TschenkerPolitischer Streik. Rechtsgeschichte und Dogmatik des Tarifbezugs und des Verbots des politischen Streiks
Duncker & Humblot Verlag, Berlin 2023, 358 Seiten, € 113,–
TschenkerPolitischer Streik. Rechtsgeschichte und Dogmatik des Tarifbezugs und des Verbots des politischen Streiks
Den Kern dieser überaus ambitionierten Monographie – einer Dissertation der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) – bildet eine umfassende rechtshistorisch und rechtsdogmatisch begründete Kritik der durch die Judikatur des deutschen BAG geprägten herrschenden Meinung, wonach das Arbeitskampfrecht im Allgemeinen und der Streik im Besonderen einen bloßen Annex der in Art 9 Abs 3 GG verankerten Tarifautonomie darstellt. Unmittelbarer Anlass ist dabei die immer wieder aufflammende Diskussion um das aus dieser für die Rechtmäßigkeit notwendigen „Tarifakzessorietät“ abgeleitete grundsätzliche Verbot des „politischen“ Streiks, der eben Ziele außerhalb von Tarifverhandlungen betrifft und (auch) die Gesetzgebung adressiert.
Als aktuellen Einstieg in die Problematik zeigt Theresa Tschenker gleich zu Beginn am Beispiel frauendominierter Branchen wie insb Altenpflege und Kindererziehung, dass gerade dort die von der Gesetzgebung ausgestalteten und die damit zusammenhängenden tariflich regelbaren Arbeits- und Wirtschaftsbeziehungen letztlich untrennbar miteinander verbunden sind, was insoweit bereits Zweifel an der herrschenden Abgrenzung zulässiger Arbeitskampfmaßnahmen um tariflich regelbare Ziele und unzulässiger Streiks um gesetzliche Gewährleistungen „zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen“ (so der Wortlaut des Art 9 Abs 3 deutsches Grundgesetz (GG) im Zusammenhang mit der Verbürgung der Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit) aufkommen lassen sollte.
Nach einer Eingrenzung der zu behandelnden Forschungsfragen (S 26 ff) widmet sich die Autorin ausführlich der Streikgeschichte und den dabei aufzufindenden rechtlichen Wertungen (S 37 ff). Sie macht deutlich, dass das heutige Tarifvertragssystem letztlich als Resultat zahlreicher, gerade auch den Staat direkt adressierender Streiks anzusehen ist, und wendet sich im Rahmen ihrer Analyse der verschiedenen Streikereignisse (insb der zwischen 1918 und 1923 vom Militär gewaltsam beendeten, in denen AN die Forderungen der sogenannten Novemberrevolution umsetzen wollten) wohlbegründet gegen die in Rsp und Rechtswissenschaft vielfach zu findende Behauptung, dass das GG bloß den tarifbezogenen Arbeitskampf als denjenigen vorgefunden habe, den es schützen wollte. Auch in den ersten Jahren nach Befreiung vom NS-System gab es zahlreiche „politische“ Streiks, die aber nur zu wenigen Gerichtsurteilen führten und dementsprechend keinen Schluss auf eine grundsätzlich negative rechtliche Bewertung erlauben. Dies gilt ebenso – und wohl umso mehr – für jene schon vor dem GG erlassenen deutschen Landesverfassungen, in denen das Streikrecht verankert worden ist und weder Beschränkungen durch das Erfordernis eines „Tarifbezuges“ noch eine explizite Ablehnung des politischen Streiks enthalten waren.
