„Auf dem Gebiet werden Sie von uns noch einiges erleben!“ – Erinnerung an den Gewerkschafter und Sozialminister Alfred Dallinger anlässlich des 35. Todestages am 23.2.1989

SABINELICHTENBERGER (WIEN)

Mittlerweile ist es 35 Jahre her, dass Alfred Dallinger bei einem Flugzeugabsturz am 23.2.1989 ums Leben kam. Sein Name ist mit der Geschichte der Gewerkschaft der Privatangestellten ebenso eng verbunden wie mit der Geschichte der Entwicklung des österreichischen Sozialstaates. Durch die Benennung des Alfred-Dallinger-Platzes, den Alfred-Dallinger-Preis und das immer wieder durchgeführte Alfred-Dallinger-Symposium soll das Andenken an den Menschen, Gewerkschafter und Politiker gewahrt bleiben. Wer war nun dieser „legendäre“ Alfred Dallinger, der von vielen als Visionär oder Utopist, von anderen wieder als politischer „Unruhestifter“ betrachtet wurde? Es folgt der Versuch, den Ideen und Spuren Alfred Dallingers zu folgen, dessen viel zitiertes Lebensmotto war: „Nur wer den Mut zum Träumen hat, hat die Kraft zu kämpfen.

1.
„Wir waren ernster, viel ernster“

Alfred Dallinger wurde am 7.11.1926 in Wien-Rudolfsheim, Linke Wienzeile 272, geboren. Der Vater war Straßenbahner, die Mutter Betriebsrätin in der Firma Reichert, einer optisch-mechanischen Werkstätte in Wien Hernals.* Nach dem Besuch der Volks- und Hauptschule 1932 bis 1940 absolvierte Alfred Dallinger in den Jahren von 1940 bis 1943 in den Wiener Heilmittelwerken, einem chemischpharmazeutischen Betrieb am Wiener Rennweg, die Lehre zum Drogisten. Über seine Herkunft und Sozialisation meinte er in einem Interview, dass er aus einer sozialistischen Familie stammte „und man mich 1945 nicht erst gedanklich und ideologisch zur Arbeiterbewegung hinführen mußte. Ich habe bewußt das Jahr 1934 erlebt, bewußt die Zeit des Austrofaschismus, bewußt den März 1938, bewußt den September 1939“.*2) Wohl hat auch die Beschäftigung in der Heilmittelstelle wesentlich zu seiner Sozialisation beigetragen, war sie doch schon in der Zeit der Ersten Republik „eine sozialistische Hochburg“, so Dallinger in dem Interview weiter, in der sowohl in der Zeit des Austrofaschismus als auch des Nationalsozialismus „sehr viel illegal gearbeitet worden ist“.*

Er gehörte dort einer oppositionellen Jugendgruppe an und sein Vater und er wurden deshalb mehrmals von der Gestapo verwarnt. 1943 wurde Alfred Dallinger in die Wehrmacht eingezogen. Nach Dallingers Mitarbeitern im Sozialministerium, Oswin Martinek und Gerfried Schultheis, die zu seinem 60. Geburtstag eine Festschrift herausgaben, war er vor allem in Italien und Jugoslawien im Einsatz.* Zwei Monate vor seiner Einberufung in die Wehrmacht fiel der Bruder mit 18 Jahren in Russland, auch der Vater war eingerückt. 1944 wurde Alfred Dallinger schwer verwundet. Am 1.12.1945 nahm er die Arbeit in der Heilmittelstelle im 3. Wiener Gemeindebezirk wieder auf.*5)

Die Kriegserfahrungen prägten den jugendlichen Alfred Dallinger vermutlich sehr: „Wir waren ernster, viel ernster, als das junge Menschen heute sind, als sie es zum Glück heute sein müssen. Und wir waren auch nie jung im Sinne des heutigen Jungseins. Das hat viele Jahre meines Lebens geprägt und wird vielleicht noch immer im Unterbewusstsein seine Auswirkung haben.*Aber andererseits ist der gewaltige Unterschied zwischen unserer Jugend und der Jugend von heute auch ein Motor für uns selber, alles zu tun, daß es nie mehr zu einer Entwicklung kommen kann, wie wir sie in unserer Jugend gehabt haben“,* resümierte Alfred Dallinger über seine persönliche Entwicklung weiter, die auch von Entbehrungen in den 1930er-Jahren und den traumatischen Kriegserlebnissen während des Zweiten Weltkrieges bestimmt war. 62 Sein profundes politisches und sozialpolitisches Wissen eignete sich Alfred Dallinger im Laufe seines Lebens autodidaktisch an.*

