Der Prüfstand der Nachhaltigkeit: Die Praxis
Der Prüfstand der Nachhaltigkeit: Die Praxis
Die Pauschalierung im Steuerrecht – oder die Einzementierung falscher freier Dienstverträge
Die Ausgangslage
Die steuerrechtliche Lage
Ergebnis
Nötigung, Zwang und Menschenhandel
Die Ausgangslage
Beurteilung aus Sicht des Arbeitsrechts
Haftung aufgrund Schadensersatzrechtes
Das Barzahlungsgebot gem § 78 GewO 1859
Haftung einer Kapitalgesellschaft aufgrund Pflichtenverletzung ihrer Organe
Beurteilung aus Sicht des Gewerberechts
Unionsrechtliche Vorschriften
Ergebnis
Ergebnis
Eine Vielzahl von Fahrradboten ist aufgrund eines freien Dienstvertrages beschäftigt, obwohl sie einem engen Weisungszusammenhang gegenüber dem AG unterliegen. So werden über Apps Bewegungsprofile kontrolliert, um korrigierend auf das Arbeitsverhalten der AN einwirken zu können, Bewertungen von Lieferkunden in Rankings berücksichtigt, die wiederum direkten Einfluss auf die Zuteilung von Auslieferungen und somit auf das zu verdienende Entgelt haben.* Typischerweise sind dies alles Merkmale, die aufgrund der persönlichen Abhängigkeit jedenfalls für das Vorliegen eines Arbeitsvertrages und somit die Vollanwendung arbeitsrechtlicher Schutznormen sprechen. Trotzdem werden zumindest in Salzburg nach der Berichterstattung in der Presse in der Mehrzahl freie Dienstverträge abgeschlossen.* Werden Anstellungen über Arbeitsverträge in der Regel von den Betroffenen als günstiger empfunden als ein Beschäftigungsverhältnis mittels eines freien Dienstvertrages,* zeigt sich in den Beratungs- und Rechtsschutzstatistiken keine gesteigerte Motivation der betroffenen Personen, die Richtigstellung des Vertrages hinsichtlich des Vorliegens eines Arbeitsvertrags aktiv zu betreiben. Im Hinblick auf das Schutzniveau, welches das Arbeitsrecht für AN zur Verfügung stellt, kann dies auf den ersten Blick verwundern. Ein näherer Blick, weg von einer arbeitsrechtlichen Perspektive, zeigt 110 jedoch auf, warum Personen die Richtigstellung ihres Vertrages nicht betreiben.
Die Kleinunternehmerpauschalierung des § 17 Abs 3a EStG sieht für die Gewinnermittlung mittels Eingaben-/Ausgabenrechnung eine pauschale Ermittlung vor, bei der 45 % der Betriebseinnahmen (20 % bei Dienstleistungsunternehmen) aus Umsätzen bis maximal € 18.900,– als pauschale Betriebsausgaben abgesetzt werden können, wenn gem § 6 Abs 1 Z 27 UStG 1994 bei Umsätzen bis € 35.000,– eine Umsatzsteuerbefreiung vorliegt (die Grenze für die Kleinstunternehmerpauschale beträgt ab 2023 € 40.000,–, der Wert für eine Umsatzsteuerbefreiung bleibt gleich). Da Fahrradkuriere in Verordnung des Finanzministers bezüglich der Einordnung eines Betriebes als Dienstleistungsbetrieb nicht erwähnt werden, gilt die großzügigere Pauschalierungsregel.* Bei der Gewinnermittlung werden nun nach dem Abzug der Pauschale die Kosten für die SV (Bemessungsgrundlage ist der Wert vor Abzug der Pauschale) abgezogen. Folgendes Beispiel soll nun den Lenkungseffekt der aktuellen Rechtslage überwiegend auf die Vertragsnehmer verdeutlichen:
