für verschiedene Kinder ausgeweitet werden sollte. Angesichts dessen sind die Ausführungen des Berufungsgerichts zutreffend, dass sich § 15 Abs 1a MSchG ebenso wie § 2 Abs 1 VKG nur auf die Karenz für dasselbe Kind bezieht.

[23] 2.3. Die Argumentation der Bekl würde im – durchaus realistischen – Fall von getrennt lebenden Eltern, die jeweils dazu führen, ein Kind im eigenen Haushalt betreuen, dazu führen, dass nur für ein Kind Karenz in Anspruch genommen werden könnte und das andere unbetreut bliebe. Dies würde nicht der Intention des § 15 MSchG bzw § 2 VKG entsprechen, primär die persönliche Betreuung des Kindes zu gewährleisten (vgl dazu Ercher/Stech in Ercher/Stech/Langer, MSchG und VKG § 15 MSchG Rz 6 und § 2 VKG Rz 6).

[24] 3. Als Ergebnis folgt daher: § 15 Abs 1a MSchG ist dahin auszulegen, dass er nur die gleichzeitige Inanspruchnahme von Karenz für dasselbe Kind erfasst.

[25] 4. Die darauf aufbauende Ansicht des Berufungsgerichts, Österreich sei nach Art 68 Abs 1 lit b sublit i VO (EG) 883/2004 subsidiär zur Erbringung von Familienleistungen zuständig, wird ebenso wenig bestritten wie das Vorliegen der weiteren Voraussetzungen des § 24 Abs 1 KBGG. [...]

ANMERKUNG
1.
Einführung

Ausgangspunkt war der Anspruch einer Mutter auf einkommensabhängiges Kinderbetreuungsgeld (KBG) für das zweite ihrer drei Kinder. Sie ging in Österreich einer unselbstständigen Beschäftigung nach, während der Vater in Deutschland unselbstständig beschäftigt war. Die Familie wohnte gemeinsam in Deutschland. Während die Mutter in Österreich für das zweite Kind in Elternkarenz war, nahm der Vater gleichzeitig für das erste Kind deutsche Elternzeit in Anspruch. Die ÖGK vertrat nun den Standpunkt, dass die gleichzeitige Inanspruchnahme von Karenz den Vorgaben des § 15 Abs 1a MSchG nicht entspräche. Damit liege keine gleichgestellte Situation iSd § 24 Abs 2 bzw 3 KBGG und daher auch keine koordinierungsrechtliche Zuständigkeit Österreichs vor. In weiterer Folge bestünde der Anspruch auf KBG nicht (OGH 18.10.2022, 10 ObS 61/22a).

Kernfrage des gegenständlichen Judikats war demnach die Auslegung des § 15 Abs 1a MSchG. Bevor auf diese eingegangen wird, erfolgt eine Darstellung der Erwerbstätigkeit und der ihr gleichgestellten Situationen iSd § 24 Abs 2 und 3 KBGG. Wenngleich nicht verfahrensentscheidend in dieser Rechtssache, erscheint eine genauere Betrachtung dieser Regelungen im Hinblick auf zukünftige Verfahren sinnvoll. 308

2.
Erwerbstätigkeit und ihr gleichgestellte Situationen iSd § 24 Abs 2 und 3 KBGG
2.1.
Einführung

§ 24 KBGG hat Auswirkungen auf zweierlei Ebenen: der Leistungs- und der Zuständigkeitsebene. Was damit gemeint ist, wird nun erklärt. Anspruch auf einkommensabhängiges KBG besteht nur, insofern der jeweilige Elternteil vor der Geburt eine gewisse Zeit erwerbstätig war. § 24 Abs 2 KBGG enthält eine Definition der Erwerbstätigkeit sowie eine Aufzählung von Situationen, die einer solchen gleichgestellt sind. Ausdrücklich genannt wird ua die Karenz iSd MSchG bzw des VKG. Von der Erfüllung der Definition hängt also ab, ob ein Anspruch auf KBG besteht (Leistungsebene).