2.
Lehrjahre in der Gewerkschaftsjugend und in der Angestelltengewerkschaft – Wegbegleiter und Mentoren

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, der Gründung des Österreichischen Gewerkschaftsbundes (ÖGB), dessen erster Präsident der Baugewerkschafter Johann Böhm (1886-1959) war, schloss sich Alfred Dallinger der gewerkschaftlichen Jugendbewegung an. Einen besonderen Anknüpfungspunkt fand er in der Angestelltengewerkschaft, in der es unter dem ersten provisorischen Vorsitzenden Richard Seidel (1872-1947) gelungen war, die zahlreichen Angestelltengewerkschaften, die es in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg und der Zeit der Ersten Republik gab, im ÖGB zusammenzufassen. Friedrich Hillegeist (1895-1973), jener Angestelltengewerkschafter, der eigentlich für diese Position vorgesehen war, war es im Zuge der Nachkriegswirren noch nicht gelungen, nach Wien zurückzukehren. *

Nach den Aussagen von Hilde Seiler (geb. 1931), der späteren Vorsitzenden der ÖGB-Frauen und Nationalratsabgeordneten (1998-1994), gründete sie mit Alfred Dallinger und anderen 1946 die erste Jugendgewerkschaftsgruppe in Wien Ottakring. * 1948 wurde Alfred Dallinger hauptamtlicher Jugendsekretär der Gewerkschaft der Angestellten in der Privatwirtschaft (GAP) – so die damalige Bezeichnung –, womit einer der ersten Schritte seiner weiteren politischen und gewerkschaftlichen Karriere getan war.* Zu den inhaltlichen Schwerpunkten der Gewerkschaftsjugend (ÖGJ) zählte der Kampf um den 4-Wochen-Urlaub und um ein modernes Jugendschutzgesetz.* Ein besonderes Anliegen der Gewerkschaftsjugend war auch ein Jugendvertrauensrätegesetz, ein Gesetz, das aus verschiedenen politischen und gesellschaftlichen Gründen noch viele Jahre auf sich warten ließ. Erst mit Beginn der 1970er-Jahre bot die veränderte politische Landschaft Österreichs die Basis zur Verwirklichung eines Jugendvertrauensrätegesetzes unter Sozialminister Rudolf Häuser (1909-2000).*

Zu Dallingers frühen Weggefährten im ÖGB und der GAP zählte der Gewerkschafter und Erwachsenenbilder Josef Eksl (1909-2000), der in der GAP den Aufbau von Ortsgruppen betreute.* Zu seinen großen Vorbildern zählte der erste „offizielle“ Vorsitzende der GAP Friedrich Hillegeist, der schon in der Gewerkschaftsbewegung während des Austrofaschismus und vor dem Zweiten Weltkrieg eine bedeutende Rolle gespielt hatte. Sein Name ist aber auch mit dem im September 1955 beschlossenen und im Jänner 1956 in Kraft getretenen Allgemeinen Sozialversicherungsgesetz (ASVG) verbunden, das die Grundlage für die Entwicklung des modernen Sozialstaates werden sollte.*

Neben Friedrich Hillegeist spielte der Gewerkschafter Rudolf Häuser eine wichtige Rolle im Leben von Alfred Dallinger. Wie auch Hillegeist begann Häuser seine gewerkschaftliche Tätigkeit in der Zeit der Ersten Republik, er leistete wie er während der Zeit des Austrofaschismus und des Nationalsozialismus Widerstand, und beide waren in NS-Konzentrationslagern inhaftiert.* Zu den herausragenden Persönlichkeiten der Angestelltengewerkschaft zählte zudem Josef Hindels (1916-1990).* Er war nach Dallinger noch Teil jener Generation, „die die Menschen persönlich beeindrucken konnte – und dies nicht nur durch Wort, sondern durch die Beispielwirkung auch in den sogenannten kleinen Dingen des Lebens“.*

