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Covid-19-Erkrankung eines privaten Nachhilfelehrers: Keine Berufskrankheit mangels vergleichbarer Gefährdung wie in der Schule

ELISABETHBISCHOFREITER
§ 177 Abs 1,
Nr 38 der Anlage 1
zum ASVG

Der maßgebliche Unterschied in der abstrakten Exponiertheit eines Lehrers bzw einer Lehrerin an einer Schule gegenüber Infektionskrankheiten im Vergleich zu der abstrakt mit der Tätigkeit als Unterrichtender an einem Nachhilfeinstitut verbundenen Risikosituation besteht in der Zahl der insgesamt im Gebäude und in den jeweiligen Unterrichtsräumen zusammenkommenden Personen.

Sachverhalt

Der Kl bietet Nachhilfeunterricht überwiegend für Jugendliche an. Er koordiniert Lehrpersonen und hält selbst Unterricht. Das Unternehmen des Kl befindet sich in den Kellerräumen seines Wohnhauses und hat einen separaten Eingang. Es gibt einen Eingangsbereich, zwei Unterrichtsräume und eine Küche. Der im Vorhinein vereinbarte Unterricht wird üblicherweise Montag bis Freitag von 12:15 bis 20:00 Uhr und samstags von 8:00 bis 12:00 Uhr in zweistündigen Einheiten mit bis zu fünf Schülerinnen und Schülern abgehalten. Im März 2020 waren zwischen 50 und 80 aktive Schülerinnen und Schüler in der Datenbank des Unternehmens erfasst. Aufgrund der Raumgröße des (einen) Unterrichtsraums von etwa 20 m² wurden höchstens drei Schülerinnen und Schüler gleichzeitig unterrichtet, bei einer größeren Schülerzahl wurden bei250de Unterrichtsräume parallel genutzt. Der vorgeschriebene Mindestabstand wurde eingehalten, alle 20 Minuten wurde gelüftet. Es wurden Einmal-Masken verwendet. Plexiglaswände waren nicht vorhanden.

Der Kl unterrichtete am Mittwoch, den 4.11.2020, eine Gruppe von drei Schülerinnen sowie in der gleichen Woche eine andere Gruppe mit vier bis fünf Schülerinnen und Schülern. Er wurde am 10.11.2020 positiv auf eine Corona-Infektion getestet.

Verfahren und Entscheidung

Mit Bescheid vom 19.7.2021 sprach die Bekl aus, die Gesundheitsstörung sei nicht Folge einer Berufskrankheit.

In seiner dagegen erhobenen Klage brachte der Kl vor, er habe sich beim Unterricht am 4.11.2020, bei dem eine seiner Schülerinnen bereits Symptome einer COVID-19-Erkrankung gehabt habe und nach dem bei den Familienmitgliedern dieser sowie einer zweiten Schülerin Corona-Infektionen nachgewiesen worden seien, angesteckt. Er leide an Long-Covid. Sein Lernhilfeunternehmen sei als Schule iSv Nr 38 Anlage 1 zum ASVG zu qualifizieren, jedenfalls bestehe ein vergleichbares Ansteckungsrisiko.

Das Erstgericht wies die Klage ab. Das Berufungsgericht gab der Berufung des Kl nicht Folge. Die Revision wurde mangels höchstgerichtlicher Rsp zur Frage der vergleichbaren Gefährdung zugelassen, jedoch als nicht berechtigt angesehen.

Originalzitate aus der Entscheidung

[…]

B. Zum Vorliegen einer Berufskrankheit

2.1. Als Berufskrankheiten gelten gemäß § 177 Abs 1 ASVG die in der Anlage zum ASVG (Anlage 1) bezeichneten Krankheiten unter den dort angeführten Voraussetzungen, wenn sie durch Ausübung der die Versicherung begründenden Beschäftigung in einem in Spalte 3 der Anlage bezeichneten Unternehmen verursacht sind. […]

Die Bezeichnung einer bestimmten Krankheit als Berufskrankheit bedeutet, dass sie rechtlich generell geeignet ist, eine Berufskrankheit zu sein. Sie stellt jedoch im Hinblick auf die Beweislast noch keine Kausalitätsvermutung auf. Der haftungsbegründende Zusammenhang muss vielmehr vom Versicherten zusätzlich bewiesen werden (RS0084375 […]).