Der Streikgeschichte folgen eingehende Analysen zur Auslegung des Art 9 Abs 3 GG (S 72 ff), wobei die 68 Autorin im Rahmen einer subjektiv-teleologischen Analyse deutlich macht, dass die Abgeordneten des Parlamentarischen Rates das Streikrecht durchaus anerkannten und es nur Differenzen zum Streik durch Beamte gab und einige Abgeordnete lediglich betonten, dass das Grundrecht einen staatsumstürzenden Streik nicht gewährleisten könne. Vom Erfordernis eines Tarifbezuges oder einer Beschränkung auf die AG als notwendige Streikadressaten war demgegenüber keine Rede. Im Rahmen der objektiv-teleologischen Auslegung des GG (S 80 ff) identifiziert die Autorin mit Blick auf die historischen Gegebenheiten sowie allgemeinere verfassungsrechtliche Wertungen in akribischer Analyse vier wesentliche Funktionen des Streikrechts, nämlich den Ausgleich der asymmetrischen Verhandlungsposition, den Beitrag zur materiellen Umverteilung, die demokratische Teilhabe an gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen und die selbstbestimmte Mitgestaltung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen als Gegenentwurf zum Nationalsozialismus. Im Einzelnen legt sie überzeugend dar, dass insgesamt keinerlei verfassungsrechtlich bedingte Notwendigkeit besteht, das Streikrecht auf einen Machtausgleich bloß innerhalb von Tarifverhandlungen zu beschränken. Dieses normativ schon aus dem GG abgeleitete Ergebnis stützt sie auch mit einer ausführlichen „völkerrechtsfreundlichen Interpretation“ (S 128 ff), insb aus der Judikatur des EGMR zu Art 11 Abs 1 EMRK samt rechtsvergleichender Betrachtung, die ebenfalls zeigt, dass eine Mehrheit der Konventionsstaaten das Streikrecht betreffend wirtschaftliche und soziale Belange der Arbeitnehmerschaft auch jenseits von Tarifverhandlungen anerkennt.
Ganz zentral ist dann der ausführliche Abschnitt zu „Ursprung und Kontinuitäten von Tarifbezug des Arbeitskampfrechts und Verbot des ‚politischen‘ Streiks“ (S 178-306). Die Autorin zeigt hier mit umfassenden Belegen auf, wie sich in der noch jungen Bundesrepublik im Gefolge der rechtswissenschaftlichen und judikativen Auseinandersetzungen anlässlich des „Zeitungsstreiks“ im Jahr 1952 (einer zweitägigen Protestaktion gegen den aus Sicht des Deutschen Gewerkschaftsbundes reaktionären Entwurf eines Betriebsverfassungsgesetzes) die Lehre vom Tarifbezug des Arbeitskampfrechts und das damit einhergehende grundsätzliche Verbot des den Staat adressierenden politischen Streiks ohne ausreichende dogmatische Auseinandersetzung mit dem GG entwickelt hat und dabei vor allem einer der damals führenden Arbeitsrechtler, nämlich Hans Carl Nipperdey – einerseits als Gutachter der AGSeite zum Zeitungsstreik und andererseits als späterer Präsident des BAG –, die bis heute nachwirkenden Grundlagen der restriktiven herrschenden deutschen Rsp und Lehre schaffen konnte. Obwohl diese Sicht des Arbeitskampfrechts von Anbeginn an und auch seither immer wieder unter verschiedensten Aspekten kritisch hinterfragt worden ist, gelingt es der Verfasserin, mit ihrer Darstellung neue Akzente zu setzen und damit noch deutlicher als bisher darzulegen, dass die solcherart geschaffene grundsätzlich negative Bewertung des politischen Streiks nicht nur keinerlei Grundlage im deutschen GG hatte und hat, sondern diesem bei zureichender Würdigung aller maßgebenden, vor allem auch verfassungsrechtsdogmatischen Aspekte klar widerspricht. Speziell die für den Tarifbezug des Arbeitskampfrechts essentielle Einführung eines AG-Rechts „am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb“ durch Nipperdey erweist Tschenker als bloße Konstruktion dafür, sämtlichen vom Streik betroffenen AG-Interessen Schutz zukommen zu lassen, ohne zwischen dem grundrechtlich geschützten Eigentum und dem grundrechtlich nicht per se geschützten bloßen Vermögen zu differenzieren. Das von Nipperdey zur weiteren Stützung seiner Thesen aus der Strafrechtswissenschaft übernommene und für allgemeingültig erklärte „Prinzip der Sozialadäquanz“ erkennt die Verfasserin als zirkelschlussartig, weil es sowohl den – insb auch schadenersatzrechtlichen – Schutz des Rechts am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb begründen als auch einen Streik rechtfertigen können sollte, wenn dieser „sozialadäquat“ gegen AG zur Verbesserung oder Erhaltung bestehender Arbeitsbedingungen geführt werde und auf entsprechende privatrechtlicharbeitsrechtliche Vereinbarungen abziele. Dass letzteres auf politische Streiks keinesfalls zutreffe, weil die gegen den Staat gerichteten Streikziele von den AG gar nicht erfüllt werden könnten, entbehrte daher wohl von Anfang an einer zureichenden Rechtsgrundlage. Gleiches gilt schließlich auch für den seinerzeitigen Versuch Nipperdeys, die „soziale Marktwirtschaft“ als verfassungsrechtlich vorgegebenes Prinzip zu etablieren und daraus den Gedanken der Wirtschaftsfriedlichkeit zur rechtlichen Bewertung des Arbeitskampfes heranzuziehen. Tschenker macht insoweit deutlich, dass auch diese Konstruktion zur Stützung der „Tarifakzessorietät“ des Arbeitskampfes einer rechtsdogmatischen Prüfung nicht standhält und letztlich auf eine unzulässige Beschneidung des freiheitlichen Grundrechts des Art 9 Abs 3 GG hinausläuft.