1955, im Jahr, in dem der österreichische Staatsvertrag unterzeichnet wurde, wurde Alfred Dallinger im Alter von 29 Jahren Leitender Sekretär der Sektion Versicherung der GAP. Die GAP fasste nach 1945 sämtliche Angestellte der Privatwirtschaft zusammen. Sie wurde in sieben Sektionen aufgeteilt, eine davon war die Sektion der Privat-Versicherungsgesellschaften. Zu den besonderen Herausforderungen der Sektion Versicherung zählten der Ausbau des Dienstrechts, der Abschluss von neuen Kollektivverträgen, die Sicherung der Pensionen für Versicherungsangestellte und die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung. Eine Gruppe, die innerhalb der Sektion besonders schwer zu organisieren war, waren die Außendienstmitarbeiter:innen, denen sich die Gewerkschaft in diesem Zeitraum zudem besonders widmete.*63

Über die Zeit in der Sektion Versicherung schrieb Dallinger:

„Ich selbst habe, da ich ein Jahrzehnt als Leitender Sekretär der Sektion an vielen Geschehnissen teilhaben konnte, eine starke Beziehung zu all diesen Problemen. Ich glaube, daß die volkswirtschaftliche Bedeutung der Versicherungsangestellten viel mehr betont, daß die hohe Qualifikation und die große Verantwortung dieser Berufsgruppe neu interpretiert werden müssen. Versicherungsvertreter sind mehr als Verkäufer einer Versicherung, sie sind Berater im gesellschaftlichen Leben und haben somit eine wichtige Funktion zu erfüllen.“*

In diesem Bereich war Alfred Dallinger bis 1966 tätig, dann kam eine neue Herausforderung auf ihn zu.

3.
Neue Herausforderungen

1966 wurde Alfred Dallinger Zentralsekretär und stellvertretender Geschäftsführer der GPA – mittlerweile war es zur Umbenennung der GAP in „Gewerkschaft der Privatangestellten“ gekommen. Als zentrale Aufgaben der GPA betrachtete Dallinger die Kollektivvertragspolitik, die Steuerpolitik, aber auch die Beschäftigung mit internationalen Problemen und Fragestellungen, etwa im Rahmen der internationalen Angestelltenorganisation (FIET).* Weitere gewerkschaftliche Schlagworte der 1960er-Jahre waren der Ausbau der betrieblichen Mitbestimmung, Arbeitszeitverkürzung, die Auseinandersetzung mit dem Thema der Automation und deren Folgen und der Kampf gegen die „Negativliste“. Es handelte sich dabei um eine Zusammenstellung der Bundeswirtschaftskammer, der zufolge darauf geachtet werden sollte, dass in Verhandlungen über Kollektivverträge und/ oder bei Betriebsvereinbarungen Zugeständnisse zuguns ten der AN möglichst vermieden werden sollten.*

Ebenfalls 1966 wurde Dallinger in der Pensionsversicherungsanstalt (PVA) der Angestellten zweiter Obmann-Stellvertreter anstelle von Ing. Rudolf Häuser und am 4.9.1968 als Nachfolger von Friedrich Hillegeist Obmann der PVA – eine Tätigkeit, so konstatierte der Politikwissenschafter Emmerich Tálos in seiner Abhandlung über Alfred Dallinger, „die ihn u. a. für die Leitung des Sozialressorts prädestinierte“.* In den zwölf Jahren der Obmannschaft der PVA Alfred Dallingers wurden zahlreiche (noch immer bestehende) Rehabilitationszentren, etwa in Aflenz (Stmk) oder Hochegg (NÖ), errichtet und die Bürogebäude vieler Außenstellen umgebaut, erweitert oder neu errichtet. Auch in Wien wurde 1981 ein neues Büro und Rehabilitationszentrum errichtet. In der Zeit seiner Obmannschaft fiel auch durch die Diskussion um die Eigenständigkeit der PVA der Angestellten eine Frage, die sich an die Diskussion rund um die Frage des Organisationsprinzips der GPA angeschlossen hat. Das Amt des Zentralsekretärs der GPA legte Dallinger 1974 und jene des Obmanns in der PVA im Oktober 1980 nach seiner Berufung zum Bundesminister für soziale Verwaltung zurück.*

