Mosler (Hrsg)50 Jahre Arbeitsverfassungsgesetz

Verlag des ÖGB, Wien 2024, 604 Seiten, gebunden, € 79,–

RUDOLFMÜLLER (WIEN/SALZBURG)

Nach dem Werbetext des Verlags soll 50 Jahre nach dem Inkrafttreten des ArbVG am 1.7.1974 „einerseits die Realität der Arbeitsbeziehungen und andererseits der Inhalt des Gesetzes unter Berücksichtigung der einschlägigen Rechtsprechung und Literatur abgebildet werden. Die Entwicklungen im Bereich der Kollektivverträge und der Kollektivvertragsverhandlungen werden ebenso diskutiert wie Aspekte der Betriebsratsarbeit. Bei den juristischen Beiträgen geht es nicht nur um die Behandlung einzelner Rechtsprobleme, sondern vor allem auch um eine Beurteilung, ob sich die Regelungen bewährt haben oder ob etwa Änderungen in der Arbeitswelt (zB Digitalisierung) zu Anpassungen führen sollten.

Zu runden Geburtstagen wird das ArbVG nicht nur gefeiert, sondern traditionell auch eine Bestandsaufnahme über die bisherige Praxis und eines allfälligen Reformbedarfs vorgenommen. Das war nach 30 Jahren auf einem wissenschaftlichen Seminar in Salzburg mit Beiträgen von Cerny, Talos, Firlei und Spenling (vgl den Sammelband Grillberger [Hrsg], 30 Jahre ArbVG [2005]) der Fall. Vor 10 Jahren wurden 40 Jahre ArbVG in einem Sonderheft 5a/2014 von DRdA gefeiert (mit Beiträgen von Cerny, Leitsmüller/Schindler/Schneller, Däubler, Mosler und Firlei).

Und jetzt also wird der 50er mit einer Festschrift begangen, die nicht nur in ihrem Umfang, sondern auch in der Breite der Themen und der Zahl der AutorInnen dem besonderen Jubiläum eines einzigartigen Gesetzes (wo hat man seinesgleichen an legistischer Sorgfalt und Lesbarkeit in den letzten 50 Jahren noch gesehen?) angemessen ist. Unter den Autoren befindet sich erneut der verlässliche Chronist der Entstehungsgeschichte des ArbVG Josef Cerny, eines der ganz wenigen noch lebenden Mitglieder der seinerzeitigen „Kommission zur Kodifikation des Arbeitsrechts“, die in einem Arbeitsausschuss von Oktober 1970 bis März 1973 Text und Systematik des ArbVG in zahlreichen Sitzungen aufgrund von Entwürfen erarbeitet hat. Diese waren von Rudolf Strasser/Oswin Martinek einerseits und Theodor Tomandl andererseits der Kommission als Diskussionsgrundlage vorgelegt worden. Dies alles kann man bei Cerny, DRdA 2014, 478 ff bzw bei Floretta/Strasser, Kommentar zum ArbVG (1975) XXXVII ff, im Einzelnen nachlesen. Auch die Gesetzesmaterialien zum ArbVG (ErläutRV 840 BlgNR 13. GP 41 f) bieten einen brauchbaren Überblick. Es schmerzt mich daher, wenn Florian Wenninger („Zur Genese des Arbeitsverfassungsgesetzes 1973“) im ersten Beitrag des Buches dazu nur wenig, teils noch dazu Unrichtiges und Unvollständiges schreibt. Es stimmt schon nicht, dass die Kodifikationskommission auf der Basis der seinerzeitigen Kodifikations-Teilentwürfe von Martinek und Schwarz aus 1962 arbeitete und es stimmt auch nicht, dass das Sozialministerium auf der Basis eines „Abschlussberichts“ der Kodifikationskommission einen Entwurf erarbeitet hat. Der Entwurf wurde vielmehr von der Kodifikationskommission zwei Jahre lang auf der Basis neuer Entwürfe (siehe oben) erarbeitet (die Sitzungen des betreffenden Arbeitsausschusses der Kodifikationskommission sind übrigens sowohl in Form von Beschlussprotokollen als auch von Wortprotokollen archiviert). Der Ministerialentwurf war gegenüber dem Kommissionstext nur in wenigen Punkten (vor allem was die Zusammenarbeit der betrieblichen mit der überbetrieblichen Ebene betrifft) verändert. Richtig ist, dass über diesen Entwurf seitens der Interessenvertretungen der Wirtschaft und der damaligen Oppositionspartei ÖVP ein – wie man heute sagen würde – interessenpolitisch motivierter „Shit-Storm“ niedergeprasselt ist, der die damalige Mehrheitsfraktion im Nationalrat veranlasst hat, den Sozialpartnern gleichsam die Endredaktion des Gesetzes zu überantworten. Eine politische Kultur der Rücksichtnahme einer Mehrheit auf die Minderheit, die man heutzutage schmerzlich vermisst.

