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Rückwirkende Herstellung des gesetzlichen Zustandes nach § 101 ASVG kommt auch für Wiederholungsbescheide in Frage

SOPHIAMARCIAN-EROGLU

Es ist davon auszugehen, dass generell auch bei Feststellungsbescheiden der Anwendungsbereich des § 101 ASVG eröffnet ist.

Es erschiene nämlich sachlich nicht gerechtfertigt, eine Feststellung, mit der bindend über eine unmittelbare Voraussetzung für eine Geldleistung abgesprochen wird, anders zu behandeln als einen Bescheid über den Leistungsanspruch selbst.

Sachverhalt

Der Versicherte erlitt am 15.8.2011 einen Arbeitsunfall. Die zuständige Unfallversicherungsanstalt erkannte diesen mit Bescheid vom 21.8.2012 an und stellte fest, dass sich der Versicherte eine Zerrung an der Halswirbelsäule zugezogen hatte, jedoch kein Anspruch auf Versehrtenrente bestehe und die aktuell bestehenden Beschwerden des Versicherten in keinem ursächlichen Zusammenhang mit dem anerkannten Unfall vom 15.8.2011 stünden. Die Klage gegen diesen Bescheid zog der Kl letztlich mangels Erfolgsaussichten zurück.

Die Bekl erließ daher am 5.3.2014 einen Wiederholungsbescheid und stellte neuerlich fest, dass der Unfall vom 15.8.2011 ein Arbeitsunfall sei, sich der Versicherte dabei eine Zerrung der Halswirbelsäule zugezogen habe, die aktuellen Beschwerden jedoch nicht in einem ursächlichen Zusammenhang mit dem Unfall stünden. Über den Anspruch auf Versehrtenrente wurde jedoch nicht noch einmal abgesprochen.

Der Versicherte begehrte im Jahr 2016 neuerlich Versehrtenrente, da sich aufgrund des anerkannten Arbeitsunfalles eine Dystonie, eine unwillkürliche Muskelverkrampfung, bei ihm entwickelt hätte. Die Versicherungsanstalt lehnte bescheidmäßig den Antrag ab, weil keine wesentliche Änderung eingetreten sei. Der Versicherte erhob Klage gegen den Be248scheid, welche in erster und zweiter Instanz abgewiesen wurde.

Der OGH lehnte die außerordentliche Revision mit der Begründung ab, die vom Revisionswerber ins Treffen geführte Dystonie könne keiner Neubeurteilung der Kausalität mit dem Arbeitsunfall unterzogen werden, da die Rechtskraft des Wiederholungsbescheides vom 5.3.2014 entgegenstehe.

Im Jahr 2020 begehrte der Versicherte gem § 101 ASVG die „Wiederaufnahme“ des Verfahrens (Anm: Rückwirkende Herstellung des gesetzlichen Zustandes bei Geldleistungen) betreffend Versehrtenrente, begründet damit, dass zum Zeitpunkt der Abweisung des Antrags aus dem Jahr 2016 ein Gutachten noch nicht vorgelegen sei, wonach sich ergebe, dass die ihm unterstellte Simulation und Aggravation der Dystonie eine unrichtige Beurteilung sei.

Die Allgemeine Unfallversicherungsanstalt (AUVA) lehnte die begehrte Wiederaufnahme mit Bescheid vom 10.11.2021 ab und begründete ihre Entscheidung damit, dass kein wesentlicher Irrtum über den Sachverhalt oder ein offenkundiges Versehen vorgelegen seien und eine Wiederaufnahme nach § 101 ASVG keine Möglichkeit biete, eine Fehleinschätzung im Tatsachenbereich, insb in Bezug auf die Beweiswürdigung, neuerlich aufzurollen.

Verfahren und Entscheidung

Gegen die ablehnende Entscheidung der Unfallversicherungsanstalt betreffend eine Wiederaufnahme gem § 101 ASVG erhob der Versicherte eine Beschwerde an das BVwG.

Das BVwG wies die Beschwerde im Hinblick auf den (Wiederholungs-)Bescheid der Unfallversicherungsanstalt vom 5.3.2014 ab. Das Gericht begründete die Abweisung damit, dass die AUVA gem § 72 Z 2 lit c ASGG aufgrund der Klagsrückziehung verpflichtet gewesen sei, einen Wiederholungsbescheid zu erlassen und den Antrag nicht neuerlich zu prüfen. Vor diesem Hintergrund habe sie die Geldleistung nicht in Folge eines wesentlichen Irrtums über den Sachverhalt oder eines offenkundigen Versehens iSd § 101 ASVG abgelehnt.