2.2. Relevant ist im vorliegenden Fall einer Corona-Infektion Nr 38 der Anlage 1 zum ASVG „Infektionskrankheiten“. […]

2.3. Der Sinn der Nr 38 besteht darin, Personen einen Schutz zu bieten, die aufgrund ihrer Erwerbstätigkeit in besonderer Ansteckungsgefahr schweben (Tomandl inTomandl/Felten [37. Lfg 2021] Pkt 2.3.2. [275]). Gesetzgeberisch erfolgte dies dadurch, dass auf besondere Unternehmen abgestellt wird, in denen die dort Beschäftigten in einem besonderen Ausmaß der Gefahr von Ansteckungen ausgesetzt sind […].

2.4. […] Schulen wurden mit BGBl 1969/17 in die Liste der erfassten Unternehmen aufgenommen: […] Die Ergänzung wurde damit begründet, dass auch die in diesen Einrichtungen beschäftigten Personen einer erhöhten Infektionsgefahr ausgesetzt seien. Konkret sei für das Personal von Kindergärten und Säuglingskrippen die Gefahr der Ansteckung mit Kinderkrankheiten, aber auch mit Tuberkulose und Darminfektionen besonders groß; ähnliche Überlegungen gälten für Lehrpersonen und Bedienstete in Justizanstalten (ErläutRV 1059 BlgNR 11. GP 29).

Mit BGBl I 1998/138 wurde eine Generalklausel angefügt: Erfasst sind demnach auch Infektionskrankheiten in „Unternehmen, in denen eine vergleichbare Gefährdung besteht“.

[…]

2.8. Tomandl hebt zum besonderen Schutz von Schulen und Justizanstalten hervor, dass es dabei – da keine Altersbeschränkung im Hinblick auf Kinderkrankheiten angeordnet sei und es auch Schulen für Erwachsene gebe – in Wahrheit um „das ständige Zusammentreffen mit einer großen Anzahl anderer Menschen, die möglicherweise ansteckende Krankheiten haben“ gehe. […] Der Schutz könne aber nicht auf Personengruppen ausgedehnt werden, die bei ihrer Tätigkeit einem bedeutend geringeren Risiko als die geschützte Personengruppe ausgesetzt seien (Tomandl inTomandl/Felten [37. Lfg 2021] Pkt 2.3.2. [275]; Gebhardt/Perktold, Covid-19: Berufskrankheit und Arbeitsunfall, SozSi 2022, 60 [61 f]). […]

2.9. […] Zu beurteilen ist hier […], ob es sich beim Unternehmen des Kl um ein solches handelt, in dem eine „vergleichbare Gefährdung besteht“. Dass der Kl der mit seiner Unternehmensorganisation einhergehenden Infektionsgefahr […] auch tatsächlich ausgesetzt war, ist hingegen nicht zweifelhaft. […]

Bei der Subsumtion unter die Generalklausel der Nr 38 Anlage 1 zum ASVG handelt es sich […] stets um einen Akt der rechtlichen Beurteilung. Dabei kommt es darauf an, die vom Gesetzgeber als wesentlich erachteten typischen Gefahren, die der Aufnahme bestimmter Unternehmen in die Liste der Nr 38 zugrunde liegen, zu identifizieren und in wertender Betrachtung dem konkret zu beurteilenden Unternehmenstyp gegenüber zu stellen.