Geht man davon aus, dass bei freien DN in Salzburg ein Entgelt pro Lieferung in Höhe von ca € 4,– gezahlt wird* und maximal vier Auslieferungen pro Stunde überhaupt möglich wären,* so wären Einkünfte pro Stunde von € 16,– rechnerisch möglich.* Bei 40 h in der Woche sind das € 640,–, in einem Monat € 2.771,20 Einkünfte. Die Jahreseinkünfte lägen daher in dieser Maximalvariante bei € 33.254,40. Eine Pauschalierung nach gegenständlicher Regelung gem § 17 Abs 3a EStG ist also möglich, da der Betrag unter € 35.000,–/40.000,– liegt und somit die Umsatzsteuerbefreiung gegeben ist. Die Betriebsausgabenpauschale von 45 % beträgt also monatlich € 1.247,04 und liegt mit insgesamt € 14.964,48 im Kalenderjahr daher unter der jährlichen Absetzgrenze von € 18.900,–. Die Sozialversicherungsbeiträge werden von € 2.771,20 berechnet und betragen € 488,29 im Monat. Die jährliche Sozialversicherungsabgabe beträgt € 5.859,48. Für die Berechnung der Steuerleistung ist die Berechnungsgrundlage € 1.035,87 (2.771,20 – 1.247,04 [Kleinunternehmerpauschale] – 488,29 [SV]). Die jährlichen Einkünfte betragen demnach € 12.430,44 (1.035,47 x 12). Dann erfolgt noch der Abzug des pauschalen Gewinnfreibetrages von 15 %, so dass die zu versteuernden Einkünfte € 10.565,87 (12.430,44 – 1.864,57 [Gewinnfreibetrag]) betragen. Die Steuerfreigrenze für Selbständige liegt bei € 11.000,–. Es fällt also keine Steuerpflicht an. Dem freien DN verbleiben daher im Monat € 2.282,91 netto (2.771,20 – 488,29 [SV]). Der Jahresnettoverdienst beträgt daher € 27.394,92. Wird der gleiche Verdienst (€ 2.771,20) im Rahmen eines Arbeitsvertrages lukriert, ist nach AK-Brutto-/Nettorechner Folgendes zu veranschlagen:
Die SV beträgt im Monat € 502,14, die Lohnsteuer € 288,–. Die Sonderzahlungen kann man typischerweise außer Acht lassen, da diese mangels KollV nicht gezahlt werden. Der monatliche Nettolohn beträgt daher € 1.981,06, der Jahresnettolohn € 23.772,72; die Leistung an Sozialversicherungsabgaben im Jahr € 6.025,68, die jährliche Lohnsteuerlast € 3.456,–. Kommt es nun aufgrund einer Überprüfung des Unternehmens oder aufgrund der Aktivität der betroffenen Person zu einer Umqualifizierung des freien Dienstvertrages in einen Arbeitsvertrag, so hat der nunmehrige AN bei einem Umqualifizierungszeitraum von einem Jahr mit einer Steuernachzahlung von € 3.456,– zu rechnen,* da er ohne Regressmöglichkeit an den AG Steuerschuldner ist.* An diesem Befund ändert auch nichts, dass typischerweise nach einer Umqualifizierung des freien Dienstverhältnisses in ein Arbeitsverhältnis Urlaubstage, meist in Form einer Urlaubsersatzleistung (soweit der Anspruch nicht verjährt oder verfallen ist*), geltend gemacht werden könnten. Geht man in unserem Beispiel vom Wert eines Jahresurlaubes aus, da regelmäßig keine Urlaubskonsumation in einem freien Dienstverhältnis erfolgt, so beträgt der Bruttowert der Urlaubsersatzleistung € 3.197,54 (2.771,20/26 x 30) und liegt als solcher bereits unter der Steuernachforderung, kann also die Schuldenlast allenfalls mildern.* Sozialversicherungsbeiträge können bis auf den vorangehenden Monat vom AG den DN aufgrund der Wirkungen von § 60 ASVG regelmäßig nicht verrechnet werden,* und somit außer Betracht bleiben.