Das BVwG sprach aus, dass die ordentliche Revision nicht zulässig sei.

Der VwGH sah die außerordentliche Revision als zulässig und auch berechtigt an und hob das Erkenntnis des BVwG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts auf.

Originalzitate aus der Entscheidung

„Was den Bescheid vom 21. August 2012 betrifft, so ist er durch die rechtzeitig erhobene Klage des Revisionswerbers ebenfalls gemäß § 71 Abs. 1 ASGG außer Kraft getreten. Mit Zurückziehung der Klage trat der Bescheid nicht wieder in Kraft. Vielmehr war von der AUVA gemäß § 72 Z 2 lit. c ASGG ein neuer Bescheid zu erlassen.

In einem Fall (u.a.) wie dem vorliegenden, in dem mit dem außer Kraft getretenen Bescheid die Zuerkennung einer Leistung abgelehnt, zugleich aber spruchgemäß die Feststellung getroffen wurde, dass eine tatsächlich eingetretene Gesundheitsstörung Folge eines Arbeitsunfalls sei, ist nach dem zweiten Halbsatz des § 72 Z 2 lit. c ASGG ein Bescheid zu erlassen, „der dem durch die Klage außer Kraft getretenen Bescheid entspricht“, also eben diese Feststellung zu wiederholen; es ist aber – im Hinblick auf die Fiktion der Zurückziehung des verfahrenseinleitenden Antrags nach § 72 Z 2 lit. b ASGG – unzulässig, neuerlich (negativ) über den Anspruch auf Versehrtenrente abzusprechen (vgl. dazu OGH 1.3.2011, 10 ObS 10/11k).

Der Wiederholungsbescheid der AUVA vom 5. März 2014 entsprach diesen Vorgaben. Eine neuerliche Prüfung des Antrags war der AUVA bei der Erlassung des Wiederholungsbescheides verwehrt. Daraus folgt aber – entgegen der Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts – nicht schon, dass in einem solchen Fall § 101 ASVG nicht bzw nur dann zur Anwendung kommen kann, wenn der Wiederholungsbescheid (auf Grund eines offenkundigen Versehens) nicht die Anforderungen des § 72 Z 2 lit. c ASGG erfüllt. Das würde nämlich bedeuten, dass letztlich der durch den Wiederholungsbescheid übernommene spruchgemäße Inhalt des Ausgangsbescheides gegen eine Herstellung des gesetzmäßigen Zustands nach § 101 ASVG immunisiert wäre, auch wenn dem Versicherungsträger bei der Erlassung dieses Bescheides im Sinne der genannten Bestimmung ein wesentlicher Irrtum über den Sachverhalt oder ein offenkundiges Versehen unterlaufen ist. Warum das aber in Fällen der Erhebung und nachfolgenden Zurückziehung einer Klage – anders als in Fällen, in denen aus welchen Gründen auch immer von vornherein keine Klage erhoben wird – in Kauf zu nehmen wäre und die in § 101 ASVG zugunsten der Versicherten vorgesehene Herstellung des den wirklichen Verhältnissen entsprechenden Zustands nicht ermöglicht werden sollte, ist nicht zu erkennen (vgl. zum mit Blick auf den öffentlich-rechtlichen Charakter der Versicherungsleistung zu sehenden Zweck der Regelung etwa VwGH 17.11.1999, 99/08/0110). Einer solchen – nach dem Wortlaut des § 101 ASVG jedenfalls nicht gebotenen – Differenzierung würde somit auch die sachliche Rechtfertigung fehlen.

Ein Anwendungsfall des § 101 ASVG ist daher auch dann anzunehmen, wenn dessen Voraussetzungen in Bezug auf den infolge der Klage außer Kraft getretenen Bescheid, soweit er den Inhalt des Wiederholungsbescheides bildet, zutreffen, wenn also dem Versicherungsträger bei der Erlassung dieses Aus249gangsbescheides ein – durch die inhaltliche Übernahme auf den Wiederholungsbescheid durchschlagender – wesentlicher Irrtum über den Sachverhalt oder ein offenkundiges Versehen unterlaufen ist und dadurch eine Geldleistung zu Unrecht abgelehnt, entzogen, eingestellt, zu niedrig bemessen oder zum Ruhen gebracht wurde (so im Ergebnis auch Fink, Die sukzessive Zuständigkeit im Verfahren in Sozialrechtssachen [1995] 612).