[…]

4.1. […] Die Generalklausel der Nr 38 Anlage 1 zum ASVG unterscheidet sich von der in der deutschen Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) enthaltenen Generalklausel dadurch, dass die österreichische Regelung auf Unternehmen abstellt, in denen eine vergleichbare Gefährdung besteht, wohingegen die Generalklausel der BKV auf Tätigkeiten abstellt. Der Umstand, dass Nr 38 Anlage 1 zum ASVG auf Unternehmen mit vergleichbarem Risiko, aber nicht auf Tätigkeiten abstellt, macht es erforderlich, unabhängig von der konkreten Tätigkeit 251des Versicherten die Gefährdung im Unternehmen zu betrachten (dies nicht differenzierendGerstl-Fladerer in Wolf/Schneider/Gerstl-Fladerer, Berufskrankheiten [2012] 438 f).

4.2. Im Hinblick auf die rechtlich definierten Infektions-Risikobereiche umfasst die österreichische Regelung ausdrücklich einen weiter gezogenen Risikobereich als die deutsche „Parallel“-Regelung, indem (unter anderem) auch Schulen in der Liste der geschützten Unternehmen angeführt sind. Dabei ist davon auszugehen, dass das besondere Infektionsrisiko an Schulen aus dem Zusammenkommen einer Vielzahl von Personen an einem Ort mit einem länger dauernden Aufenthalt in Innenräumen zum Zweck des Unterrichts resultiert.

[…]

4.4. Der maßgebliche Unterschied in der abstrakten Exponiertheit eines Lehrers bzw einer Lehrerin an einer Schule gegenüber Infektionskrankheiten im Vergleich zu der abstrakt mit der Tätigkeit als Unterrichtender an einem Nachhilfeinstitut wie jenem des Kl verbundenen Risikosituation besteht in der Zahl der insgesamt im Gebäude und in den jeweiligen Unterrichtsräumen zusammenkommenden Personen. Aus diesem Unterschied ergibt sich eine geringere generell-abstrakte Gefährdung eines Versicherten, der in einem privaten Lerninstitut wie jenem des Kl tätig ist, gegenüber der Tätigkeit von Versicherten an einer Schule.

Es fehlt daher im vorliegenden Fall an einem „Unternehmen, in [dem] eine vergleichbare Gefährdung besteht“ iSd Nr 38 Anlage 1 zum ASVG, sodass die Qualifikation der COVID-19-Erkrankung des Kl als Berufskrankheit schon aus diesem Grund ausscheidet. Auf die konkrete Infektionsgefahr durch die Anwesenheit von mit COVID-19-infizierten Schülerinnen in einer der vom Kl unterrichteten Gruppen kommt es daher nicht an.

4.5. Das Berufungsgericht nahm auf die COVID-19-Schulverordnung 2020/21 (BGBl II 2020/384) Bezug und stellte eine hypothetische Hälfte-Teilung von Klassen der Unterrichtsorganisation im Lerninstitut des Kl gegenüber; es erblickte auch unter Zugrundelegung halbierter Klassengrößen an Schulen im Lerninstitut des Kl kein Unternehmen mit vergleichbarer Gefährdung iSd Nr 38 Anlage 1 zum ASVG. […]

In diesem Zusammenhang ist klarzustellen, dass die Nr 38 Anlage 1 zum ASVG Schulen als Einrichtungen einstuft, die ihrer Typizität nach für die dort tätigen Versicherten ein erhöhtes Risiko der Ansteckung mit Infektionskrankheiten mit sich bringen. Die in der Revision angesprochene Möglichkeit der Anordnung von ortsungebundenem Unterricht an einzelnen Schulen aufgrund individueller Behördenentscheidungen […] führt nicht dazu, dass für die Beurteilung des Vorliegens einer „vergleichbaren Gefährdung“ auf jene Schulen abzustellen ist, die aufgrund individueller behördlicher Anordnung von derartigen Anordnungen betroffen sind. […]