4.
„Nur in einer einzigen Frage Traditionalist“

Auf dem Gewerkschaftstag der Privatangestellten vom 27.-31.10.1974 wurde Alfred Dallinger zum Nachfolger des bisherigen Vorsitzenden Ing. Rudolf Häuser, der seine Funktion aus Altersgründen zurücklegte, gewählt. Die GPA hatte mittlerweile 290.253 Mitglieder (Stand 31.12.1974) und hatte sich damit seit ihrer Gründung im Jahr 1945 zur mitgliederstärksten Gewerkschaft innerhalb des ÖGB entwickelt.* Ein Jahr später, auf dem 8. ÖGB-Bundeskongress, der vom 15.-19.9.1975 noch im Wiener Konzerthaus stattfand, wurde Alfred Dallinger zum Vizepräsidenten des ÖGB gewählt.* Beide Funktionen übte Dallinger bis zum Tag seines tragischen Unfalles aus.

Geprägt von seinen Vorgängern, Rudolf Häuser und Friedrich Hillegeist, festigte er ein unverkennbares GPA-Profil: offen für alles Neue, grundsatztreue Politik, Orientierung an langfristigen Lösungen, Bereitschaft zu selbstkritischer Prüfung, kraftvolles, dynamisches und einheitliches Handeln“,* schrieb Heinz Vogler, der seit 1976 die Funktion des Leitenden GPA-Sekretärs der Sektion der Indus trieangestellten innehatte und 1984 zum AK-Vizepräsidenten und 1988 zum AK-Präsidenten gewählt wurde, über die Entwicklung der GPA und deren Einfluss auf die österreichische Gewerkschaftsbewegung.* So wie seine Vorgänger trat Dallinger denn auch für die „Aufrechterhaltung einer eigenständigen GPA [...] (wo) die speziellen Anliegen der Angestellten – eingebettet in die gesamtgewerkschaftliche Solidarität des ÖGB – am wirkungsvollsten durch eine eigene Gewerkschaft wahrgenommen und vertreten werden kann“, ein.* Die Gewerkschaftshistorikerin Brigitte Pellar bringt es auf den Punkt, indem sie meint: „Der kritische Vordenker in vielen Bereichen [...] blieb nur in einer einzigen Frage „Traditionalist“: er lehnte eine weitere Organisationsentwicklung 64 in Richtung Industriegruppenprinzip ab.“*

Am 17.10.1974 trat Alfred Dallinger in den österreichischen Nationalrat ein, wieder folgte er dem damaligen Vizekanzler und Sozialminister Ing. Rudolf Häuser, der kurz zuvor sein Nationalratsmandat zurückgelegt hatte. Dallinger war Mitglied im Ausschuss für soziale Verwaltung, des Finanz- und Budgetausschusses und des Ausschusses für Gesundheit und Umweltschutz sowie Ersatzmitglied des Ausschusses für wirtschaftliche Integration. Seine Reden im österreichischen Nationalrat – nach seinen bereits erwähnten Mitarbeitern Oswin Martinek und Gerwin Schultheis waren es 44 Wortmeldungen – widmete Dallinger den Themen der SV, der sozialen Sicherheit und der Demokratisierung und Mitbestimmung von AN. Zentrale Themen seiner Reden waren auch die Zukunft der Arbeitswelt und die Forderung an alle politischen Akteur:innen, gemeinsam Maßnahmen zu setzen, um die technologischen Herausforderungen der sich rasant veränderten Arbeitswelt bewerkstelligen zu können.* Die Bedeutung Dallingers, so stellte Emmerich Tálos in einem Artikel fest, aber „lag neben seinen gewerkschaftlichen Aktivitäten vor allem im Wirken als Sozialminister“.*