Dass damit die Steuergesetzgebung dazu beiträgt, ein Lenkungsverhalten durch finanziellen Druck auf die Fahrradkuriere hinsichtlich Annahme bzw Vorspiegelung eines freien DN-Verhältnisses zu erzeugen, als auch die Motivation der betroffenen AN durch korrekte rechtliche Zustände herzustellen auf ein Mindestmaß reduziert wird, erklärt sich an diesem Beispiel von selbst. Zieht man nun noch in Betracht, dass gegenständliches Beispiel von einer unrealistischen Maximalarbeitsleistung ausgeht und dass in Wirklichkeit Fahrradkuriere typischerweise mit ihren Einkünften innerhalb der 111
Durch die Kleinunternehmerpauschale gem § 17 Abs 3a EStG wird ein unerwünschter Lenkungseffekt für die Solidargemeinschaft erzielt: Durch einen im Ergebnis höheren Nettogewinn bei Eingehen eines freien Dienstvertrages (egal ob das Austauschverhältnis einem solchen entspricht bzw ein Arbeitsvertrag abzuschließen wäre) werden Personen in einem Bereich prekärer Arbeitsverhältnisse, gedrängt aus eigener (wirtschaftlicher) Not, typischerweise freie Dienstverträge abschließen. Unternehmen kann dies zur Vermeidung des arbeitsrechtlichen Schutznormenkanons wohl nur willkommen sein. Zusätzlich wird die Herstellung der richtigen Rechtslage durch die Betroffenen, die aus rechtspolitischer und Wettbewerbssicht unbedingt geboten wäre, insofern erschwert, dass den betroffenen AN hohe Lohnsteuerrückzahlungen drohen, während dies – gerade im kollektivvertragsfreien Raum – für die Unternehmen die Verwendung der falschen Vertragsart regelmäßig zu keiner (wesentlichen) finanziellen Mehrbelastung im Vergleich zum sofortigen Abschluss eines Arbeitsvertrages führt. Die – oftmals existentiell bedrohenden – Auswirkungen der Sanierung der falschen Vertragsart, unabhängig von einem gesetzten „Verschulden“, trifft daher typischerweise die schwächere Vertragspartei. Dies spiegelt sich auch in den Beratungen und den Rechtsschutzzahlen der Arbeiterkammer wider. Abhilfe könnte hier die Schaffung vergleichbarer Regelungen im Steuerrecht bieten, wie dies bereits durch die Regelung von § 60 ASVG für Sozialversicherungsabgaben geschehen ist, die einen Abgabenregress des AG von Sozialversicherungsabgaben an den AN über einen Monat hinaus verbietet.
Der geschilderte Sachverhalt stellt einen realen Fall dar, der sich in Vorarlberg ereignet hat und mit einer Verurteilung der beiden handelnden Personen wegen der §§ 104a, 105 und 224 StGB zumindest strafrechtlich geendet hat.
Die verurteilten Personen hatten durch eigene Arbeitserfahrung als AN ausreichend Kenntnisse über die Branchenüblichkeiten im Bereich des Reinigungsgewerbes und nach den Feststellungen des Landesgerichtes für Strafsachen ausreichend Kontakte zu den am Markt auftretenden Reinigungsunternehmen. Gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin wollte der Täter aus diesem Wissen insofern Kapital schlagen, dass sie Personen, die derselben ethnischen Gruppe angehörten und in existentieller Notlage waren, aus Serbien mit gefälschten (rumänischen) Dokumenten und unter Vorspiegelung falscher Tatsachen nach Vorarlberg brachten, um diese Personen dann auszubeuten.
Opfer waren Frauen, die sich von ihren Männern getrennt hatten und so in wirtschaftliche Not gerieten, da sie von der Familie nicht unterstützt wurden bzw nicht unterstützt werden konnten. Teilweise hatten diese Personen auch weder Schulbildung noch Ausbildungen absolviert. Gemeinsam war den Opfern die vollständige Unkenntnis der deutschen Sprache. Den Opfern war bewusst, dass sie nach Österreich weder legal zur Aufnahme einer Beschäftigung kommen noch dass sie einer offiziellen legalen Arbeit nachgehen konnten. Zusätzlich wurden sie von den Verurteilten über Arbeitszeitausmaß und Entgelthöhe getäuscht, da der Inhalt der im Rahmen der Vermittlung zustande gekommenen Arbeitsverträge den Opfern unbekannt war.