Auch wenn inzwischen – namentlich durch und im Gefolge von BAG-Entscheidungen aus den Jahren 1971 und 1980 – die alten Begrifflichkeiten der „Sozialadäquanz“ und der „Wirtschaftsfriedlichkeit“ durch das zentrale Kriterium der Verhältnismäßigkeit ersetzt worden sind, so blieb es doch in der Sache weiterhin beim Dogma des notwendigen Tarifbezugs für den rechtmäßigen Arbeitskampf sowie bei dem daraus abgeleiteten grundsätzlichen Verbot staatsgerichteter politischer Streiks. Immerhin weist Tschenker (S 301 ff) darauf hin, dass gemäß einer neueren E des BAG (19.6.2007, 1 AZR 396/06) eine bloß eingeschränkte Verhältnismäßigkeitsprüfung in dem Sinne gelte, dass ein Streik nur dann als rechtswidrig anzusehen sei, wenn er offensichtlich ungeeignet, nicht erforderlich oder unangemessen sei, wobei für die Geeignetheit und Erforderlichkeit den Gewerkschaften eine Einschätzungsprärogative zukomme. Dies könnte ihrer Meinung nach – ungeachtet der Beibehaltung des „Tarifbezugs“ – als Einfallstor dafür dienen, künftig „denjenigen ‚politischen‘ Streik als angemessen anzuerkennen, mit dem Gewerkschaften den Staat als gesetzgebenden Gestalter des Arbeitsmarkts und der Arbeitsbedingungen zum Handeln auffordern
“ (S 304).
Obwohl sich die Konzeption des österreichischen Arbeitskampfrechts in der Frage der Rechtmäßigkeit des Streiks als Gesamtaktion dadurch unterscheidet, dass eine strenge „Kollektivvertragsakzessorietät“ nicht als erforderlich angesehen wird (vgl mwN bloß Krejci, Recht auf Streik [2015] 219 ff), so wurden doch seit jeher bei der praktisch bedeutsamen Frage einer möglichen Sittenwidrigkeit des Streiks starke Anleihen bei 69 der deutschen Rsp und Lehre gemacht. Dabei wurde und wird vor allem auch der an Staatsorgane gerichtete politische Streik mit ähnlichen Argumenten wie in Deutschland als grundsätzlich unzulässig angesehen. Doch gibt es gerade in neueren Publikationen gut begründete Ansätze für gewisse Modifikationen dieser These, worauf freilich im vorliegenden Zusammenhang nur allgemein verwiesen werden kann (vgl je mwN insb Rebhahn, Der Arbeitskampf bei weitgehend gesetzlicher Regelung der Arbeitsbedingungen – Schluss, DRdA 2004, 503 ff; Krejci, Recht auf Streik 236 ff). Vor diesem Hintergrund erscheint die vorliegende, nach Fragestellung und Methodik der Untersuchung vorzüglich gearbeitete Monographie auch für das österreichische Recht von großem Interesse, weil sie aufzeigt, dass die generelle Pönalisierung des politischen Streiks schon in Deutschland auf keiner dogmatisch stringenten Grundlage beruht und demnach selbst dort einer grundlegenden Neuausrichtung bedürfte.