5.
Der Elefant im Garten der Sozialpartnerschaft

In einer seiner zahlreichen Reden (sie stand im Zusammenhang mit dem Schwerarbeitergesetz) charakterisierte Dallinger sein Politikverständnis und nicht zuletzt auch seine Haltung zur Sozialpartnerschaft wie folgt: „Naturgemäß wird man diese Gegensätze nicht in einem, wenn Sie wollen, nicht in revolutionärer Weise überwinden können, sondern in Form von evolutionären Maßnahmen, von Kompromissen, die den einen mehr, den anderen weniger befriedigen oder vielleicht alle überhaupt nicht befriedigen, aber dennoch eine Weiterentwicklung darstellen. Aber allen Ihren Überlegungen zum Trotz muß ich ankündigen, [...] daß ich mit dem augenblicklichen Zustand in der Gesellschaft nicht zufrieden bin, daß ich glaube, daß wir eine Weiterentwicklung brauchen, daß ich mich nicht der Statik verschreibe, sondern der Weiterentwicklung. Auf dem Gebiet werden Sie von uns noch einiges erleben, weil wir angetreten sind, diese Gesellschaft in einer Weise zu verändern, wie sie den Menschen dient, die in dieser Gesellschaft leben.*

Aufgrund dieses Politikverständnisses hatte er viele Anhänger:innen, aber auch viele Kritiker:innen und galt schlechthin als politischer „Unruhestifter“, „der elefantengleich durch den sorgfältig angelegten Garten der Sozialpartnerschaft stampft“.*

6.
Sozialminister mit Utopien und Visionen

Am 9.10.1980 folgte Alfred Dallinger auf Vorschlag des ÖGB dem verstorbenen Gerhard Weißenberg (1920-1980), der seit 1976 Bundesminister für soziale Verwaltung in der Regierung von Dr. Bruno Kreisky (1911-1990) war, als Bundesminister nach.* Die Funktion als Obmann der PVA legte er nach Antritt der Ministerschaft zurück, seine Funktionen im ÖGB und in der GPA behielt Dallinger weiter. Wegen dieser Doppelfunktionen, Minister und Spitzengewerkschafter, wurde er in der Folge vielfach kritisiert.* An dieser Stelle sei angemerkt, dass es Alfred Dallinger als eine seiner persönlichen Niederlagen betrachtete, dass nach dem ÖGB-Präsidenten Anton Benya (1912-2001) nicht er, sondern der Metallergewerkschafter Friedrich (Fritz) Verzetnitsch (1945-2024) zum neuen Präsidenten des ÖGB gewählt wurde. Nachzulesen ist dies ua auch in den 2015 publizierten Erinnerungen der Sektionschefin i. R. im BM für Sozialverwaltung und ehemaligen Leiterin der Arbeitsinspektion Prof.in Dr.in Eva-Elisabeth Szymanski (geb. 1947). Sie hat in ihren lesenswerten „Innenansichten“ zahlreiche Anekdoten und Bonmots aus der Zeit ihrer Zusammenarbeit mit Alfred Dallinger als Sozialminister niedergeschrieben.*

7.
Bedrohung Arbeitslosigkeit – die Pläne der Dallinger-Politik

Als seine Aufgabe als Sozialminister betrachtete Alfred Dallinger die Finanzierung des Sozialstaates, die Beseitigung von Benachteiligungen sowie das Erreichen von Chancengleichheit und Vollbeschäftigung, wofür er denkbar schlechte wirtschaftliche Voraussetzungen vorfand. Hatte doch Anfang der 1980er-Jahre die wirtschaftliche Krise nunmehr auch Österreich erreicht und das „Phänomen der Erwerbslosigkeit [prägte] nunmehr auch die Arbeitsmarktsituation in Österreich“.* Die Arbeitslosigkeit wollte Dallingernicht nur mit herkömmlichen, sondern auch mit neuen, unkonventionellen Mitteln“ bekämpfen.* Schon in seiner Antrittsrede als Minister für soziale Verwaltung am 22.10.1980 65 betonte er: „Und wie immer wir eingestellt sind, meine Damen und Herren: die größte Bedrohung der Demokratie in diesem Land wäre eine große Arbeitslosigkeit, darüber müssen wir uns, glaube ich, einig sein, und das wollen wir auch!*