In Vorarlberg angekommen wurden die Opfer mit neuen Identitäten ausgestattet und von Verurteilten an Reinigungsfirmen vermittelt. Gleichzeitig eröffnete der Verurteilte mittels der gefälschten Dokumente Bankkonten unter der Tarnidentität der Opfer und ließ sich unbeschränkten Zugang zu diesen Konten einräumen. Die Aufgabe der Verhandlung mit den Unternehmen und dem Hin- und Heimtransport wurden vom männlichen Teil, die Überwachung und Versorgung mit dem Nötigsten (in schlechter Qualität) durch den weiblichen Teil des Verbrecherpaares wahrgenommen. Die Opfer lebten mit den Verurteilten in einer Hausgemeinschaft und wurden mit gefährlichen Drohungen (Ermordung der Kinder, körperliche Züchtigung, Vergeltungsmaßnahmen im Herkunftsland gegenüber sonstigen Verwandten) gefügig gemacht und zum Schweigen auch gegenüber den Familien der Opfer gebracht. Die Unternehmen, die die vermittelten Opfer beschäftigten, zahlten die Ansprüche aus den Arbeitsverhältnissen auf die angegebenen Bankkonten aus. Die Verurteilten gaben nur den kleinsten Teil dieser Auszahlungen an die Opfer weiter, so dass dieser gerade noch höher als der ihnen mögliche Verdienst im Heimatland war. Dieses Geld sendeten die Opfer dann an ihre Familien. Der Tatzeitraum lag zwischen einem halben Jahr und 13 Monaten.
Den beiden Opfern war bewusst, dass der Verurteilte nur für die Vermittlung von Arbeitsverhältnissen sorgte und dass Arbeitsverhältnisse nur zu den jeweiligen Unternehmen, für die die Opfer dann tätig wurden, entstanden sind. Ebenso trat der Verurteilte gegenüber den Unternehmen nur als Vermittler und nicht etwa als Überlasser auf und die Unternehmen übten ungeteilte AN-Funktion aus. Das Auftreten als Vermittler und nicht als Überlasser stellte für den Verurteilten auch eine risikolosere Vorgangsweise hinsichtlich Nachfragen und Kontrolle von Gewerbeberechtigungen durch die arbeitsvertragsschließenden Unternehmen dar (siehe auch unten Pkt 2.3.). Hinzu kommt, dass die Unternehmen als AG und nicht als Beschäftiger gegenüber den Opfern aufgetreten sind. Eine Berufung auf geteilte AG-Pflichten, wie dies bei einer Arbeitskräfteüberlassung typisch ist, fand 112 nicht statt und wurde auch nicht festgestellt. Damit scheidet aber mangels Anwendbarkeit des AÜG ein Rückgriff auf die Ausfallshaftung des Beschäftigers iS von § 14 Abs 2 AÜG aus, die immer dann greift, solange der Überlasser das gebührende Entgelt der überlassenen Arbeitskraft nicht gezahlt hat.*
Aus dem vorliegenden Sachverhalt ist zu erschließen, dass die betroffenen Unternehmen die Forderungen der AN vollständig erfüllt haben. Da die Entgeltauszahlung auf ein den AN zumindest in der Außenwirkung im Rahmen der Dolmetschleistung angegebenen Konti erfolgte und keine Vertretung offengelegt wurde und die Unternehmen über den wahren Sachverhalt getäuscht wurden, ist hier von schuldbefreienden Zahlungen auszugehen,* da ebenfalls davon ausgegangen werden kann, dass in den Arbeitsverträgen bargeldlose Lohnzahlung vereinbart wurde, weil dies eine mittlerweile typische Vertragsklausel darstellt.* Bargeldlose Zahlung ist mittlerweile in der für Sozialversicherungsbetrug und Lohn- und Sozialdumping risikobehafteten Baubranche sogar gesetzlich vorgeschrieben.*, * Entgeltansprüche aus dem Arbeitsverhältnis gegenüber den Unternehmen können daher nicht mehr geltend gemacht werden.