Auf Ebene der VO 883/2004 (Koordinierungs-VO) hat die Definition jedoch noch weitere Auswirkungen. Gem Art 11 Abs 3 lit a VO 883/2004 ist iSd Beschäftigungslandprinzips jener Staat für die Gewährung von Leistungen der sozialen Sicherheit zuständig, in dem einer Erwerbstätigkeit nachgegangen wird. Art 1 lit a und b VO 883/2004 verweisen bei der unionsrechtlichen Definition der Beschäftigung oder der selbstständigen Erwerbstätigkeit auf das nationale Recht. Gem der Rsp des OGH gilt die Definition des § 24 Abs 2 KBGG – zumindest hinsichtlich des KBG – auch für die Bestimmung der koordinierungsrechtlichen Zuständigkeit (OGH 24.3.2015, 10 ObS 117/14z; vgl auch Faber, Kinderbetreuungsgeld und Familienzeitbonus – Ausgewählte Fragen des gemeinsamen Haushalts, der Ausübung einer Erwerbstätigkeit und der Koordinierung von Familienleistungen, DRdA 2022, 18 [26]). Überdies legt § 24 Abs 3 KBGG fest, dass die Definition des Abs 2 auch für die Erwerbstätigkeit iSd Art 68 Abs 1 lit a VO 883/2004 gilt, in welchem es um die Einteilung in primär und nachrangig zuständig geht (Zuständigkeitsebene).

An dieser Stelle sei angemerkt, dass es durchaus problematisch ist, aus der Definition des § 24 Abs 2 und 3 KBGG die koordinierungsrechtliche Zuständigkeit abzuleiten. Diese müsste dann nämlich iSd Art 11 Abs 1 VO 883/2004 nicht nur für das KBG oder Familienleistungen, sondern für sämtliche Zweige der sozialen Sicherheit iSd Art 3 VO 883/2004 gelten (siehe weiterführend Kain, Die Koordinierung von Familienleistungen [2023] 76 f). Auf diese Problematik wird an dieser Stelle nicht weiter eingegangen.

2.2.
Unionsrechtliche Vorgaben auf Zuständigkeitsebene

Obwohl die Koordinierungs-VO, wie bereits erwähnt, beim Begriff der Beschäftigung und selbstständigen Erwerbstätigkeit auf das nationale Verständnis verweist, sind dem nationalen Gesetzgeber Grenzen gesetzt. Der OGH entschied mit überzeugenden Argumenten, dass es trotz dieses Verweises einen harten, unionsrechtlichen Kern des Begriffsverständnisses gäbe, von welchem der nationale Gesetzgeber im Anwendungsbereich der Koordinierungs-VO nicht abweichen dürfe (OGH 24.3.2015, 10 ObS 117/14z). Er tendiert daher zu einer großzügigen Auslegung des § 24 Abs 2 KBGG. Was genau in diesen harten Kern fällt, ist bis dato nicht abschließend geklärt. Jedenfalls erfasst werden die Fälle des Art 11 Abs 2 VO 883/2004 sowie im Anwendungsbereich des Art 68 VO 883/2004 überdies jene im Beschluss Nr F1 der Verwaltungskommission (ausführlich dazu Kain, Die Koordinierung von Familienleistungen 96 ff). In weiterer Folge stellt sich die Frage, ob § 24 Abs 2 und 3 KBGG mit diesen Vorgaben im Einklang stehen.