5. Die behaupteten Verfahrensmängel wurden geprüft, sie liegen nicht vor. Für die Beurteilung des vorliegenden Falls ist weder die konkrete Ausgestaltung der Räumlichkeiten des Lerninstituts relevant noch die Anzahl der im gesamten Bundesgebiet gemeldeten Corona-Infektionen oder der „Grad der Durchseuchung des versicherten Tätigkeitsbereichs“. […]

Erläuterung

Gegenständliches Urteil des OGH ist die erste höchstgerichtliche Entscheidung zu Covid-19 als Berufskrankheit und zum Vorliegen einer vergleichbaren Gefährdung in einem Unternehmen, das nicht ausdrücklich in der Berufskrankheitenliste angeführt ist. Ein Monat später erging eine zweite Entscheidung des OGH zur Frage der vergleichbaren Gefährdung betreffend die Covid-19-Infektion eines Mitglieds des Freiwilligen Bergrettungsdienstes, das sich bei einem Waldbrandeinsatz infizierte (OGH 21.3.2023, 10 ObS 1/23d).

Die Generalklausel „Unternehmen, in denen eine vergleichbare Gefährdung besteht“ wurde mit der 55. Novelle zum ASVG am 1.8.1998 eingeführt. Diese Erweiterung erfolgte aufgrund der Erkenntnis, dass der zuvor bestehende Unternehmensbegriff zu eng gefasst war, weil Infektionskrankheiten auch in Unternehmen auftreten können, die nicht in der Liste angeführt sind, in denen jedoch eine vergleichbare Gefährdung besteht. Um den Unternehmensbegriff nicht wiederum zu eng zu fassen, wurde von der Auflistung weiterer Unternehmen abgesehen und stattdessen von der Generalklausel Gebrauch gemacht.

In der vorliegenden Entscheidung stellt der OGH mit Hilfe einer Gegenüberstellung der österreichischen und der deutschen Rechtslage klar, dass es bei der Beurteilung der vergleichbaren Gefährdung nicht um die konkrete Tätigkeit, sondern um die abstrakte Gefährdung im Unternehmen als Ganzes geht. In der Schule resultiert das Infektionsrisiko aus der großen Anzahl der dort zusammentreffenden Personen und dem längeren dauernden Aufenthalt in Innenräumen. Bei der Beurteilung, ob bei einem Lerninstitut eine vergleichbare Gefährdung vorliegt, ist daher entscheidend, wie viele Personen in diesem unterrichtet werden und sich generell dort aufhalten, wobei auch die hypothetische Hälfte-Teilung von Klassen gem der COVID-19-Schulverordnung 2020/21 im gegenständlichen Fall zu keiner vergleichbaren Gefährdung führte. Keine Rolle spielen laut OGH die konkrete Ausgestaltung der Räumlichkeiten, die Anzahl der im gesamten Bundesgebiet gemeldeten Corona-Infektionen bzw der Grad der Durchseuchung des versicherten Tätigkeitsbereichs sowie die Möglichkeit des Home-Schooling.

In der zweiten Entscheidung betreffend die Infektion eines Mitglieds des Freiwilligen Bergrettungsdienstes wurde die vergleichbare Gefährdung ebenso verneint. Anders als im vorliegenden Fall stützte 252sich der OGH auch darauf, dass die Beschäftigten der Österreichischen Bergrettung im Regelfall überwiegend mit nicht infizierten Personen zu tun haben, sodass sich der Kontakt mit allenfalls Infizierten auf eine kurz eingegrenzte Zeit beschränkt (vgl auch OGH 6.9.1988, 10 ObS 159/88 und 10 ObS 175/88). Der Kontakt zu zahlreichen Einsatzkräften während der Bekämpfung des Waldbrandes ist laut OGH nicht mit dem besonderen Infektionsrisiko in Schulen oder Haftanstalten vergleichbar, wo sich zahlreiche Personen für lange Zeit gemeinsam in einem geschlossenen Raum aufhalten.