Zu Dallingers „Utopien“ zählten das bedingungslose Grundeinkommen und die viel diskutierte Wertschöpfungsabgabe zur Sicherung des Sozialversicherungssystems, oft auch als „Maschinensteuer“ oder „Rationalisierungssteuer“ bezeichnet. ÖVP-Wirtschaftssprecher Robert Graf meinte zu den Dallinger-Plänen in diese Richtung: „Das ist eine ernste Angelegenheit und eine außerordentliche Verschlechterung des Klimas.“* Zu seinen Ideen und Plänen zählte weiters eine große Anzahl anderer Maßnahmen und Projekte, die die gefährdeten Arbeitsplätze sichern und neue Beschäftigungsmöglichkeiten schaffen sollten, etwa durch innovative Beschäftigungsstrategien im Rahmen des Arbeitsmarktförderungsgesetzes bzw durch die Förderung von Arbeitslosen mittels Selbsthilfeprojekten oder etwa die „Aktion 8000“. Eine besondere politische Herausforderung in den Jahren der Ministerschaft Alfred Dallingers waren zudem die Pensionsreformen 1985 und 1988, die nach dem damaligen Bundeskanzler Dr. Franz Vranitzkyeinen bleibenden Beitrag zur Wahrung der sozialen Sicherheit“ geleistet haben.*42)

Eine der großen „Baustellen“ von Alfred Dallinger als Minister war die Krise der Verstaatlichten, verloren doch Tausende Menschen in diesem Bereich ihre Arbeitsplätze. Eine der Hilfsmaßnahmen war die 1987 gegründete Stahlstiftung der VOEST-Alpine, die erste Arbeitsstiftung in Österreich. Heftig diskutiert, sowohl von Befürworter:innen als auch von Gegner:innen, wurde die Forderung nach der 35-Stunden-Woche, die als Maßnahme, Arbeit gerechter zu verteilen, gedacht war.* In den Medien sehr präsent war der Konflikt mit ÖVP-Landeshauptmann Wilfried Hauslauer sen. (1926-1992), der sich 1984 rund um das Thema des Offenhaltens der Geschäfte am 8.12. entspann.*

8.
Auf den Spuren Dallingers im Arbeitsrecht und im Arbeitnehmer:innenschutz

Nach dem Politikwissenschafter Emmerich Tálos wies Dallinger selbst immer wieder darauf hin, dass er (leider) nicht mehr, so wie seine Vorgänger, „das große sozialpolitische Füllhorn“ ausschütten konnte. Tatsächlich konnten schon viele Errungenschaften in den Jahren zuvor erreicht werden, wie etwa das Kollektivvertrags-, das Betriebsräteund das Jugendvertrauensrätegesetz, das Allgemeine Sozialversicherungsgesetz (ASVG), später das Arbeitsverfassungsgesetz (ArbVG).* Trotzdem konnte Dallinger schon in den ersten Jahren seiner Ministerschaft und auch darüber hinaus zahlreiche Reformen im Arbeitsrecht, im AN-Schutz, bei der Förderung der Gleichstellung von Frau und Mann, beim Mitspracherecht von AN und bei der Förderung und Inklusion von AN mit besonderen Bedürfnissen durchsetzen.*

Zu den bedeutendsten Reformen zählen sicherlich das Nachtschichtschwerarbeitsgesetz vom 1.7.1981,* die Novelle 1982 zum Kinder- und Jugendbeschäftigungsgesetz (KJBG), die Novelle zum Arbeitnehmerschutzgesetz 1982,* das Arbeitsruhegesetz ab 1.7.1984* und die allgemeine Arbeitnehmerschutzverordnung (AAV) 1983.* Nicht weniger von Bedeutung war die etappenweise Verlängerung des Mindesturlaubs in den Jahren von 1984-1986.* Ebenfalls 1984 kam es zur endgültigen Angleichung des Abfertigungsanspruchs von Arbeiter:innen an jenen der Angestellten ab 1.1.1984,* und 1987 konnte mit der Einrichtung von eigenen Arbeitsund Sozialgerichten* eine langjährige Forderung der AN-Interessenvertretungen erreicht werden.