2.3.
Unionsrechtswidrigkeit

Der überwiegende Teil der Literatur ortet in § 24 Abs 2 und 3 KBGG eine Unionsrechtswidrigkeit. Die Unionsrechtswidrigkeit ergibt sich aus der Berührung des harten, unionsrechtlichen Kerns durch die nationale Definition. Man ist sich jedoch uneinig, ob eine unionsrechtskonforme Interpretation möglich ist oder nicht (Burger-Ehrnhofer, Kinderbetreuungsgeldgesetz und Familienzeitbonus3 [2017] § 24 KBGG Rn 17; Faber, DRdA 2022, 26 f; Felten in Spiegel [Hrsg], Zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht7 Art 68 VO 883/2004 Rn 6/1; Juhasz, Für eine kollisionsrechtliche Anknüpfung ist die nationale Definition der Erwerbstätigkeit maßgeblich, DRdA 2021, 250 [254]; Kovács, Die Koordinierung von Familienleistungen – Die Vereinbarkeit ausgewählter Vorschriften mit dem Unionsrecht, ZAS 2022, 59 [66]; Kunz, § 24 Abs 2 KBGG und Beschäftigung iSd VO [EG] 883/2004, DRdA 2016, 37 [40 f]; Sonntag, Unions-, verfassungs- und verfahrensrechtliche Probleme der KBGG-Novelle 2016 und des Familienzeitbonusgesetzes, ASoK 2017, 2 [7]).

§ 24 Abs 2 KBGG kann wohl unionsrechtskonform interpretiert werden, indem die enthaltene Aufzählung als demonstrative Aufzählung verstanden wird, welche durch den harten, unionsrechtlichen Kern ergänzt wird (vgl Felten in Spiegel, Art 68 VO 883/2004 Rn 6/1; aA Kovács, ZAS 2022, 59 [66]). Eine unionsrechtskonforme Interpretation des § 24 Abs 3 KBGG ist hingegen nicht möglich. Dieser determiniert ausdrücklich, dass eine gleichgestellte Situation „nur“ in den in § 24 Abs 2 KBGG genannten Fällen vorliegt. Der Wortlaut lässt daher keinen Spielraum für die Annahme einer demonstrativen Aufzählung. Folglich muss § 24 Abs 3 KBGG gegebenenfalls unangewendet bleiben.

3.
Gleichzeitige Inanspruchnahme der Karenz
3.1.
Auslegung des § 15 Abs 1a MSchG

§ 15 Abs 1a MSchG verbietet die gleichzeitige Inanspruchnahme „von Karenz“ durch beide Elternteile. Die einzige Ausnahme ist § 15a Abs 2 MSchG, welche hier unstrittig nicht einschlägig ist. Die entsprechenden Bestimmungen für Väter sind § 2 Abs 1 und § 3 Abs 2 VKG. Die Kl war der Meinung, 309 dass sich § 15 Abs 1a MSchG auf die gleichzeitige Inanspruchnahme der Karenz für dasselbe Kind beziehe und nicht auch, wie von der bekl ÖGK behauptet, auf die gleichzeitige Inanspruchnahme für verschiedene Kinder.

Der OGH führte zunächst aus, dass das Verständnis der Bekl vom Wortlaut gedeckt sei, weil § 15a Abs 2 MSchG nur auf „Karenz“ abstelle. Dies trifft zu, genauere Spezifikationen ergeben sich aus § 15 MSchG nicht. Aus systematischer sowie historischer Perspektive betrachtet, könne sich diese Bestimmung jedoch bloß auf die Karenz für dasselbe Kind beziehen. Die Parallelbestimmung des § 2 Abs 1 S 1 VKG spreche nämlich von „sein Kind“ und „dem Kind“. Das Wort „Karenz“ in § 2 Abs 1 S 2 VKG stelle daher klar auf die gleichzeitige Inanspruchnahme für dasselbe Kind ab. Aus systematischen Gründen müsse § 15 Abs 1a MSchG gleichlautend ausgelegt werden. Auch die Genese dieser Bestimmungen, welche der OGH ausführlich dargestellt hat, stütze dieses Ergebnis. Es fänden sich keinerlei Anhaltspunkte für die Ausweitung des Verbots der gleichzeitigen Inanspruchnahme der Karenz auf mehrere Kinder (OGH 18.10.2022, 10 ObS 61/22a). Diese Ausführungen überzeugen in der Begründung und im Ergebnis. § 15 MSchG kann nicht getrennt von § 2 VKG betrachtet werden. Erst wenn beide Eltern einen Anspruch auf Karenz haben, wird § 15 Abs 1a MSchG (bzw § 2 Abs 1 S 2 VKG) schlagend. Folglich müssen auch beide Bestimmungen gleich ausgelegt werden. Eine Ausweitung auf mehrere Kinder würde laut OGH im Falle von getrennt lebenden Eltern, wobei jeder Elternteil ein Kind betreut, zur Situation führen, dass ein Kind unbetreut bleiben würde (OGH 18.10.2022, 10 ObS 61/22a). Dies entspricht wohl kaum dem Zweck der gegenständlichen Bestimmungen.