Dabei schadet es auch nicht, wenn der Wiederholungsbescheid wie hier – entsprechend den Vorgaben des § 72 Z 2 lit. b und lit. c zweiter Halbsatz ASGG – keinen Abspruch über eine Leistung enthält. § 101 ASVG ist zwar nach seinem Wortlaut und seiner systematischen Stellung (Abschnitt VI Leistungsansprüche) nur in Leistungssachen und nicht in Feststellungssachen anwendbar (vgl. VwGH 23.2.2005, 2002/08/0186). Es ist aber davon auszugehen, dass generell auch bei Feststellungsbescheiden, die (gemäß § 367 Abs. 1 ASVG) darüber absprechen, ob eine Gesundheitsstörung Folge eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit ist, der Anwendungsbereich des § 101 ASVG eröffnet ist. Es erschiene nämlich sachlich nicht gerechtfertigt, eine Feststellung, mit der bindend über eine unmittelbare Voraussetzung für eine Geldleistung abgesprochen wird, anders zu behandeln als einen Bescheid über den Leistungsanspruch selbst (vgl. in diesem Sinn Fink, Die sukzessive Zuständigkeit im Verfahren in Sozialrechtssachen [1995] 607 f; im Ergebnis auchFellinger in SV-Komm § 101 ASVG Rz 3).

Der Revisionswerber hat im vorliegenden Verfahren Umstände behauptet, die einen (bei der Erlassung des Bescheides vom 21. August 2012 unterlaufenen) Irrtum über den Sachverhalt im Sinn des § 101 ASVG darstellen könnten. Ein solcher Irrtum kann nämlich auch in einer unrichtigen Befundaufnahme durch einen Sachverständigen – etwa dem Übersehen eines konkreten Leidenszustandes – liegen (vgl. VwGH 29.8.2022, Ra 2021/08/0126, mwN, insbesondere – zu den näheren Voraussetzungen – VwGH 27.7.2001, 2001/08/0040).

Das Bundesverwaltungsgericht hat sich aber – ausgehend von seiner falschen Rechtsansicht, wonach ein im Zuge der Erlassung des außer Kraft getretenen Ausgangsbescheides unterlaufener Fehler bei der Anwendung des § 101 ASVG auf den Wiederholungsbescheid keine Rolle mehr spielt – mit dem entsprechenden Vorbringen des Revisionswerbers überhaupt nicht auseinandergesetzt und auch nicht die in der Beschwerde beantragte mündliche Verhandlung durchgeführt.“

Erläuterung

Der VwGH folgte der Rechtsansicht des BVwG nicht, wonach die rückwirkende Herstellung des gesetzlichen Zustandes gem § 101 ASVG nur auf Bescheide in Leistungssachen anzuwenden sei. Das BVwG orientierte sich in der Auslegung des Anwendungsbereichs einer Wiederaufnahme nach § 101 ASVG stark am Wortlaut des Gesetzes, wonach eine „Geldleistung bescheidmäßig […] abgelehnt“ werden muss. Der VwGH sah darin allerdings eine sachlich nicht gerechtfertigte Differenzierung zwischen Feststellungsbescheiden (welche je nach Feststellung einen Leistungsanspruch nach sich ziehen können) und Leistungsbescheiden.

Wäre der VwGH der Auslegung des BVwG gefolgt, würde das bedeuten, dass Wiederholungsbescheide gem § 72 Z 2 lit c ASGG, wie sie im Rahmen der sukzessiven Kompetenz nach Klagsrückziehung zu erlassen sind, einer Wiederaufnahme nach § 101 ASVG immer unzugänglich wären.

Da sich das BVwG inhaltlich mit dem Vorbringen des Beschwerdeführers gar nicht befasst hatte, muss nun nach Aufhebung des Erkenntnisses das Verfahren neuerlich durchgeführt werden und die Frage beantwortet werden, ob die Voraussetzungen des § 101 ASVG auf den ursprünglich ablehnenden Bescheid der Unfallversicherungsanstalt zutreffen.