Das vorliegende Buch bildet das ArbVG aus unterschiedlichen Perspektiven ab: 18 AutorInnen, vorwiegend aus dem Kreis der Sozialpartner, behandeln „Das ArbVG in der Praxis“, 9 AutorInnen beschäftigen sich mit dogmatischen Fragen der kollektiven Rechtsgestaltung, 11 AutorInnen mit solchen der Betriebsverfassung, Windisch-Graetz, Mosler, Grillberger und Kuras behandeln in Teil 5 in je einem Beitrag Fragen der Gleichbehandlung, der kollektiven Friedenspflicht, der Effektivität des ArbVG und die Rsp des OGH. Der 6. und letzte Teil behandelt schließlich das „ArbVG und internationale Entwicklungen“ mit Beiträgen von Deinert, Glassner/Mesch, Gruber-Risak, Gagawczuk, Walser und Niksova.

Die Fülle von Beiträgen lässt es nicht einmal zu, in diesem Rahmen alle rund 50 AutorInnen zu nennen, geschweige denn alle Beiträge zu würdigen. Ein großes – dem ÖGB-Verlag anzulastendes – Manko sei vorangestellt: Dem Band fehlt ein Verzeichnis der AutorInnen mit einem Hinweis auf Gegenstand und Ort ihres Schaffens. Ich habe das Buch mehrmals durchgeblättert, weil ich es nicht glauben konnte; ein derartiges Sammelwerk ohne AutorInnenverzeichnis habe ich noch nie gesehen.

Aus der Fülle des inhaltlich Gebotenen wäre hervorzuheben, dass sich durch einige der Beiträge das 70 Thema der Erweiterung des AN-Begriffs um wirtschaftlich abhängige, freie DN wie ein roter Faden zieht (Schnittler [JKU – Linz] und Brameshuber [Universität Wien], sowie Schrattbauer/Dölzlmüller [beide Universität Salzburg] und Auer-Mayer [WU Wien]), wobei im Wesentlichen die Einbeziehung der Freien de lege lata als wünschenswert, aber (je nach Standpunkt) für unterschiedlich schwierig begründbar gehalten wird. De lege ferenda wird das soziale Problem dieser Gruppe erkannt und werden gesetzgeberische Schritte für erforderlich gehalten.

Im Kernbereich der kollektiven Rechtsgestaltung kritisieren Schrattbauer/Dölzlmüller in ihrem – mE sehr ergiebigen – Beitrag die Judikaturansätze des OGH, ausnahmsweise dispositives Kollektivvertragsrecht zuzulassen, ferner die Rsp zur Unzulässigkeit betriebsverfassungsrechtlicher Normen, aber auch jene zum Sonderproblem der kollektivvertraglichen Verfallsklauseln. Während die herrschende Lehre Verkürzungen der gesetzlichen Verjährungsfristen bei unabdingbaren arbeitsrechtlichen Ansprüchen ablehnt, beurteilt der OGH solche Verfallsklauseln auf der Basis seiner Trennungsthese zwischen Unabdingbarkeit des Anspruchs einerseits und seiner Verjährung andererseits innerhalb relativ weiter Grenzen als gesetzmäßig. Die AutorInnen stellen die Lehre und Rsp, ua jene wiederkehrenden Entscheidungen sehr schön dar, in denen sich der OGH von Zeit zu Zeit mit der Lehre auseinandersetzte, um dann bei seiner Rsp zu bleiben (zur Ausweitung dieser Rsp auf den Verfall des Anspruchs auf Mitteilung von Arbeitszeitaufzeichnungen vgl jüngst OGH 22.3.2024, 9 ObA 9/23s). Man kann zwar auf künftige Generationen von RichterInnen beim OGH hoffen, darf dabei aber nicht übersehen, dass es richterpsychologisch sehr schwierig sein dürfte, von dieser langjährigen und eingefahrenen, gegen alle Kritik aufrechterhaltenen Rsp abzurücken. Durch ein Gerichtsurteil im Ergebnis eine Wirkung zu erzielen, die mit einem Schlag viele verjährte Forderungen wieder voll aufleben ließe, ist ebenso problematisch, wie die Öffnung für Beweisverfahren, die nach länger verstrichener Zeit überaus aufwändig wären und zweifelhaften Erfolg hätten. Die vom OGH gezogene Grenze für solche Verkürzungen durch Kollektivverträge schützt im Ergebnis (nur) vor Exzessen der Kollektivvertragsparteien. Ob die Grenze richtig und angemessen gezogen ist, darüber lässt sich trefflich streiten; vielleicht ist zumindest dazu das allerletzte Wort noch nicht gesprochen.