Im Ergebnis sind sowohl § 15 Abs 1a MSchG als auch § 2 Abs 1 VKG so zu verstehen, dass sie die gleichzeitige Inanspruchnahme einer Karenz für dasselbe Kind verbieten, nicht jedoch die gleichzeitige Inanspruchnahme für verschiedene Kinder.

3.2.
Rechtsfolgen

Im Ergebnis ist die Karenz der Mutter vom MSchG gedeckt, die rechtmäßige Inanspruchnahme der Karenz iSd MSchG ist eine gleichgestellte Situation iSd § 24 Abs 2 KBGG. Der Umstand, dass sich die Kl in einer der Erwerbstätigkeit gleichgestellten Situation befindet, führt zur koordinierungsrechtlichen Zuständigkeit Österreichs, während für den Vater Deutschland zuständig ist (Zuständigkeitsebene).

Dass die Karenz der Mutter vom MSchG gedeckt ist, hat überdies Auswirkungen auf ihren Anspruch auf einkommensabhängiges KBG. Weil sie sich in einer der Erwerbstätigkeit gleichgestellten Situation befindet, erfüllt sie alle Voraussetzungen für den Bezug des KBG (Leistungsebene).

In weiterer Folge treffen die Zuständigkeiten zweier Staaten aufeinander und Art 68 VO 883/2004 wird schlagend, insofern auch in beiden Staaten gleichartige Leistungen gebühren. Art 68 Abs 1 lit b sublit i VO 883/2004 erklärt in diesem Fall den Wohnortstaat der Kinder als primär und den anderen Staat – in diesem Fall Österreich – als nachrangig zuständig (so auch der OGH 18.10.2022, 10 ObS 61/22a). Österreich könnte daher seine Leistung in Höhe einer potentiell bestehenden gleichartigen, deutschen Leistung aussetzen und gegebenenfalls bloß einen Unterschiedsbetrag zahlen.

4.
Fazit

Verfahrensgegenständlich waren – wie in den letzten Jahren so oft – die Anspruchsvoraussetzungen des einkommensabhängigen KBG. Die Kernfrage im gegenständlichen Fall bezog sich jedoch als Vorfrage auf die Auslegung des § 15 Abs 1a MSchG. Der OGH sprach mit überzeugenden Argumenten aus, dass sich das Verbot der gleichzeitigen Inanspruchnahme der Karenz durch beide Elternteile auf dasselbe Kind und nicht auch auf verschiedene Kinder bezieht. Die somit rechtmäßige Inanspruchnahme der Karenz iSd MSchG stellt in weiterer Folge eine der Erwerbstätigkeit gleichgestellte Situation iSd § 24 Abs 2 KBGG dar. Einerseits wird dadurch iSd Art 11 Abs 3 lit a und im Falle des Aufeinandertreffens von gleichartigen Leistungen auch iSd Art 68 Abs 1 lit b sublit i VO 883/2004 die (nachrangige) Zuständigkeit Österreichs begründet. Andererseits sind sämtliche Anspruchsvoraussetzungen für den Bezug des einkommensabhängigen KBG gegeben. Obgleich im gegenständlichen Fall nicht verfahrensentscheidend, ist zu beachten, dass § 24 Abs 2 KBGG erforderlichenfalls durch unionsrechtskonforme Interpretation zu erweitern ist und § 24 Abs 3 KBGG gegebenenfalls unangewendet bleiben muss. 310