Eine Haftung der betroffenen Unternehmen aufgrund Schadensersatzes wäre dann möglich (schließt man ein dolentes Zusammenwirken mit den Verurteilten aus), wenn die Unternehmen im Rahmen des Vermittlungsauftrittes des und dem darauffolgenden Abschluss des Arbeitsverhältnisses Schutznormen verletzt hätten, die in ihrem Kernbereich das verwirklichte Risiko hätten verhindern sollen.*
Das Barzahlungsgebot hat hauptsächlich den Schutzzweck, dass AN, wo und wie sie ihren Lebensbedarf besorgen, nicht an den AG und dessen Waren gebunden sind.* Nicht Schutzzweck ist, dass der Lohn nur dem AN persönlich übergeben werden darf, um sicherzustellen, dass der Lohn auch ihm selbst zugutekommt, da die Anweisung der Auszahlung an Dritte jedenfalls zulässig ist,* wie auch die Nennung von Zahlstellen. Überdies sieht § 78d GewO als Sanktion des Verstoßes vor, dass der Anspruch auf Zahlung des Entgeltes in Geld trotz Leistung in Naturalien aufrecht bleibt. Schadensersatzansprüche aufgrund der Verletzung von § 78 GewO 1859 iSd §§ 1293 ff ABGB sind daher nicht denkbar.
Grundsätzlich haftet der Geschäftsführer einer GmbH für Schäden aufgrund einer Verletzung seiner organschaftlichen Pflichten nur im Innenverhältnis der GmbH,* daher kommt es zu einer Haftungskonzentration bei der GmbH. Da der Geschäftsführer als Organ der GmbH bei seinen Handlungen Sorgfaltspflichten eines ordentlichen Geschäftsmannes iSd § 25 Abs 1 GmbHG erfüllen muss (es besteht bei Beachtung des Unternehmenswohls die Interessenwahrungspflicht für Gesellschafter, AN sowie der Öffentlichkeit),* stellt sich also bei gegenständlicher Konstellation die Frage, inwieweit das öffentliche Interesse ist und dass man auch eine GmbH im Rahmen ihrer Handlungen berücksichtigen muss (grosso modo gilt selbiges auf für Aktiengesellschaften gem § 70 AktG).
Da der Verurteilte nicht als gewerblicher Arbeitsvermittler, noch dazu ohne Auftrag des Unternehmens, sondern als helfender Privatmann aufgetreten ist, stellt sich nun die Frage, inwieweit einer für das Unternehmen handelnder Geschäftsführer auch im Wege der Delegation verpflichtet ist, in dieser Situation das Vorliegen einer gewerblichen Tätigkeit des Helfers zu überprüfen. Arbeitsvermittlung ist, wenn diese gewerblich ausgeführt wird, jedenfalls ein freies Gewerbe (§ 151a GewO) und somit anmeldepflichtig.* Aufgrund der Vorverurteilungen ist die Ausübung des Gewerbes jedenfalls ausgeschlossen, überdies besitzt der Verurteilte keine EWR-Staatsbürgerschaft, sodass bei der Person keine Gewerbeberechtigung vorliegen konnte (vgl § 13 Abs 1 iVm § 151a GewO). Geht man nun davon aus, dass in Vorarlberg lediglich drei größere Städte (Feldkirch, Bludenz und Bregenz) situiert sind, ist die Wahrscheinlichkeit eines überschaubaren Marktes gegeben, obwohl bei einer einfachen Internetsuche auf dem Portal „Firmenabc“ 83 Reinigungsunternehmen in Vorarlberg aufschienen.* Es erscheint nicht denkunmöglich, dass die vielfache Vermittlungstätigkeit des Verurteilten bereits in den Branchenunternehmen bekannt war und so die Unternehmen nicht von Hilfe unter gleichen ethnischen Gruppen und einem altruistischen Handeln des Verurteilten ausgehen konnten. Lediglich in dieser Sonderkonstellation würde sich die Frage stellen, ob die betroffenen Unternehmen den Verdacht der Gewerbsmäßigkeit (selbständiges Handeln, Regelmäßigkeit, Gewinnabsicht)* bei Aufbringung der geeigneten Sorgfalt hätten hegen 113 müssen. Wenn in Zeiten des Fachkräftebedarfs Unternehmen auch auf persönliches Engagement von Mitarbeitern bei Rekrutierung von Bekannten setzen als auch Gebietskörperschaften diesem Trend folgen, stellt sich aber die Frage, wo die Grenze zu einer schadensersatzauslösenden Sorgfaltspflichtverletzung verläuft.