Thomas Mathy (Universität Innsbruck) diskutiert den Fragenkreis der Zulassungsnormen, insb auch die Frage der Zulässigkeit von Zulassungsnormen zugunsten von Betriebsvereinbarungen in Kollektivverträgen. Welch komplexe Fragen die Kollektivvertragsangehörigkeit im Mischbetrieb aufwirft, zeigt Thomas Pfalz (Universität Klagenfurt), während Nora Melzer (Universität Graz) einen Überblick über die behördliche Festsetzung von Arbeitsbedingungen gibt. Der Beitrag von Sieglinde Gahleitner (Rechtsanwältin und Mitglied des VfGH) führt uns vor Augen, dass der allgemeine Kündigungs- und Entlassungsschutz ein weites Forschungsfeld mit immer noch strittigen Fragen ist, wie zB jene nach der Zulässigkeit von Änderungskündigungen. Walter J. Pfeil (Universität Salzburg) legt das Gewicht seines Beitrags auf Schwachstellen des Rechts der Betriebsvereinbarungen, wie zB die Überprüfung von Regelungsstreitigkeiten, und ergänzt zum Beitrag Mathys das Verhältnis von Betriebsvereinbarungen zum Arbeitszeitrecht, aber auch die Abstimmung mit zivilrechtlichen Prinzipien im Bereich gesetzlich delegierter Normsetzungsbefugnisse. Gert-Peter Reissner (Universität Graz) geht der Historie der Konzernmitbestimmung nach, während Elias Felten/Johannes Warter (Universität Salzburg) die Rolle des BR als Informationsträger im Spannungsfeld externer Beratung und der DSGVO beleuchten. Wolfgang Goricnik (AK Salzburg) untersucht mit Datenschutz und Persönlichkeitsrechten in der Betriebsverfassung ebenfalls dieses dem ArbVG in seiner Geschichte neu zugewachsene Problem. Verwaltungsgerichtsbarkeit (Wolfgang Kozak, AK Wien) und das Gleichbehandlungsrecht (Michaela Windisch-Graetz, Universität Wien) dürfen im Kanon der Problemfelder nicht fehlen. Der heiklen Frage der Friedenspflicht geht Rudolf Mosler (Universität Salzburg) nach und Gerhard Kuras (Senatspräsident des OGH) gibt einen guten Überblick über die Rsp des OGH.

Zwei deutsche Gratulanten zum ArbVG-Jubiläum seien noch erwähnt: Olaf Deinert (Universität Göttingen) schreibt über sozialen Dialog und europäische Kollektivverträge und Manfred Walser (Hochschule Mainz) über Mitbestimmung im europäischen Vergleich.

Alle, die hier aus Raumgründen unerwähnt bleiben mussten, bitte ich um Nachsicht; die von mir subjektiv gewählten Hervorhebungen sollen ein Anreiz sein, alle Aufsätze in diesem Werk aufmerksam zu lesen. Es lohnt sich. Das Buch gibt zu allen umstrittenen Fragen des kollektiven Arbeitsrechts den aktuellen Stand der Lehre und Judikatur in qualitätsvollen Beiträgen wieder. Eine arbeitsrechtliche Bibliothek wäre ohne diese Festgabe zum Jubiläum des ArbVG unvollständig.