Ein weiterer Meilenstein war das Arbeitskräfteüberlassungsgesetz (AÜG) vom 23.3.1988, mit dem die Konzessionierung des Gewerbes geregelt, aber auch arbeits- und sozialrechtliche Ansprüche der Leiharbeiter:innen festgelegt werden konnten.* Zudem bekamen Betriebsrät:innen durch die Novelle 1986 des Arbeitsverfassungsgesetzes vom 3.7.1986 zusätzliche Mitwirkungsrechte, um die Interessen der Stammbelegschaft, aber auch der Leih- 66 arbeiter:innen zu gewährleisten. Die Novelle brachte zudem die Verlängerung der Funktionsperioden von Betriebsrät:innen und schließlich auch neue Regelungen für AN-Vertretungen in Konzernen.*

Eine weitere Neuerung unter Sozialminister Dallinger war die Umgestaltung des Bauarbeiter-Urlaubsgesetzes 1987. Da im Bauwesen die Arbeitsplätze häufig gewechselt wurden/werden, war das Erreichen eines „klassischen“ Abfertigungsanspruchs für Bauarbeiter:innen oft nur schwer oder gar nicht möglich. Seit 1987 wird die Abfertigung durch Zusammenrechnung aller Beschäftigungszeiten in der Bauwirtschaft erworben und von der Bauarbeiter- Urlaubs- und Abfertigungskasse (BUAK) ausbezahlt.* 1988 wurden zudem Beschäftigte im Bauhilfs- und Baunebengewerbe in die neu geschaffene Abfertigungsregelung miteinbezogen und damit den übrigen AN im Bauwesen gleichgestellt.* Ebenfalls 1987 wurde der Lehrberuf der Berufskraftfahrer als Ausbildungsversuch eingeführt. Ziel sollte eine solide Berufsausbildung der Berufskraftfahrer sein und damit die Verkehrssicherheit erhöht werden.*

9.
Gleichbehandlung von Frauen – ein Anliegen

In die Zeit der Ministerschaft von Alfred Dallinger fielen auch viele Maßnahmen zur Förderung der Gleichstellung von Frauen und Männern. Renate Csörgits (geb. 1954), Leiterin der GPA-Frauenabteilung, dann ÖGB-Vizepräsidentin und Nationalratsabgeordnete, bescheinigte Alfred Dallinger, dass er einer der ersten Vorsitzenden in der Gewerkschaftsbewegung war, „denen Gleichbehandlung ein Anliegen war, obwohl Quotenregelungen damals ein großes Tabuthema waren“.* Es handelte sich dabei um Maßnahmen, die im Rahmen der beim Sozialministerium eingerichteten Gleichbehandlungskommission* zur Förderung der Gleichstellung von Frauen und Männern gesetzt wurden, und um solche, die in Zusammenarbeit mit der damaligen Staatssekretärin für allgemeine Frauenfragen, Johanna Dohnal (1939-2010), entstanden sind.* So etwa wurde 1985 ein arbeitsmarktpolitisches Frauenförderungsprogramm verabschiedet, und in der im Mai 1986 abgehaltenen Regierungsklausur „Frauenpolitik“ wurde von Alfred Dallinger ein breites sozialpolitisches Maßnahmenpaket zur Gleichstellung von Frauen vorgestellt. Des Weiteren gab es zahlreiche Maßnahmen im Bereich der Arbeitsmarktverwaltung für Frauen. So wurde etwa die Aktion 8000 auf den Bereich der Kindergärten, Elterninitiativen ua auf drei Jahre ausgedehnt, um das Angebot für laufende Kinderbetreuung zu verbessern.*