Da im gegenständlichen Fall die Opfer an der Täuschungshandlung gegenüber den Unternehmen mitwirkten und sich diese nach dem vorhandenen Sachverhalt selbst an die Unternehmen wandten, und somit die AG den Täter nicht von sich aus mit der Vermittlung von Arbeitskräften beauftragten, ist Haftung nicht gegeben.
Da die Ausübung der Arbeitsvermittlung eines aufrechten Gewerbes bedarf, steht natürlich auch die Gewerbebehörde im Fokus, inwieweit die Aufrechterhaltung und Durchsetzung der Rechtsordnung vorgenommen wird. Inwieweit verstärkte Kontrollen, die natürlich auch ein entsprechendes Kontingent an geschultem Personal voraussetzen, solche Sachverhalte verhindern hätten können, ist ohne Ausübung eines (wahrscheinlich unverhältnismäßigen und auch politisch nicht durchsetzbaren) Kontrolldrucks mE unwahrscheinlich. Nicht außer Acht gelassen werden darf auch, dass bei Beschränkungen einer Dienstleistungsfreiheit diese nur gerechtfertigt, mit geeigneten Mitteln und verhältnismäßig ausgestaltet sein darf.
Die RL zur Verhütung und Bekämpfung des Menschenhandels und zum Schutz seiner Opfer* musste von Österreich bereits umgesetzt werden. Schutzsubjekt sind Menschen, deren Arbeitskraft in Folge von Menschenhandel ausgebeutet wird.* Für gegenständlichen Fall sind die verpflichtenden Unterstützungs- und Betreuungsmaßnahmen, die den Opfern zur Verfügung gestellt werden müssen, relevant.* Spezielle Gefährdungshaftungsbestimmungen für Unternehmen, die betroffene Personen ohne Kenntnis beschäftigen, dass diese von Menschenhandel betroffen sind, sind aber nicht vorgesehen.*
Der im Vorschlagsstadium der Kommission stehende Entwurf einer Lieferketten-RL* enthält in Art 22 eine Haftung der von der RL betroffenen Unternehmen bei Nichterfüllung der vorgeschriebenen Verpflichtungen (Art 7 und 8). Diese liegen verkürzt und allgemein gesprochen in einer Gefährdungsabschätzung und Prävention bzw in einer Kompensation der negativen Auswirkungen des Unternehmenshandelns unter Einbeziehung von Geschäftspartnerunternehmen. In gegenständlichem Fall wird außer über mittelbare Auswirkungen der Pflichten der Großunternehmen* ein großer Teil der Unternehmen der Branche der Reinigungsunternehmen nicht unter den Geltungsbereich der RL fallen.* Noch dazu kommt, dass keinerlei Geschäftsbeziehung vom Unternehmen zum Opfer bestand und bereits dadurch eine Anwendung der RL nicht in Frage kommt.
Im Ergebnis werden wegen regelmäßiger Mittellosigkeit der verurteilten Personen die Opfer ihre Ansprüche gegen die Täter nicht befriedigen können. Ansprüche gegen die Unternehmen, die die Opfer im Rahmen eines Arbeitsvertrages beschäftigt haben, sind weder aus dem Arbeitsvertrag noch aus dem Titel eines Schadensersatzes realistisch zu ersehen. Bestehendes oder in Planung stehendes Unionsrecht wird an diesem Befund, auch ohne nationale Umsetzungen vorhersehen zu können, nichts ändern. Überlegungen können daher nur im Bereich der Ergänzung der Rechtsordnung gesehen werden. Insoweit könnte eine öffentlich geführte Haftungsfreistellungsliste, vergleichbar jener im Bereich der Baubranche (die HFU-Liste [Liste der haftungsfreistellenden Unternehmen] gem § 67b ASVG),* den Ansatz einer Lösung darstellen. Würde eine (gewerbliche) Arbeitskräftevermittlung durch ein Unternehmen in Anspruch genommen, welches sich nicht auf dieser Liste findet, könnte eine Haftung des Unternehmens für arbeitsrechtliche und abgabenrechtliche Ansprüche statuiert werden.
Ein Unternehmen verlieh über Jahre hinweg mehr als 200 Personen aus Drittstaaten an zahlreiche bekannte Unternehmen. Die handelnden Personen (Anweiser) setzten die Arbeitenden – mehrheitlich Asylwerbende – gezielt unter Druck, um Gewerbeberechtigungen einzuholen und auf selbständiger Basis für das Unternehmen (eine GmbH) der Anweiser tätig zu werden. Die GmbH verrechnete die von den Asylwerbern erbrachte Dienstleistung an die Kunden, die verlangten Beträge konnten aus Sicht einer gesetzeskonformen Arbeitskräfteüberlassung keinesfalls kostendeckend sein. In der Folge legten die Asylwerber monatlich Rechnungen an die GmbH und waren als gewerblich selbständig Erwerbstätige bei der SV der Selbständigen versichert. Tatsächlich waren diese arbeitenden Personen aber persönlich leistungspflichtig, weisungsgebunden, disziplinarunterworfen und wurden von den Anweisern zur Dienstleistung an andere Unternehmen überlassen, wo sie weisungsunterworfen waren und deren Betriebsmittel verwendeten. Es lagen 114 daher Arbeitsverhältnisse mit einer Arbeitsüberlassung vor, wie die Österreichische Gesundheitskasse im Rahmen einer GPLB (Gemeinsame Prüfung von Lohnabgaben und Beiträgen) feststellte.*
Im Ergebnis versuchten die Anweiser damit die Regelungen der Arbeitskräfteüberlassung in klassischer Weise zu umgehen.*
Die Staatsanwaltschaft Linz erhob nach Ermittlungen wegen zahlreicher Delikte, ua auch wegen Menschenhandels, Anklage gegen den Geschäftsführer des Unternehmens und eine weitere Mitarbeiterin. Die an die AN ausgezahlten Beträge lagen weit unter dem kollektivvertraglich verpflichteten Mindestniveau. Es kam auch zu zahlreichen Überschreitungen der Höchstarbeitszeiten und Unterschreitungen von Mindestruhezeiten. Mittlerweile wurde über das Unternehmen die Insolvenz eröffnet, das Unternehmen wurde geschlossen.
Die Haftungsbestimmungen des LSD-BG betreffen Auftraggeber für das Entgelt gem § 3 LSD-BG von gem § 8 entsandten AN, von gem § 9 entsandten oder grenzüberschreitend überlassenen Arbeitskräften von Unternehmen aus der Baubranche und nach § 10 haften Generalunternehmer für eine unzulässige Weitergabe von Aufträgen oder für eine rechts- bzw fristwidrig nicht erteilte Auskunft.*
Die Haftungsbestimmungen des LSD-BG sind daher auf vorliegenden Sachverhalt nicht anzuwenden.