Mit der Novelle zum Gleichbehandlungsgesetz (GBG) 1985 wurde ua die geschlechtsspezifische Stellenausschreibung verboten, und Bundesförderungen erhielten demnach auch nur mehr Unternehmen, die das GBG beachteten. Betriebe wurden verpflichtet, bei vermuteten Verstößen der Gleichbehandlungskommission einen Bericht vorzulegen.* 1986 wurden Ausnahmen vom Nachtarbeitsverbot definiert, um weitere Nachteile für Frauen in bestimmten Berufen zu vermeiden.*

Darüber hinaus kam es zur Novellierung des Hausbesorgergesetzes, das Verbesserungen für Hausbesorgerinnen mit Kindern brachte. Ab 1.1.1985 konnten hauptamtliche Hausbesorgerinnen in Mutterschaftskarenzurlaub gehen und Karenzurlaubsgeld erhalten. Davor war der Karenzurlaub für Hausbesorgerinnen nur möglich gewesen, wenn sie ihre Vertretung selbst bezahlten (!). Nach den neuen Regelungen aber hatten die Hauseigentümer:innen die Vertretung zu bezahlen, wenn die Hausbesorgerin Karenzurlaubsgeld bezog.*

10.
[...] vielleicht geh‘n wir dann noch zum Heurigen“ – 23.2.1989

Am Morgen des 23. Februar 1989 machte sich Alfred Dallinger auf den Weg zum Flughafen Wien Schwechat. Ziel war eine gewerkschaftliche Tagung in Vorarlberg. Am Abend wollte er längst wieder in Wien sein, auf dem Programm stand noch ein Referat auf einer Betriebsrät:innenkonferenz in Wien Vösendorf.*66) Mit den Worten „Heute wird‘s nicht lange dauern, vielleicht geh‘n wir dann noch zum Heurigen“ verabschiedete sich Alfred Dallinger von seiner Frau.

Das Flugzeug startete mit Verspätung um 9:36 Uhr, an Bord befanden sich elf Menschen, darunter der Zentralsekretär der GPA Richard Wonka.* Beim Anflug bei starkem Nebel auf den Flughafen St. 67 Gallen-Altenrhein brach der Funkkontakt mit dem Flughafentower plötzlich ab. Wann genau das Flugzeug auf dem Wasser des Bodensees aufschlug, ist unklar. Es versank unmittelbar darauf in der Nähe der Ortschaft Rohrschach auf der Vorarlberger Seite des Bodensees. Nach Wolfgang Weisgram, dem kürzlich verstorbenen Journalisten, der Alfred Dallinger 2015 im ALBUM der Zeitung Standard einen ausführlichen Artikel mit dem Titel „Die Mappe des Alfred Dallinger“ widmete, ging mit ihm auch Europas Sozialdemokratie im Bodensee unter*Bruno Kreisky über die Unfallnachricht: „Ich kann nur sagen: In dem Augenblick, in dem ich das erfahren habe, ist mir das Herz stillgestanden.*

11.
Abschließende Bemerkungen
  • Viele der immer wieder zitierten Ideen oder auch Visionen konnten Zeit seines Lebens nicht verwirklicht werden, sind aber mit dem Namen Alfred Dallinger untrennbar verbunden, wie etwa die Wertschöpfungsabgabe, die seitens seiner Kritiker:innen als eine neue Form der „Maschinensteuer“ bezeichnet wurde. Wenn auch unter anderen Begrifflichkeiten, bieten sie nach wie vor (politischen) Diskussionsstoff.

  • Nach seinem plötzlichen Tod wurde Eleonora (Lore) Hostasch (geb. 1939), die damals GPA-Frauenvorsitzende und stellvertretende Vorsitzende im GPA-Präsidium war, zur neuen GPA-Vorsitzenden bestellt. Damit wurde eine Frau nicht nur erstmals Vorsitzende der GPA, sondern auch überhaupt einer Gewerkschaft. Ergänzend sei noch darauf hingewiesen, dass mit Lore Hostasch 1994 erstmals auch eine Frau AK-Präsidentin wurde.*

  • Nachfolger von Alfred Dallinger als Bundesminister für Arbeit und Soziales wurde Dr. Walter Geppert (geb. 1939).