§ 14 AÜG sieht die Haftung des Beschäftigers als Bürge für das gesamte Entgelt und die DN- und DG-Beiträge, solange er die Sozialversicherungsbeiträge betreffend nicht haftungsbefreiend gem § 67a ASVG geleistet hat, vor. In gegenständlichem Fall ist aber fraglich, inwieweit davon ausgegangen werden kann, dass der Beschäftiger seine Verpflichtung aus dem Dienstverschaffungsvertrag vollständig erfüllt hat, da die auffallend niedrige Höhe des Entgelts für die Dienstverschaffung einem sorgfältigen Geschäftsmann hätte auffallen müssen. Nun referiert der Normtext des § 14 Abs 2 AÜG lediglich auf die Überlassung und nicht auf den das Deckungsverhältnis bildenden Dienstverschaffungs-/Vermittlungsvertrag. Geht man nun von der Intention des Gesetzgebers aus, dass bei der Überlassung der wahre wirtschaftliche Gehalt zählt,* wäre bei der Vermittlung von selbständiger Tätigkeit bzw der Verschaffung von Dienstleistungen aufgrund selbständiger Tätigkeit das wirtschaftlich zumindest ohne Verlust für den Dienstverschaffer tragbare Entgelt zugrunde zu legen und nicht das im groben Missverhältnis stehende, vertraglich bedungene. Wenn man dieser Rechtsansicht folgt, haftete der Beschäftiger, da er aus der Überlassung nicht alle Ansprüche erfüllt hat, als Bürge gem § 1355 ABGB und die überlassenen Arbeitskräfte könnten nach erfolgter Mahnung ihre offenen Ansprüche aus dem Arbeitsvertrag gegenüber dem Überlasser dem Beschäftiger gegenüber durchsetzen.* Andernfalls läge lediglich eine Haftung als Ausfallsbürge vor, die dann zum Tragen käme, außer bei unbekanntem Aufenthalt des Überlassers, wenn die gerichtlich zugesprochenen Ansprüche auch durch eine Exekution nicht erlangt werden konnten.*
Letztlich sind aber alle diese Überlegungen faktisch obsolet, da regeltypisch über das betroffene Unternehmen die Insolvenz eröffnet wurde.* Nun ist gem § 14 Abs 3 AÜG eine Inanspruchnahme des Beschäftigers nur für jene Ansprüche möglich, die von der Insolvenzausfallsentgeltleistung gem IESG nicht gedeckt wären.*
Hat der Masseverwalter Ansprüche bestritten und werden diese in der Folge auch nach Führung durch alle Instanzen durch den Insolvenz-Entgelt-Fonds nicht beglichen, erscheint eine gerichtliche Geltendmachung gegenüber dem Beschäftiger regelmäßig nicht erfolgreich, sodass eine gerichtliche Inanspruchnahme typischerweise nicht mehr erfolgt.
Zwar geht auf den Insolvenzausgleichsfonds der Anspruch für das geleistete Ausfallsgeld gegenüber der Masse des insolventen Unternehmens über, eine Haftung des Beschäftigers gegenüber dem Fonds besteht aber nicht.* Da sich der Insolvenz- Entgelt-Fonds ausschließlich aus lohnabhängigen Abgaben der AG speist, trägt also dieser Kreis nicht nur das Risiko von Zahlungsunfähigkeit aufgrund wirtschaftlichen Scheiterns, sondern jedenfalls auch das Schadensrisiko von gegenständlichen betrügerischen Sachverhalten, indem eine systematisch inkomplette Haftungsnorm jene, die am Schluss von dem System wirtschaftlich profitieren, nämlich die Beschäftiger, unabhängig von der Verletzung ihrer Sorgfaltspflichten von einer Haftung für die Schäden ausnimmt.
Naturgemäß sind die aufgezeigten Probleme und Auswirkungen nicht derart prekär, wie jene die durch die Rechtspflichten der Lieferkettengesetze bekämpft werden sollen. Sie zeigen aber deutlich auf, dass im Bereich der Lenkungswirkung von Gesetzen bzw in der Ausgestaltung von Sorgfaltspflichten deutlicher Verbesserungsbedarf im nationalen Recht besteht. 115